Teufel / 5
Während die anderen lachend und grölend zur Bar drängen oder sich Plätze an der Tanzfläche sichern, um bei der anstehenden Nummer hautnah dabei sein zu können, zieht sich Lee in eine Sitzecke zurück und verzieht den Mund. Nicht gerade das Red Lipstick hier. Aber sie sind jetzt schon seit Tagen nonstop unterwegs. Da kommt ein entspannter Abend gerade recht, selbst wenn er in einem zweitklassigen Stripschuppen stattfindet.
Sie reibt sich die Augen und lehnt sich zurück, den Blick ins Nichts gerichtet. Am liebsten würde sie weiterfahren, wenn es sein muss auch allein. Denn sie spürt, dass wer auch immer hinter ihr her ist, ihre Fährte wieder aufgenommen hat.
Dabei schien es ihr, dass sie davon gekommen sei. Sie war jetzt schon gefühlte tausend Jahre auf der Straße unterwegs. Es war fast die Form von Freiheit, die sie sich immer erträumt hat. Keine Zwänge, keine Verpflichtungen, und vor allem keine Erinnerungen mehr. Alles war gut – bis der Traum begann, sie heimzusuchen und sie zu spüren begann, dass jemand die Jagd auf sie eröffnet hatte.
Lee streicht eine widerspenstige Haarsträhne hinter ihr Ohr. Wie sehr sie sich wünscht, dass jemand sie einfach in den Arm nehmen und ihr sagen würde, dass alles gut ist. Dass sie sich das alles nur einbildet. Dass sie irgendwann einfach nach Hause gehen und ihr altes Leben wieder aufnehmen kann. Doch das wird nur ein Traum bleiben. Ihre Verfolger holen auf, mit jedem Tag und jeder Nacht, die vergeht. Sie weiß es, und Pete weiß es auch. Bald wirst du an eine Kreuzung kommen, an der du dich entscheiden musst, denkt sie. Und Dein Weg wird nicht der sein, den die anderen wählen werden.
Lee fummelt eine Zigarette aus ihrer Packung hervor und lässt sie zwischen ihren Fingern hin und her flippen, eine endlose Reise, hin und zurück, ohne Ziel. Das Leben ist ein Kreislauf, so hat sie ihre Mutter gelehrt, und natürlich hatte sie Recht, wie in so vielen Dingen.
Vielleicht betrittst du den Kreis irgendwann wieder, denkt sie. An einem anderen Ort, in einem anderen Körper, womöglich in einer anderen Welt, die friedlicher ist als die, in der wir leben müssen. Denn in dieser ist ihre Mutter aus gewaltsam dem Kreislauf herausgerissen worden.
Lee schließt die Augen und zerquetscht die Zigarette in ihrer Linken.
Was, wenn du früher zurückgekommen wärst und die Wagen gesehen hättest, die aus der Wüste kamen? Du hättest sie warnen und ihr hättet zusammen fliehen können. Ihr Vater hätte einen Weg gefunden sie alle zu verstecken. Die Mörder hätten sie nie gefunden. Ihr Vater kannte in der Wüste jeden Stein und jedes Versteck. Alles wäre gut geworden, alles wäre noch wie -
'Ist hier noch frei?'
'Ja klar, ist ein freies Land.'
Kaum das Lee die Worte ausgesprochen hat, bereut sie sie auch schon wieder. Sie verzieht leicht abweisend den Mundwinkel, während sie einen Blick auf den Mann wirft, der ihr gegenüber Platz nimmt. Mitte dreißig, dunkelblond, mit einem Haarschnitt, der bestimmt ein Heidengeld gekostet hat. Tadellos sitzender beiger Anzug, weißes Hemd, braune Krawatte, alles perfekt aufeinander abgestimmt. Ein mieses Gefühl breitet sich in ihre Magengrube aus.
'Was willst du denn in diesem Laden?', sagt sie. 'Bist du dir sicher, dass du nicht die falsche Tür erwischt hast?'
Sie schaut dem Kerl direkt in seine blauen Augen. Der Mann lächelt sie freundlich an.
'Sieht man mir so deutlich an, dass ich hier nicht hingehöre?'
