Samhain / 4
Tanya erwacht in völliger Dunkelheit, nachdem sie von einem dumpfen Klopfen über ihr geweckt wurde. Sie ist für einen Moment völlig orientierungslos. Wo ist sie? Sie versucht sich aufzurichten – mit dem Ergebnis, das sie mit der Stirn ziemlich unsanft an eine unsichtbare Decke knallt. Von einem Moment auf den anderen spürt sie die drangvolle Enge ihrer seltsamen Umgebung. Die Luft ist muffig, abgestanden und riecht nach - Erde? Sie versucht die Hände zu heben und spürt die raue Oberfläche von rohem, unbearbeitetem Holz. Schlagartig wird ihr bewusst, dass sie in einem Sarg liegt!
Warum zur Hölle hat dieser Wichser sie - ? Weiter kommen ihre Gedanken nicht, denn die Erinnerung kehrt mit Wucht zurück – genau wie der pulsierende Schmerz in ihrem Unterleib. Dieser Scheißkerl hat ihr einfach eine Kugel verpasst und sich nicht mal die Mühe gegeben zu prüfen, ob sie auch wirklich erledigt ist. Hat sie einfach in diese Holzkiste geschleift, weil er dachte, dass sie tot sei – oder es bald sein würde. Dumm gelaufen. Noch lebe ich, du Schwein. Hättest mich gleich erledigen sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest.
Zu dumm nur, dass er seinen Fehler anscheinend bemerkt hat und ihn dadurch ausbügelt, indem er sie einfach lebendig begräbt! Die Erkenntnis trifft sie völlig unvorbereitet, und sie ist für einen Moment völlig fassungslos. Das kann nicht sein. So etwas gibt es nur in miesen Horrorfilmen. Die Erdklumpen prasseln derweil weiter auf den Sargdeckel, und Panik frisst sich in Tanyas Bewusstsein wie eine Säure, die die letzte Schutzhülle überwunden hat und sich nun ungehindert ausbreiten kann. Sie spürt, wie ihr eine Träne die Wange herunterläuft - wenn schon sterben, dann nicht so, das ist nicht fair, sie hat keinem etwas getan, das hat sie nicht verdient, das hat niemand verdient, so einen Tod -
Von einer Sekunde auf die andere hört das Geräusch auf. Ist er fertig? War es das? Ist das die Art und Weise, wie sie verendet? Sie rafft ihre letzten Reste von Selbstbeherrschung zusammen. Wenn du dich jetzt gehen lässt, ist sofort alles vorbei, beschwört sie sich innerlich. Doch was soll schon noch passieren? Sie kann ja nichts mehr machen! Wieder spürt sie, wie sich die Panik in ihrem Innern aufmacht, um die letzten Bollwerke zu überwinden und die Macht zu übernehmen, als sie ein anderes Geräusch hört.
Stimmen! Mehr als eine. Mindestens zwei! Tanya lauscht angestrengt. Kyle? Wahrscheinlich. Und jemand anderes. Mit dem er spricht. Lee? Oh bitte, lass es Lee sein. Oder wen auch immer. Hauptsache, er oder sie oder es holt sie hier heraus. Egal wer oder was da draußen ist außer ihrem Peiniger, es wird ihre letzte Chance sein.
Tanya beginnt, um ihr Leben zu schreien.
***
Kyle schwankt zwischen Euphorie und Erschöpfung, als er endlich damit begonnen hat, die ersten Ladungen Wüstensand auf den Sarg mit seiner lebendigen Fracht zu schaufeln. Dieses Gefühl der Rache – es ist einfach zu köstlich. Ganz egal, dass es gar nicht Tanya war, die ihm das alles angetan hat – sie gehört zu diesen Monstern, und wenn er mit ihr zuerst abrechnet, umso besser. Pfeifend macht sich Kyle daran, weiter zu schaufeln, als ihn eine Stimme in seinem Rücken aus seinen Gedanken reißt.
'McCarson.'
