Menschen / 6

 

Zeit ist relativ, und Menschen sind Gewohnheitstiere. Oder wie lässt es sich sonst erklären, dass sie sich nach ein paar Wochen bereits prima an ihre neue Lage gewöhnt hat? Klar, manche Sachen sind immer noch ungewohnt. Sie kann nicht einfach tun und lassen, was sie will. Bummeln gehen oder ins Kino oder irgendwo auf einen Drink rein – alles nicht drin. Weshalb sie am Anfang auch immer wieder überlegt hatte, einfach doch den Versuch zu wagen und abzuhauen.

 

Tagsüber ließ sich Lee ja nie blicken. Was ja auch logisch war nach allem, was Tanya sich aus ihrem profunden Wissen über solche Wesen zusammengekratzt hatte, das aus dem üblichen Murks aus Film, Funk und Fernsehen bestand. Sonnenlicht war nicht so prickelnd, weil auch ein hoher Lichtschutzfaktor bei den Viechern nicht half. Alternativ auch gern genommen - das gute alte Kreuz, ein schick angespitzter Holzpflock, ein bisschen Knoblauch und ein silbernes Kruzifix – und ab geht die Post. Einfach mal in das Schlafzimmer von Lady Dracula spaziert, flott die Jalousien hoch gelassen, den Hammer geschwungen und dann zuschauen, wie die liebe Lee zu Staub zerfällt. Danach einfach die Autoschlüssel schnappen und ab durch die Mitte, hinein ins pralle Leben.

 

Ein ganz simpler Plan. Den sie ganz schnell ad acta gelegt hatte. Denn was tun, wenn sich das mit dem Sonnenlicht genau wie der ganze Rest als Märchen herausstellt? Das wäre fatal. Und zwar für sie. Mal abgesehen davon, selbst wenn es wider Erwarten klappen würde – wo sollte sie hin? Zu den Bullen? Zu ihrer Familie, von der sie nicht einmal genau wusste, wo sich dieses Pack herumtreibt? Im schlechtesten Fall wohl eher direkt zu den Killern, die sie seit Neuestem ganz oben auf der Abschussliste hatten, weil sie dummerweise dabei war, als einer ihrer Kollegen umgelegt wurde. Nein, weglaufen oder die Heldin spielen waren keine wirklichen Optionen für sie.

 

Tanya war nicht dumm. Wenn Flucht keine Option war, gab es nur eine weitere Möglichkeit. Sie musste sich mit ihrer Situation arrangieren. Überraschenderweise fiel ihr das leichter als erwartet. Gut, sie war eine Gefangene. Auf der anderen Seite – solange Lee um sie herum war, war sie so sicher wie in Abrahams Schoß. 

 

Zumal sie in sie verknallt war. Tanya hatte ein untrügliches Gespür für so etwas, und für sie gab es keinen Zweifel. Sie musste unwillkürlich grinsen - wenn sie sich geschickt anstellte, würden sich ihr eine Menge Möglichkeiten eröffnen. Warum nicht all die Vorzüge genießen, die es ja in nicht geringem Maße gab? Sie wohnte hier mehr als luxuriös. Hatte sie einen Wunsch – er wurde ihr erfüllt. Schicke Klamotten gefällig? Gehen wir halt einkaufen. Mal einen richtig guten Schluck und nicht immer das billige Zeug? Was kostet die Welt, meine Süße! Mal abgesehen davon, dass Lee im Bett ein echter Knaller war. Besser, sich mit ihr in seidener Bettwäsche räkeln als sich von irgendwelchen schmierigen und obendrein noch geizigen Idioten begrabschen zu lassen, die meinten, sie könnten sich alles erlauben, nur weil sie ihr ein paar lumpige Scheine in den Slip steckten. Nein, sie wäre eine absolute Idiotin, wenn sie das alles so einfach hinschmeißen würde, nur um einer ungewissen Zukunft direkt in die Schusslinie zu laufen.

 

Tanya lässt den Blick hinauf zum strahlend blauen Himmel schweifen. Wäre doch gelacht, wenn sie nicht an der einen oder anderen Stelle ihre neue Freundin dazu bringen könnte, das zu tun, was sie gerne hätte. Mit einem Lächeln streckt sich Tanya auf der Liege neben dem Pool aus und genießt die wärmenden Strahlen der Sonne. Manchmal kommt es anders, als man denkt. Und ehe man es sich versieht, schaut die Welt doch gleich wieder viel freundlicher aus.