'Ja. Tut man.'
'Nun, das ist in der Tat keine Überraschung. Aber ich vergesse gerade meine guten Manieren. Mein Name ist Kyle. Kyle McCarson. Aber du kannst mich einfach Kyle nennen, ok? Ich bin kein Freund von Förmlichkeiten, und wenn ich mich hier so umsehe denke ich, dass ich damit nicht so falsch liege.'
Für einen Moment treffen sich ihre Augen, wässriges Blau und schillerndes Grün, ein trüber Himmel und ein Meer voller Untiefen. Das folgende Schweigen dauert nur Sekunden, fühlt sich aber an wie eine Ewigkeit.
'Da hast du wohl Recht. Und nein, tust du nicht. Kyle Niemand. Hier legt in der Tat Niemand Wert auf Förmlichkeiten.'
Lee wendet ihren Blick nicht von ihrem Gegenüber ab, als sie eine Zigarette aus der Packung nimmt und sie anzündet.
‚Was willst Du von mir? Spucks aus, die Show geht gleich los, und ich will nichts verpassen.‘
Kyle räuspert sich und beugt sich leicht vor.
'Ok, ich fasse ich kurz. Es gibt da jemanden, dessen Interessen ich vertrete. Diese Person möchte sich gerne einmal mit dir unterhalten.'
'Und wer soll das sein?'
Lee stößt ein wenig Rauch zur Decke und lehnt sich zurück.
'Das kann ich dir leider nicht sagen', sagt Kyle. 'Meine Aufgabe ist es lediglich, den Kontakt herzustellen.'
'Ich soll mich also mit jemandem treffen, den ich nicht kenne, einfach mal so zu einem netten Plausch treffen. Gib mir doch mal einen Grund, warum ich das tun sollte. Du hast genau dreißig Sekunden. Wenn Du mich überzeugst, schön. Wenn nicht…'
Lee lächelt, und Kyle strafft sich ein bisschen.
‚Ok, machen wir es kurz. Ich kann Dir bei der Suche nach den Leuten helfen könnte, die deine Familie - '
'Was weißt du über die Sache mit meiner Familie?'
Lee drückt die Zigarette aus, ohne den Blick von Kyle abzuwenden.
'Nun, das besprechen wir doch besser unter vier - '
Weiter kommt Kyle nicht, denn urplötzlich greift jemand von hinten seinen Arm und presst seine rechte Hand auf den Tisch, während er gleichzeitig eine kalte Pistolenmündung in seinem Nacken spürt. Kyle versucht sich aus dem Griff zu befreien, aber es ist zwecklos.
'Na, wen haben wir denn da? Das sieht doch ganz nach einem neugierigen Bullen aus, der seine Nase in unsere Angelegenheiten stecken will, oder was meinst du, Lee?'
'Da könntest du ausnahmsweise mal richtig liegen, Jerry. Und wie heißt es doch so schön – Neugierde killte die Katze, nicht wahr?'
Lee hebt grazil ihr rechtes Bein, stemmt den Stiefel gegen einen leeren Stuhl und zieht mit einem Lächeln ein Kampfmesser aus dem Stiefelschaft. Der Stahl schimmert matt im Licht der tiefhängenden Lampe, und in Kyles Magen macht sich ein flaues Gefühl breit. Betont langsam hebt er seine Linke zu einer beschwichtigenden Geste.
‚Alles klar…ich hab verstanden. Ich –‚
Lee schüttelt sachte den Kopf.
'Nicht so eilig, Kyle Niemand. Wo es doch gerade lustig wird.'
Mit einer spielerischen Geste packt Lee Kyles Krawatte und zieht ihn ein wenig zu sich herüber. Dann setzt sie die Klinge an Kyles Hals und zieht die Schneide mit leichtem Druck nach oben. Kyle spürt, wie der Stahl über seine Haut gleitet, und er muss unwillkürlich schlucken, während ihm eine Schweißperle den Nacken herunterläuft.
Lee legt ein wenig den Kopf schief, und nun wandert das Messer mit der Spitze über Kyles Gesicht, um sein glattrasiertes Kinn herum und die Wange hinauf, bis es kurz unter seinem linken Auge verharrt. Automatisch will Kyle zurück zucken, aber sofort verstärkt sich der Druck der Waffe in seinem Nacken.