Kyle hat das Gefühl, trotz der Hitze der Nacht am Boden festzufrieren. Diese Stimme - er hat sie schon einmal gehört. Langsam dreht er sich um, den Spaten mit beiden Händen umklammernd. Er erkennt den hünenhaften Glatzkopf in der Lederweste sofort. Wie kann es sein, dass dieser Kerl noch lebt?
Pete mustert Kyle mit einem eisigen Blick, während er seinen Armeerevolver auf Kyle richtet. Von Kyles entstelltem Gesicht geht ein ekelerregender Gestank aus. Als hätte ihm jemand die Haut in Streifen abgezogen, denkt Pete. Er kneift die Augen zusammen und atmet einmal tief durch. Keine Zeit für Mitleid. Und auch kein Grund. Außerdem - ist er nicht hier, um diese arme Kreatur von ihrem Leiden zu erlösen? Ein Lächeln schleicht sich in seine Mundwinkel.
'So sieht man sich wieder.'
Er schüttelt den Kopf.
'Ich hätte auf sie hören sollen...sie hatte es schon damals gewusst...'
Petes Stimme klingt in Kyles Ohren wie Donnerhall. Diese Schmerzen, in seinem Kopf, in seinem ganzen Körper...
'Wie hast du mich gefunden?'
Pete spuckt Kyle vor die Füße, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
'Ein Vöglein hat es mir gezwitschert.'
Kyle leckt sich über die Lippen.
'Ach ja...ich frag nur, weil, ich hatte eigentlich jemand anderes erwartet. Was dich angeht, um ehrlich zu sein, ich dachte, du wärst tot.'
'Wie du siehst, stimmt das nicht. Und spar dir deine Lügen. Du hast hier niemanden erwartet. Und schon gar nicht sie. Denn das hier...' Pete nickt in Richtung des notdürftig ausgehobenen Grabes '...hätte ihr gar nicht gefallen.'
Wobei das nicht ganz richtig ist, denkt Pete. Sie hätte diese Ratte einfach darin verscharrt. Gott, wie recht sie damals hatte. Sie hatte es gespürt. Ihr Instinkt hatte sie gewarnt. Auf Kyles verunstaltetem Gesicht erscheint die Karikatur eines Grinsens.
'Oh, da bin ich mir nicht so sicher. Ist doch ein netter Ort hier. Außerdem, so eine Familienzusammenführung hat doch auch was, oder? Falls es dich interessiert – hier irgendwo in der Nähe hat man die Überreste ihrer Familie verscharrt. Sie hätte es sicher zu schätzen gewusst, dass sie wieder mit ihnen vereint ist. Meinst du nicht auch?'
Pete schüttelt den Kopf.
'Dass du ein Schwein bist, überrascht mich nicht. Doch ich hätte es nicht für möglich gehalten, wie mies du wirklich - '
Ein erstickter Schrei lässt Pete zusammenzucken, und ruckartig geht sein Blick in Richtung des offenen Grabes. Sein erster Gedanke ist, dass es Lee ist. Hat er sie etwa lebendig begraben? Es ist nur ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, nicht mehr als der Bruchteil einer Sekunde, doch er genügt Kyle. Mit einer blitzartigen Bewegung schwingt er den Spaten und schlägt Pete den Revolver aus der Hand. Pete sieht den Schlag noch kommen, doch er kann ihm nicht mehr ausweichen.
Kyle holt in einem weiten Bogen aus, um ihm den Schädel einzuschlagen, doch Pete duckt sich in den Angriff hinein. Er erwischt den Stiel, entreißt Kyle die Schaufel und verpasst ihm einen Tritt in den Magen, der ihn zu Boden schleudert. Pete hebt den Spaten wie ein mittelalterliches Schwert über den Kopf, als Kyle seine Automatik zieht und zweimal abdrückt.
Pete spürt, wie die Kugeln in seinem Körper einschlagen, aber er ignoriert den stechenden Schmerz und schwingt den Spaten mit einer Kraft, die aus blindem Hass gespeist wird. Das Spatenblatt dringt mit einem hässlichen Geräusch in Kyles deformierten Schädel ein und hebelt einen Teil seiner Schädelplatte einfach aus seinem Kopf heraus. Ein Stück pulsierender Gehirnmasse läuft amöbenmäßig quer über sein Gesicht, während er mit einem Ausdruck völliger Überraschung auf die Knie sinkt. Kyles Mund öffnet sich, als wollte er seiner Empörung Ausdruck verleihen, aber er bringt nur ein Krächzen heraus, als er langsam in die Knie bricht.