 

***

 

Sie muss eingeschlafen sein, denn die Sonne ist hinter dem Horizont entschwunden. Nur der Hauch des Abendrotes färbt die Spitzen der Bäume blutrot. Lee sitzt ihr gegenüber auf einer weiteren Liege und starrt an ihr vorbei in das verlöschende Licht, bevor sie sich Tanya zuwendet, die sich noch leicht verschlafen über die Augenlider streicht.

 

‘Du siehst umwerfend auf. Zum Anbeißen lecker.'

 

Lee lässt ihren Blick über Tanyas Körper wandern, und Tanya erwischt sich wieder dabei, dass sie rot wird. Als sie den Bikini gekauft hat, kam es ihr wie eine prima Idee vor. Das kalte Feuer, das sich hinter Lees kalten Augen verbirgt, belehrt sie eines Besseren. Tolle Sache, wenn ein Plan funktioniert. Blöd nur, wenn man das Kleingedruckte nicht gelesen hat. Denk immer dran, was da vor dir sitzt. Sie zupft an dem Nichts von Oberteil herum, das dadurch aber keinen Deut größer wird.

 

'Nett, dass er dir gefällt. War ja teuer genug.'

 

Eine astreine Untertreibung. Der Preis für das Teil war dermaßen unverschämt gewesen, dass Tanya ihn eigentlich gar nicht gewollt hatte. Lee hatte er jedoch gefallen. Die Verkäuferin hatte ziemlich blöde geschaut, als Lee Tanya mit mehr als eindeutigen Blicken bedacht und dann entschieden hatte, dass sie ihn mitnehmen.

 

Reiß dich zusammen, denkt Tanya. Was hatten wir vorhin noch für einen Plan? Genau, wir spielen das beliebte 'Wie wickele ich meine Süße nach allen Regeln der Kunst um den Finger' – Spiel. Und dazu ist diese Nacht ist so gut wie jede andere. Tanya steht langsam auf, streckt sich aufreizend und geht zu Lee herüber, sich mit einer wohlgeübten fließenden Bewegung hinter sie setzend und ihr mit einem Finger die Haare aus dem Nacken streichend.

 

'Darf ich mir was wünschen, Zucker?'

 

Sie spürt Lees Lächeln mehr als das sie es sieht.

 

'Ach? Du möchtest dir was wünschen? Wieso habe ich das Gefühl, dass du mich aufs Kreuz legen willst. Und zwar nicht dort, wo ich es mir gerade sehr gut vorstellen kann.'

 

Tanya fühlt sich ein wenig ertappt, fängt sich aber gleich wieder.

 

'Ich? Hey, ich bin doch nicht verrückt. Komm, wir spielen quid pro quo, ok? Du erzählst mir ein bisschen über dich, und danach gehen wir ins Spielzimmer.'

 

Sie küsst Lee sanft in den Nacken, was Lee mit einem Schnurren quittiert.

 

'Ok...überredet. Was möchtest du wissen?'

 

Tanya lässt sich auf die Liege gleiten und sieht Lee in die Augen.

 

'Oh, da gibt es so vieles. Wie alt du bist, ob du wirklich ein Vampir bist, der Leute umbringt, um ihr Blut zu trinken, ob du eigentlich noch eine Familie hast...mir fallen so viele Dinge ein...'

 

Kaum hat sie die achtlos dahin geworfenen Fragen ausgesprochen, bereut sie sie auch schon und schilt sich im Geiste eine dumme Kuh. Je mehr sie dir erzählt, umso eher hat sie hinterher Gründe, dich vielleicht doch noch verschwinden zu lassen. Weil du einfach ein klitzekleines bisschen zu viel weißt. Mal abgesehen davon, dass sie sich vielleicht auf die Füße getreten fühlt, wenn du so verflucht neugierig bist.

