Teufel / 11
Frank fährt schweigend durch die von Neonlicht erhellte Stadt, während Lee neben ihm aus dem Seitenfenster starrt. Sie hat keine Ahnung, wo sie ist, und eigentlich juckt es sie auch nicht. Hauptsache raus aus dem Keller. Doch ihre Meinung ändert sich, als sie von der Schnellstraße abbiegen und in eine heruntergekommene Gegend kommen. Der Verkehr wird schnell spärlicher, und Lees Laune verschlechtert sich von Sekunde zu Sekunde. Aufgebockte Autowracks und leerstehende Ladengeschäfte mit zugeklebten Scheiben und verrammelten Türen gleiten vorbei, während Frank sie immer tiefer in das Gewirr der Straßenschluchten lotst.
'Sag mal, leben hier auch Menschen', sagt Lee.
Frank nimmt den Blick nicht von der Straße.
'Nein. Das hier ist Jagdgebiet.'
'Häh?'
‘Du wirst lernen, deinen Hunger zu stillen. Und dies ist genau die richtige Gegend für Lektion Nummer Eins.'
Lee sieht Frank nur verständnislos an, sagt aber nichts. Frank stoppt den Wagen abrupt am Straßenrand.
'Wir sind da. Steig aus. Na los, keine Müdigkeit vortäuschen.'
Lee schüttelt den Kopf, schlängelt sich vom Beifahrersitz und sieht sich um.
'Prima Gegend, wenn man Häuserkampf üben will', sagt sie. 'Aber jetzt mal im Ernst - wo sollen wir hier denn was zu essen finden? Selbst wenn es hier was gäbe, so groß kann der Hunger gar nicht sein, als dass ich da was runter - '
Frank legt einen Finger auf die Lippen und zeigt in Richtung einer Seitengasse. Lee dreht sich in die Richtung und sieht zwei Gestalten, die in einer Mülltonne wühlen und sich dabei lautstark streiten. In der Ferne hört sie das Grollen eines Zuges, der über die Gleise rumpelt. Sie wendet sich wieder Frank zu.
'Ok, was soll das? Ich meine, hier sind nur ein paar –'
Er ist weg. Als wenn sich ein Loch aufgetan und ihn verschlungen hätte.
'Hey, wo – ich glaub es nicht.'
Sie sieht sich um, doch Frank ist nirgends zu sehen. Ein Blick in den Wagen – kein Zündschlüssel. Egal, sie könnte den Wagen kurzschließen und abhauen, denkt sie. Einfach ordentlich Gummi geben, und alles ist in Butter. Nur – vorher braucht sie noch was zu beißen.
Irgendwo muss es doch einen Laden geben, wo ich mir was organisieren kann, denkt sie. Egal was, einen Schokoriegel oder einen Burger... Während sie noch darüber nachdenkt, geht sie langsam in Richtung der immer noch zankenden Gestalten. Zwei Penner in abgerissenen Klamotten, die sich wohl wegen dem letzten Rest billigen Fusels in die Haare bekommen haben. Als sie Lee bemerken, verstummen sie und starren sie an, als hätten sie einen Geist gesehen.
Lee will sich angeekelt zurückziehen, doch in ihren Eingeweiden breitet sich wieder dieses quälende, zerrende Hungergefühl aus, und sie macht einen weiteren Schritt auf die beiden Penner zu. Einer von ihnen hebt abwehrend die Hände, und Lee will ihn beruhigen, ihm sagen, dass sie ihm nichts tun will, dass sie selber gar nicht weiß, warum sie eigentlich hier ist.
Doch ihrer Kehle entringt sich nur ein Knurren. Der eine der beiden wird nun kreidebleich im Gesicht, lässt die halbleere Flasche fallen, die auf dem dreckigen Asphalt zersplittert und stolpert langsam rückwärts, während sich der andere an die Wand drückt und irgendein unverständliches Zeug vor sich hin brabbelt.
In ihrem Kopf beginnt wieder die ihr nun schon vertraut vorkommende sanfte Stimme in einem lockenden Tonfall zu ihr zu sprechen, und Lees Zunge fährt über ihre Lippen. Ihr Blick bannt den Penner, während sie mit immer schnelleren Schritten auf ihn zugeht. Der säuerliche Geruch, der von ihm ausgeht, wird jetzt überdeckt von etwas anderem – dem süßen Aroma seines Blutes. Sie kann es spüren – wie es durch seine Adern fließt, in einem immer schneller werdenden Rhythmus durch seinen Körper gepumpt wird.
