Teufel / 9

 

Chang erwacht mit einem fürchterlichen Brummschädel. Was ist eigentlich passiert? Er hatte einen Termin mit einem Klienten, der über erstklassige Referenzen verfügte. Erst hatte er gezögert – die Sache mit Steam und seinem durchgedrehten Elvis-Kumpel steckte ihm immer noch in den Knochen. Steam war ein harter Hund gewesen, und trotzdem hatte man ihn einfach so abgeknallt, als wenn es das Leichteste von der Welt gewesen wäre.

 

Er hatte daher verschärfte Vorkehrungen getroffen, bevor er zum vereinbarten Treffpunkt gefahren war – mit dem Ergebnis, dass ihm jemand eins über den Schädel gezogen und ihn in dieses muffige Loch gesteckt hatte.

 

Er fasst sich an die schmerzende Stelle an seinem Hinterkopf. Das dürfte eine nette Platzwunde sein. Wenn er den Hurensohn erwischt, der ihm die verpasst hat! Aber dazu muss er erst einmal hier raus kommen. Chang rappelt sich auf und versucht sich zu orientieren. Eine nackte Glühbirne an der Decke. Eine massive Stahltür, die wohl der einzige Weg raus aus diesem Loch ist. An den Wänden ein paar Stahlregale mit Einlegeböden, auf denen irgendein Plunder liegt.

 

Chang macht ein paar Schritte auf die Regale zu und strengt seine Augen an. Schädel. Die Böden sind mit Schädeln gefüllt. Menschlichen Schädeln. Und nicht wenige haben die Chang so wohlvertrauten kleinen Löcher in der Stirn. Er atmet einmal tief durch. Wer auch immer die Dinger sammelt – er ist fleißig bei der Sache. Was zum nächsten Punkt führt – er muss hier raus, und zwar schnell. Sonst wird Dein Schädel auch noch Teil dieser Sammlung, denkt er.

 

Er will sich gerade an der Tür zu schaffen machen, als er ein schabendes Geräusch aus dem hinteren Teil des Raumes hört. Chang dreht sich langsam um und strengt seine Augen an. Langsam schälen sich die Konturen eines menschlichen Körpers aus der Dunkelheit, der auf allen Vieren auf ihn zu kriecht.

 

'Hey. Hey du! Kannst du mich verstehen?', sagt Chang, doch er erhält keine Antwort. Stattdessen kann er die Gestalt, die sich als Frau entpuppt, jetzt besser sehen – mit dem Ergebnis, dass er unwillkürlich einen Schritt zurückmacht. Der Oberkörper der Frau ist blutverschmiert und ihr Shirt von Schrotkugeln zerfetzt. Die muss eine ziemliche Ladung verpasst bekommen haben, denkt er. Und so ganz mausetot sein.

 

Die Frau richtet sich langsam auf und macht einen Schritt auf ihn zu. Ihre Finger verformen sich zu Krallen, und ein Knurren entringt sich ihrer Kehle, während sie Chang mit ihren grünen Augen fixiert.

 

Changs Gedanken rasen in seinem Kopf. Ist die auf Drogen? Langsam und ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen, bewegt er sich rückwärts zur Tür, über der eine Kamera angebracht ist, die auf ihn herabschaut. Was ist das hier für ein Spiel, denkt er. Ist er irgendwelchen Irren in die Hände gefallen?

 

'Hey. Hey, wer immer ihr auch seid, es ist vorbei! Holt mich hier raus!'

 

Chang schreit in Richtung der Linse, aber er bekommt keine Antwort. Und wo ist die Frau hin? Sie kann doch nicht weg sein, eben war sie doch noch -

 

Er spürt noch, wie jemand seine Haare greift und seinen Kopf brutal nach hinten reißt. Instinktiv fasst er nach hinten, um einen Griff anzuwenden und die Angreiferin zu Boden zu werfen, als sich messerscharfe Reißzähne in seine Kehle bohren, gefolgt von einem infernalischen Schmerz, als das Fleisch auseinandergerissen und seine Schlagader zerfetzt wird. Chang will schreien, doch seiner Kehle entringt sich nur ein Gurgeln, bevor er in einen endlosen Abgrund zu stürzen beginnt.

 

***

 

Als Lee wieder klar denken kann, schmeckt sie als erstes den metallischen Geschmack von Blut in ihrem Mund. Ich muss gleich kotzen, denkt sie. Oder etwa nicht? Ein muffiger Geruch wabert ihr um die Nase, und wieder wappnet sie sich gegen das Gefühl, dass ihr gleich die Galle hochkommt. Aber nichts passiert. Kein bitterer Geschmack im Mund. Kein Würgreflex. Nichts.

 

Sie hört ein leises Lachen, und irgendwie hat sie das Gefühl, dass sie das dazugehörige Gesicht kennt.