 

'Weißt du', sagt Lee 'wir alle stehen irgendwann an dem Punkt, an dem wir uns entscheiden, vorwärts zu gehen. An dem wir nicht mehr zurückschauen und alles was war hinter uns lassen. Wenn wir diesen letzten Schritt gehen, können wir nicht mehr zurück. Es ist ein Punkt ohne Wiederkehr. Du bist jetzt an diesem Punkt angekommen. Bewegst dich auf die letzte Ausfahrt zu. Wenn du jetzt nicht abbiegst, gibt es kein Zurück mehr. Nicht für dich und nicht für mich. Also sag mir, und überlege gut - soll ich dir von Dingen erzählen, die zwischen Himmel und Erde liegen?'

 

Du stehst an der Pforte zur Hölle und schließt einen Dämonenpakt, denkt Tanya. Sei schlau und lass den Kelch an dir vorübergehen. Tanya versucht zu sprechen, will Lee sagen, dass sie gar keine Antwort möchte, dass sie unwissend bleiben will, doch stattdessen erwischt sich dabei, wie sie nickt. Lee lächelt freudlos.

 

'So sei es.'

 

Sie sammelt sich ein wenig, bevor sie fortfährt.

 

'Ich bin wohl das, was die Menschen einen Vampir nennen. Eigentlich dürfte ich dir das gar nicht erzählen, ohne dich direkt im Anschluss daran zu töten.'

 

Warum tust du es dann, denkt Tanya.

 

'Weil man mich nicht gefragt hat, ob ich an dieser Veranstaltung teilnehmen will. Deshalb. Ich pflege Regeln zu ignorieren, wenn sie mir nicht gefallen. Habe ich schon immer getan, werde ich weiterhin tun.'

 

Sie macht eine kurze Pause, bevor sie fortfährt.

 

'Was den für dich wohl wichtigsten Aspekt angeht – ja, ich ernähre mich von Blut. Nichts anderes stillt meinen Hunger. Bevor du jetzt Angst bekommst – nein, ich muss dafür nicht töten. Und ja, ich kann mich beherrschen. Wäre es nicht so – ich hätte dich schon längst umgebracht.

 

Was dagegen die ganzen anderen Mythen angeht – vergiss sie. Es spielt dabei keine Rolle, ob sie wahr sind oder nicht. Sie verstellen dir nur den Blick auf das, was ich bin. Verstehst du das?'

 

'Ja. Glaub ich wenigstens. Sag mal, wie bist du eigentlich eine...Vampirin...geworden?'

 

'Jemand hat mich verwandelt. Ein anderer Vampir. Sein Name war Frank Gettys. Er tat es aus freiem Willen, so viel weiß ich. Es ist nicht so, dass man einfach so ein Wesen erschafft wie ich jetzt eines bin. Niemand, der auch nur ansatzweise bei Verstand ist, stört den Schlaf der Ungeheuer. Und Gettys mag ein Monstrum sein, dumm oder wahnsinnig ist er nicht. Doch warum er es tat - ich weiß es nicht. Er hat es mir nie gesagt, und ich habe es bis heute nicht herausgefunden. Ich habe eine dunkle Ahnung. Doch dazu werde ich dir jetzt nichts weiter erzählen, klar?'

 

'Ok...willst du mir was über diesen Gettys selbst erzählen? Oder ist das in deinem Nichts inklusive?'

 

'Nein. Gettys ist alt. Wie alt genau weiß ich nicht. Auf jeden Fall älter, als Menschen werden. Er hat dieses Land schon durchstreift, als die Weißen hier noch nichts zu sagen hatten. Gettys ist ein Killer, und er war wohl schon einer, als er noch ein Mensch war. Wer ihn erschaffen hat und warum – keine Ahnung. Was ich weiß ist, dass er seine Menschlichkeit schon vor langer Zeit an den Nagel gehängt hat. Würde er herausfinden, dass es dich gibt und dass du mit mir zusammen bist und ich dir was von ihm erzählt habe – er würde dich töten, einfach so, wie man einen Käfer zertritt. Und nichts und niemand könnte ihn davon abhalten.'

 

'Was ist mit dir? Könntest du ihn nicht aufhalten? Immerhin bist du doch wie er.'

 

'Klar bin ich wie er. Dummerweise hat er mir ein paar Jahrhunderte voraus. Und du weißt ja - der Meister ist immer besser als seine Schülerin.'