Sie hört jetzt ihre eigene Stimme, die 'Hallo' zu sagen scheint, aber es ist ein seltsam gedehnter Laut, eher wie ein Zischen, und das Gesicht des Mannes ist nun von Angst verzerrt...
...und plötzlich ist Lee wieder bei Sinnen. Sie muss kurz weg gewesen sein, anders kann sie sich nicht erklären, warum sie über dieses stinkenden Wrack gebeugt auf dem Boden herumkriecht, aus dessen zerfetzter Kehle ein dünner Blutfaden rinnt.
Eine Stimme flüstert ihr ins Ohr, dass der Typ selber schuld ist – warum musste er auch so stinken? Hätte sich doch waschen können. War eh nur ein mieser dreckiger Penner, und die haben es halt nicht anders verdient. Pack wie der erfüllt nur eine Funktion – uns als Beute zu dienen.
Dann erkennt sie, dass es Franks Stimme ist. Mit trockenen, würgenden Lauten wendet sie sich von ihm ab, während das schmuddelige Licht einer rostigen Straßenlaterne die Szenerie gnadenlos ausleuchtet und Franks hämisches Lachen in ihren Ohren klingt.
'Jetzt fühlst du dich schlecht, nicht wahr? Weil du getötet hast. Weil es dich anekelt, so etwas wie das da...' er nickt kurz in Richtung des Toten '...angefallen zu haben, weil du den Hunger verspürt hast.'
Frank nickt, mehr zu sich selbst als zu Lee.
'Und du ekelst dich zurecht. Deshalb wirst du lernen, dich zu beherrschen.'
'Scheiße...das kann doch nicht...ich meine...ich hab ihn umgebracht...das...das wollte ich -'
'Genau, das wolltest du. Einen dreckigen stinkenden Penner aussaugen. Aber das geht schon in Ordnung. Du hast getan, was notwendig war. Du hattest Hunger, und je länger du wartest, umso ungeduldiger und rabiater wirst du. Ist ganz normal. Du fällst dann halt über alles her, was dir über den Weg läuft. Mit dem Ergebnis, dass du selbst so was frisst.'
Lees Blick wandert zur Leiche des Mannes. Sie wartet darauf, dass die Reue in ihr hoch kriecht. Aber nichts geschieht.
'Was ist mit dem anderen Kerl?'
'Der? Oh, da mach dir mal keine Gedanken. Hab ich mich drum gekümmert.'
Lee nickt in Richtung des Kadavers.
'Was machen wir mit...mit dem da?'
'Mit dem? Ganz einfach – das gleiche wie mit dem anderen, was sonst?'
Ohne ein weiteres Wort schnappt sich Frank die Leiche, schleppt sie zu einem Müllcontainer hinüber und wirft sie hinein.
'So, das wäre erledigt. Entweder die Ratten kümmern sich darum, oder sie landen in der Presse. In beiden Fällen ist das Problem gelöst. Das ist das Schöne am Müll – keiner vermisst ihn und jeder ist froh, wenn er ihn los ist.'
Lee starrt Frank einfach nur fassungslos an.
'Locker bleiben, Kätzchen. Wirst dich schon dran gewöhnen.'
Frank wirft einen Blick auf die Uhr.
'Für heute Abend reicht es dann auch. Ist schon spät. Verschwinden wir also von hier, bevor noch jemand auftaucht und dumme Frage stellt.'
Mit diesen Worten dreht sich Frank um und geht zurück zum Wagen. Lee zögert kurz und geht ihm hinterher, nicht ohne einen Blick auf den Müllcontainer geworfen zu haben.
Als sie die Hälfte des Weges geschafft hat, glaubt Lee, ein Flüstern zu hören. Sie zwingt sich langsam zu gehen, doch die letzten Meter beginnt sie zu laufen, als wenn etwas hinter ihr her wäre.
***
Lee liegt auf ihrem Bett und starrt ins Nichts, während sie zusieht, wie sich der Zigarettenrauch langsam der Decke entgegenkräuselt.
‘Du hast dir deine Belohnung wahrlich verdient.'
Franks Worte hallen in Lees Kopf wieder. Wie lange ist das jetzt her? Wochen? Monate? Sie weiß es nicht, aber es ist ihr auch egal. Du bist raus, denkt sie. Kannst gehen, wohin du willst. Hast deinen eigenen Unterschlupf, und obendrein gar nicht mal so wenig Bares.
'Lern mit deiner Freiheit umzugehen. Sonst wirst du untergehen wie schon so viele andere vor dir.'