'Hör gut zu, Kyle Niemand. Ich habe kein Interesse an deinem Angebot. Habe ich mich klar ausgedrückt?'
Kyle versucht zu nicken.
'Sehr gut. Und damit du das auch nicht vergisst, werde ich dir eine kleine Erinnerung mitgeben, die du jederzeit bei dir tragen - '
'Es reicht jetzt.'
Die Stimme ist leise, aber bestimmt, und alle Augenpaare, die zuvor noch auf die Klinge in Lees Hand gerichtet waren, wenden sich jetzt dem Riesen zu, der gesprochen hat.
Lees Hand verkrampft sich um den Griff der Klinge, so dass ihre Knöchel weiß hervortreten, und ihre Kiefer mahlen. Dann zieht sie das Messer im Zeitlupentempo aus Kyles Gesicht und schiebt es mit einer aufreizend langsamen Bewegung in den Stiefelschaft zurück.
'Ganz wie du meinst, Pete. Ich bin ganz ruhig.'
Sie wirft Kyle einen Blick zu und steht mit einem Ruck auf.
'Du kannst die Sache ja weiter regeln. Ich für meinen Teil brauche jetzt ein wenig frische Luft.'
Bevor Pete noch etwas sagen kann, ist Lee schon an ihm vorbei, und er blickt ihr stirnrunzelnd hinterher, bevor er sich Kyle zuwendet. Er macht eine kurze Handbewegung, und der Druck in Kyles Nacken verschwindet. Pete rückt sich einen Stuhl zurecht, setzt sich in aller Ruhe neben Kyle und legt seinen Arm um Kyles Schulter, der gerade die Stelle unter seinem Auge betastet und dann seine Krawatte wieder gerade rückt.
'Wie ich sehe, hast du einen Streit mit unserer Schwester vom Zaun gebrochen. Das war nicht klug, mein Freund. Weißt du, sie hat eine ziemlich kurze Lunte. Wenn man daran zündelt...' Pete breitet die Arme aus '...dann kann es schnell mal knallen. Haben wir uns soweit verstanden?'
Kyle nickt nur, und Pete fährt fort.
'Prima. Dann merk dir für die Zukunft einfach eines - sei vorsichtig mit dem was du tust oder sagst oder auch nur denkst, wenn du es mit ihr zu tun hast. Sonst könnte es dir passieren, dass sie dich einfach aus dem Anzug pustet. Man sieht es ihr nicht an, aber sie kann ziemlich böse werden. Das ist kein schöner Anblick. Und wenn du meinst, damit kannst du schon umgehen – dann wirst du herausfinden, dass auch ich ziemlich böse werden kann. Und das, mein Junge, ist erst recht etwas, was du niemals sehen willst. Haben wir uns auch da verstanden.'
Kyle blickt Pete direkt in die Augen.
'Ja. Ja, ich habe verstanden. Hammerfist. Ich bin nicht blöde. Aber ich denke, wir setzen unsere kleine Unterhaltung einfach ein anderes Mal fort. Wenn wir alle ein bisschen entspannter sind.'
Pete zieht eine Augenbraue hoch.
'Ich bezweifele, dass wir uns noch was zu sagen haben. Und nun verschwinde. McCarson.'
Kyle erhebt sich langsam von seinem Stuhl, strafft noch einmal sein Jackett und wendet sich dann zum Gehen.
'Meine Damen, meine Herren – wenn Sie mich dann entschuldigen würden?'
Jerry wirft Pete einen fragenden Blick zu, doch Pete schüttelt nur den Kopf. Kyle geht betont ruhig zum Ausgang und verschwindet, während Pete ihm hinterher schaut. Jerry will noch etwas zu Pete sagen, aber Pete winkt nur wortlos ab und geht stattdessen mit schnellen Schritten durch die Tür, durch die Lee verschwunden ist.