 

'Na, hat es meiner kleinen Wildkatze geschmeckt? Und ist sie wieder einigermaßen bei Kräften? Ich hoffe, das Schlitzauge war einigermaßen Dein Geschmack. Ich steh nicht drauf. Aber du bist derzeit eh nicht sonderlich wählerisch, von daher...'

 

Wovon redet der Typ eigentlich, denkt sie. Sie sieht sich um – und zuckt zusammen, als sie die in einer Ecke liegende zusammengesackte Gestalt erblickt.

 

'Kein schöner Anblick, was? Na, wirst dich schon dran gewöhnen. Ich nehme an, dass du nun ein wenig entspannter bist, nicht wahr?'

 

Entspannt? Das Letzte woran sie sich erinnert ist, dass sie angeschossen wurde, und von daher geht es ihr – wunderbar. Sie fühlt sich - satt. Als wenn man ihr ihre Leibspeise serviert hätte, zubereitet vom besten Koch der Welt. Instinktiv leckt sie sich ein wenig Flüssigkeit von ihrem Daumen, als wenn sie dort einen Tropfen einer exquisiten Soße bemerkt hätte und diesen noch als Abschluss eines Festessens auf ihrer Zunge zergehen lassen wollte.

 

Dass das Zeug eine leicht metallischen Geschmack hat, kommt ihr zwar wieder in den Sinn, aber sie wischt den Gedanken beiseite - bis sie ihre Hand betrachtet, die leicht rötlich schimmert. Und sie realisiert, was sie sich da gerade von den Fingern leckt. Übergangslos verschwindet das Gefühl der Zufriedenheit wieder, und mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck sackt sie zurück gegen die Wand, fast dankbar für diese Berührung mit der Wirklichkeit.

 

'Was – was habe ich da - '

 

'Das Richtige.'

 

'Nein! Nein nein nein - '

 

'Doch. Hast du.'

 

Lee beugt sich nach vorn, stützt sich mit einer Hand an der Wand ab und steckt sich einen Finger in Hals, doch aus ihrer Kehle kommt nur ein trockenes Krächzen.

 

'Vergiss es. Du kannst es nicht auskotzen. Du hast es schon längst absorbiert, wie ein trockener Schwamm aufgesogen.'

 

Lees Blick wandert vom grinsenden Gesicht der Fratze zurück zu ihren Händen, die immer noch mit Blut verschmiert sind.

 

Die Fratze geht vor ihr in die Hocke und lehnt sich gegen die Wand, während sie rhythmisch auf den Zehenspitzen auf- und ab wippt. Lee versucht ebenfalls, sich einigermaßen bequem hinzusetzen, schafft es aber erst im zweiten Anlauf.

 

'Am Anfang ist das alles etwas ungewohnt. Wird aber schnell besser mit der Zeit. Versprochen. Mal abgesehen davon – du gehörst zu denen, die sich sehr schnell gefangen haben. Andere brauchen nächtelang, bis sie sich auch nur einigermaßen orientiert haben. Wieder andere werden einfach wahnsinnig und müssen – ach lassen wir das, ich will dich ja nicht erschrecken...'

 

'Wer...bist du?'

 

‘Du kannst mich Frank nennen.'

 

'Fein...Frank...also...was ist mit mir passiert?'

 

‘Du hast dir eine ziemlich üble Ladung eingefangen. Und bist gestorben.'

 

'Gestorben...'

 

'Genau. Und zurückgekehrt. Weil ich es so wollte.'

 

'Was – was hast du mit mir gemacht?'

 

'Ich habe dir die Unsterblichkeit verliehen.'

 

‘Du hast – was? Ich meine – was ist mit mir los? Und was ist mit dem...' sie zeigt auf die Leiche '...mit dem da...was ist passiert...'

 

‘Du hattest Hunger.'

 

Lee schüttelt den Kopf und richtet sich mühsam auf.

 

'Wie...Hunger...was erzählst du da? Ich meine - '

 

'Erklärungen gibt es später. Es ist schon spät. Wir sehen uns morgen wieder. Schlaf schön.'

 

'Mo...Moment mal...warte mal, du kannst mich doch hier so - '

 

Statt einer Antwort hört sie nur, wie die Tür zugeschlagen und das Schloss mehrfach verriegelt wird. Mit einem Fluch lässt sie sich wieder an der Wand hinuntergleiten und schließt die Augen.

 

Während ihre Gedanken noch in ihrem Kopf hin- und her schwirren wie lästige Insekten, erklingt in ihrem Kopf wieder ein lockendes Flüstern, das sie zu rufen scheint. Sie versucht noch, ihm zu widerstehen, doch es ist zwecklos, und sie gleitet übergangslos in einen tiefen traumlosen Schlaf hinein.