Pete lässt den Spaten fallen und taumelt schwer atmend zurück, während er die Hand auf die Wunde presst. Du musst durchhalten, schreit er sich innerlich an. Du musst! Wer auch immer in diesem Loch verscharrt wurde – niemand hat es verdient, so zu sterben! Nicht einmal diese Ratte, die du gerade umgelegt hast. Er macht ein paar Schritte in Richtung des Grabes, doch dann stolpert er und fällt vornüber. Mühsam versucht er, auf allen Vieren kriechend, das offene Grab zu erreichen, immer noch die Wunde mit seiner riesigen Hand bedeckend, als er ein Paar Stilettos vor sich sieht.
Fast muss er über diese Absurdität lachen - solch ein Schuhwerk, hier mitten in der Wüste. Mühsam sieht er zu der Frau auf. Um sie herum leuchtet ein blutroter Halo, als wäre sie ein dämonischer Engel, ein Wesen, das zwischen Himmel und Hölle wandert und nun gekommen ist, um zu entscheiden, auf welcher Straße er seinen letzten Weg gehen wird. Die Geistererscheinung betrachtet ihn von oben herab und spricht ihn dann mit ihrer bezaubernden Stimme an.
'Ich grüße dich, Hammerfist.'
'Wer bist du?'
Das Sprechen fällt ihm schwer, und er weiß nun, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Wer oder was auch immer dieses Wesen ist, es wird seine Aufgabe sein, die Unschuldigen zu retten. Nur ist er sich nicht so sicher, dass es das auch so sieht.
'Mein Name ist Jennifer. Ich bin Lees Schwester.'
Pete nickt schwach, mehr zu sich selbst als zu ihr. Ja. Natürlich. So absurd das Ganze ist, so sehr macht es inzwischen Sinn. Seine Sicht verschwimmt, und er strengt sich an, um das Wesen vor ihm noch einmal eindringlich zu betrachten. Das Sprechen bereitet ihm inzwischen Mühe, und er schmeckt Blut in seinem Mund.
‘Du bist kein Mensch, nicht wahr? Genau wie sie...so anders geworden ist. Auch wenn sie es eigentlich schon war, als ich sie damals traf.'
'Ja, das ist wahr. Doch damals war sie noch ein Kind. Das du gerettet hast. Für das du dein eigenes Leben riskiert hast. Dabei hast du sie nicht einmal gekannt...'
Jennifer spürt Bedauern, und sie wundert sich über sich selbst. Seit wann sieht sie Menschen wieder als etwas anderes als Werkzeuge, die man benutzt und dann beiseite legt, wenn man sie nicht mehr braucht? Manchmal scheint es ihr, als wenn Lees Sichtweise auf die Lebenden auf sie abgefärbt hätte. Der Lauf der Welt kann so seltsam sein.
'Wenn du willst, kann ich dich mitnehmen. Ich kann dir nicht versprechen, dass unser Weg der deine sein wird. Aber ich denke, das bin ich dir schuldig. Das sind wir dir schuldig.'
Sie lächelt, und die Angst, die Pete die ganze Zeit gespürt hat, schwindet langsam. Der Tod naht, und er weiß, dass es gut so ist. Er schüttelt den Kopf.
'Nein. Es ist ihr Weg, und wohl auch deiner. Aber es ist nicht meiner. Mein Weg endet hier. Er hätte schon viel eher enden sollen. Vielleicht hat er das nur deshalb nicht getan, weil sich unser aller Wege noch kreuzen sollten. Dann hätte alles einen Sinn gehabt.'
'Ja. So muss es gewesen sein. Deine Aufgabe war es, meine Schwester ein Stück weit auf ihrem Weg zu begleiten. Und wahrscheinlich hast du Recht. Es ist nicht Dein Schicksal, diese Straße mit uns weiter zu gehen.'