'Das gibt jetzt Stunk da draußen. Alter Mann. Da wäre ich jetzt gerne Mäuschen', murmelt ein Mann an der Theke und erntet übereinstimmendes Nicken von den Umstehenden. Für einen kurzen Moment herrscht Stille, und das Mädchen auf der Tanzfläche sieht sich fragend um, ob sie ihre Nummer fortsetzen soll. Dann drückt jemand einen Knopf an der Jukebox, und das Kreischen von Gitarren erfüllt wieder den Raum. Nur das es die drückende Stille, die immer noch zu herrschen scheint, nicht wirklich vertreiben kann.
***
Pete muss sich zusammenreißen, damit er die Tür nicht dermaßen hinter sich zuknallt, dass sie aus den Angeln fliegt. Stattdessen schließt er für einen Moment die Augen, sammelt sich und geht zu Lee herüber, die ihm den Rücken zudreht.
'Kannst du mir bitte erklären, was diese Nummer gerade sollte, Sister Moon?'
'Was willst du mir einen Vortrag halten? Der Typ ist mir auf die Nerven gegangen und...ach Scheiße...'
'Hör zu, du bist eine gute Schülerin gewesen in all den Jahren, die wir uns jetzt schon kennen. Und du hast mich nie enttäuscht.'
'Bis auf heute Nacht, was? Tut mir leid, ich hab mich halt von Jerry inspirieren lassen, der - '
'Komm mir nicht auf die Tour. Das haben wir beide nicht nötig. Und jetzt hör mir zu, verdammt.'
'Ich bin ganz Ohr.'
Lees sieht Pete von der Seite an, und Pete atmet einmal tief durch, aber es hört sich eher wie ein wütendes Schnauben an. Er richtet den Blick kurz in den wolkenverhangenen Nachthimmel über ihnen, bevor er sich wieder Lee zuwendet.
'Dieser Typ will etwas von uns. Oder vielmehr von dir. Und wir beide wissen, was das bedeutet. Für dich, für mich, für uns alle. Dieser McCarson – der war nicht hier um zu schauen, ob er einem von uns etwas anhängen kann. Oder um sich ein paar Fleißkärtchen zu verdienen. Dann wäre er mit zusammen einem zweiten Anzugträger gekommen.
Nein, er war allein hier. Und das gefällt mir nicht. Denn das bedeutet, dass er auf eigene Rechnung unterwegs ist und - '
Lee schnippt ihre Kippe knapp an Pete vorbei.
'Ist mir alles klar, also komm zum Punkt. Was willst du von mir?'
Sie dreht den Kopf zur Seite und steckt sich demonstrativ eine neue Zigarette an, ohne Pete wie üblich auch eine anzubieten. Pete macht einen Schritt nach vorn, greift mit seiner Pranke nach ihrem Kinn, dreht ihren Kopf in seine Richtung, nimmt ihr die Zigarette aus dem Mundwinkel und feuert sie auf den Boden.
'Ok, wir können das auch anders regeln. Also - wenn er nochmal kommt – rede mit ihm. Zivilisiert. Finde heraus, was er will. Denk an das, was ich dir beigebracht habe. Aber vorher kannst du sehen, dass du wieder runterkommst
Wenn du damit durch bist, können wir zusammen ein Bier trinken und gemeinsam darüber lachen. Aber für diese Nacht sind wir erst mal fertig miteinander. Verstanden?'
Pete lässt sie los, dreht sich ohne ein weiteres Wort um und geht zurück in die Bar, die Tür hinter sich zuknallend. Lee sieht ihm hinterher. Sie hat Pete schon oft zornig gesehen. Aber ihr gegenüber?
Sie flucht leise in sich hinein und massiert sich die Schläfen. Es ist doch nur wegen diesen Träumen. Wegen diesem Gefühl, dass etwas hinter ihr her ist. Wenn sie es Pete doch nur erklären könnte. Sie unterdrückt den Wunsch, ihm direkt zu folgen und sich zu entschuldigen. Aber sie weiß, dass es jetzt keinen Sinn macht, in dieser Nacht mit ihm zu reden.
Damit wäre der Abend dann endgültig erledigt, denkt sie. Sie geht zu ihrer Maschine herüber, lehnt sich dagegen und lässt ihre Gedanken schweifen, ohne das Augenpaar zu bemerken, dass sie aus der Dunkelheit heraus beobachtet.