Lee lacht freudlos, richtet sich auf und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie hatte sich die Worte ihres Schöpfers zu Herzen genommen. Und geübt. Wie man sich unter Menschen bewegt. Ihnen vorgaukelt, dass man eine von den Lebenden ist und kein Raubtier auf Beutehatz. Sie hatte sich sehr schnell angepasst. Was auch bitter notwendig war, denkt sie. Denn der Hunger lässt nicht mit sich verhandeln. Es hatte nur ein paar Tage gedauert, bevor sie ihn wieder verspürte.
Glücklicherweise war das zweite Mal nicht mehr so schlimm. Weil der Kerl es verdient hatte. Irgendwie. Sie war erst unschlüssig gewesen, ob ihre Wahl die richtige war, doch Frank hatte sie ermuntert.
'Folge deinem Instinkt. Er wird dich leiten.'
Also hatte sie den Typen angequatscht. Er war arglos gewesen, dachte wohl, sie wollte nur etwas Koks oder Gras. Dumm gelaufen für ihn. Irgendwie hatte sie es sogar genossen, ihn zu töten.
'Dein Jagdtrieb ist erwacht', hatte Frank gesagt. 'Das ist ein gutes Zeichen.'
Sie hatten die Leiche gemeinsam entsorgt und Lee hatte sich nach und nach verschiedene Gebiete des Molochs als Jagdgebiet auserkoren. Bisher war alles glatt gegangen, und sie hatte schon fast eine Art von Routine entwickelt im Beuteschlagen. Eigentlich, denkt sie, könntest du also ganz zufrieden sein.
Wenn da nur nicht dieses erste Mal wäre. Dieses Gesicht – sie kann es nicht vergessen. Die Angst in den Augen des Mannes. Diese stumme Bitte. Lass mich leben. Ich habe dir doch nichts getan.
Lee drückt die Zigarette im überfüllten Aschenbecher aus, setzt sich auf die Bettkante und massiert sich die Schläfen. Diese Erinnerung…sie will einfach nicht verblassen. Sie wirft einen Blick auf die Uhr, um sich abzulenken. Bald wird die Sonne aufgehen. Womit wir beim nächsten Problem wären, denkt sie.
Denn sie wird es nicht erleben. Diese Lektion hatte sie auf die harte Tour gelernt. Es war eine der ersten Nächte, in der sie ihre neu gewonnene Freiheit genutzt hatte. Die Morgendämmerung war angebrochen, und die Müdigkeit kroch bereits in ihr hoch, als sie aus einer Laune heraus überlegt hatte, dass sie doch einen winzigen Blick riskieren könnte.
Sie hatte den Vorhang nur ein kleines bisschen beiseite gezogen, doch das hatte schon ausgereicht. Es war ein Gefühl, als hätte sie ihre Hand in Lava getaucht. Der Schmerz war schlimmer gewesen als alles, was sie jemals am eigenen Leib erfahren hatte. Es hatte Nächte gedauert, bis die Wunden verheilt waren, und die Schmerzen hatten zu keiner Zeit nachgelassen.
'Das Auge des Himmels hat sich von uns abgewandt. Und wenn wir es doch betrachten, dann wirft es seinen strafenden Blick auf uns.'
Franks Worte. Wenn es eine Sache gibt, für die sie ihn auf ewig hassen würde, dann dafür. Dass sie die Sonne nie wieder sehen und ihre wärmenden Strahlen auf ihrer Haut genießen kann. Dass sie nie wieder erleben wird, wie sie die Augen schließt, gen Himmel blinzelt und ein ganzes Kaleidoskop von Farben hinter ihren Lidern explodiert.
Alles vergangen.
Zurück bleiben nur die Dunkelheit und der Mond, der sein kaltes Licht über Lee ausgießt. Wieder überkommt sie dieses quälende Gefühl der Hilflosigkeit und der Wut, und in einem Anfall von Zorn rammt sie ihre Faust in die Wand. Kurz verspürt sie einen diffusen Schmerz, der jedoch fast so schnell verschwindet wie er gekommen ist.
Nein, sie wird nicht untergehen. Sie wird es schaffen. Und sei es nur, damit sie sich an Frank rächen kann für das, was er ihr angetan hat. Vor allem aber, weil sie herausfinden will, warum er sie verwandelt hat. Es muss einen Grund gegeben haben. Und sie wird ihn erfahren. Bis dahin wird sie durchhalten. Koste es was es wolle.