Sie geht in die Hocke und wischt sachte ein wenig Blut aus Petes Mundwinkel, und fast erwartet er, dass sie es von ihren grazilen Fingern leckt, aber sie wischt das Blut ohne hinzuschauen an ihrem Kleid ab und lächelt, als wolle sie ihm sagen, dass er nichts zu befürchten habe. Dass sie nicht dafür gekommen sei. Dass sie ihn nicht als achtlos hingeworfene Beute sehe.
Petes Atem geht nun stoßweise. Er spürt, dass das Leben aus ihm heraus läuft, und er sieht das Glitzern in ihren Augen. Als sie den Mund öffnet, ahnt er ihre Worte, und er ist dankbar, dass er sich nicht irrt. Für einen kurzen, lichten Moment ist er sich absolut sicher, diese Frau schon einmal gesehen zu haben, und er ist sich ebenso sicher, dass sie es weiß. Das sie spürt, dass er durch ihre Tarnung, durch dieses perfekte Lächeln hindurchgeschaut hat.
'Ich muss nun gehen. Soll ich ihr noch etwas ausrichten?'
Pete sieht sie an, und eine einzelne Träne läuft ihm die Wange herunter und zieht eine Spur durch das Blut, das nun aus seinem Mund quillt, all das Blut, das er vergossen hat, das sie vergossen haben, sie alle - alle Wasser des Himmels könnten es nicht wegwaschen.
'Ich - '
Er möchte es aussprechen, aber er kann es nicht, er konnte es nie, und jetzt ist es zu spät, aber Jennifer legt einen Finger auf ihre Lippen und er weiß, dass sie es weiß. So schweigt er und sieht sie an, und jetzt endlich laufen die Tränen über sein Gesicht, die er so viele Jahre zurückgehalten hat, bahnen sich jetzt ihren Weg, während ein Wesen, das schon alt war, als er geboren wurde, ihn nachdenklich ansieht.
'Ich werde es ihr sagen. Aber es sei dir versichert, dass sie es bereits weiß. Und das sie dich auf ihre Art genauso geliebt hat wie du sie. Glaube mir, es ist besser für sie und für dich gewesen, wie es gekommen ist. Was das Mädchen angeht, das du gerettet hast und das mit Lee die Straße weitergehen wird – wünsche ihr Glück. Sie wird es brauchen können.'
Pete lächelt plötzlich, als wenn eine große Last von ihm genommen wurde. Er weiß, dass die Frau es Lee nicht sagen wird, und er weiß, dass es besser so ist.
'Nicht mehr allein.'
Jennifer schüttelt den Kopf.
'Nein, sie ist nicht mehr allein.'
'Alles gut…'
Eine Frage, mehr eine Bitte.
Jennifer nickt.
'Ja. Aber nun muss ich dich verlassen. Der letzte Akt hat bereits begonnen. Sei dir gewiss, wenn er vorbei ist, werden wir dafür Sorge tragen, dass keine rohe Hand deinen Frieden stören wird.'
Ihre Lippen öffnen sich noch einmal, als wenn sie noch etwas sagen wollte, aber dann scheint sie es sich anders zu überlegen, und nur ein 'Adieu' erklingt wie von fern.
Mit einem fast zärtlichen Lächeln erhebt sie sich und verschwindet genauso urplötzlich in der Dunkelheit, wie sie aus ihr hervorgetreten ist, und Pete ist wieder allein. Über ihm glitzern die Sterne, und er ist sich nun absolut sicher, dass es der gleiche Himmel ist, den Lee gesehen haben muss, damals, vor einer gefühlten Ewigkeit, als er sie fand. Das Leben ist ein Kreislauf.
Für einen Moment schließt er die Augen. Du hast nicht mehr viel Zeit, denkt er. Pete dreht sich mit einer letzten Kraftanstrengung auf den Rücken, atmet noch einmal die klare Luft ein, breitet seine Arme aus, ganz so als wären es Flügel und denkt an Lee. Die nicht mehr allein ist. Alles ist gut. Pete lächelt. Er fühlt sich plötzlich leicht, und frei von Schmerzen. Bereit zu gehen.
Zum Freund aller Krieger.
Zum Tod.