 

'Ja, klar. Meistens jedenfalls. Wo ist dieser Frank denn jetzt gerade?'

 

'Wer weiß? Er...ach lassen wir das. Wenn ich zu viel an dieses Schwein denke, kriege ich schlechte Laune.'

 

Lee macht eine kurze Pause.

 

'Kommen wir zu deiner anderen Frage. Der nach meiner Familie. Natürlich hatte ich eine. Vor einer gefühlten Ewigkeit jedenfalls. Sie sind alle längst tot und begraben. Wahrscheinlich ist es auch besser so. Ich wüsste bis heute nicht, wie ich ihnen all das erklären sollte.'

 

Lees Blick wandert an Tanya vorbei in die Dunkelheit und das Nichts, das dahinter liegt.

 

'Meine Familie ist erloschen, und die Erinnerung an sie ist eine verwitternde, sich auflösende Linie. Je mehr ich versuche, sie in meinen Gedanken zu bewahren, umso mehr entgleitet sie mir. Gesichter, Gedanken, Gefühle – alles verweht im Wind der Zeit.

 

Das Volk meines Vaters war schon immer Teil dieses Landes. Und meine Mutter ist es mit der Zeit geworden. Sie haben dieses Land geliebt, alle beide. Ich glaube manchmal, dass sie um mich herum sind, zusammen mit meinem Bruder, in den Bäumen, den Steinen, dem Wasser, der Erde...in allem, was dieses Land ausmacht.'

 

Lee stößt ein verächtliches Lachen aus.

 

'Meine Eltern glaubten an die Harmonie der Dinge. Die Einheit zwischen Mensch und Natur. Das Gleichgewicht zwischen Seele und Körper. So sollte die Welt sein. Wie du inzwischen erfahren hast, ist sie leider manchmal ganz anders. Voll von Hass und Leid, gepeinigt von Dämonen in Menschengestalt, seien sie nun tot oder lebendig.'

 

Lee sieht Tanya nun in die Augen, während sie weiterspricht.

 

'Weißt du, als ich klein war, hat mir meine Mutter einmal eine gruselige Geschichte erzählt. Über Wesen, die Teil des Landes geworden sind, aber auf so ganz andere Weise, als meine Eltern es waren. Mein Vater und meine Mutter, sie waren ihm auf natürliche Weise verbunden. Sie und das Land, sie waren eins. Sie nahmen sich nichts mit Gewalt. Sie waren zufrieden mit dem, was das Land ihnen zu geben bereit war.

 

Die Wesen, von denen sie erzählten, waren es nicht. Diese Ungeheuer hatten ihre Klauen tief in das Land hinein gegraben. Sie zerrissen und vergewaltigten es, indem sie in der Erde mit Gewalt nach Wissen und Erkenntnis suchten. Und als ihre Gier schließlich befriedigt war, waren sie nicht mehr wie Menschen. Sie waren verwandelt. Sie waren ein Teil des Landes geworden, und sie hatten einen Preis entrichten müssen. Niemand, der nach den verborgenen Schätzen der Erde gräbt, zieht seine Klauen jemals unbefleckt zurück.'

 

Lee macht eine lange Pause, und Tanya wagt es nicht, sie zu unterbrechen, auch wenn ihr tausend Fragen auf der Zunge liegen. Lee fährt mit tonloser, spröder Stimme fort.

 

'Ich weiß nicht, ob Frank zu diesen uralten Wesen gehört. Ich glaube eher, dass er nur ein Abkömmling von ihnen ist, wenn auch ein mächtiger. So wie ich wohl sein Kind bin. Er war auf der Suche nach jemandem wie mir. Er wollte mich, weil ich die Voraussetzungen mitbrachte, um erfolgreich zu sein. Um es zu überstehen.'

 

Sie schüttelt den Kopf.

 

'Manchmal denke ich, dass ich besser liegen geblieben wäre. Damals, als ich blutend auf der Straße lag, mit zwei Kugeln im Rücken. Dann hätte mich der Tod gefunden, so wie es mir vorherbestimmt war. Doch jemand anderes fand mich und enthielt mich dem Tod vor. Er hat einen hohen Preis dafür bezahlt. Wie so viele andere auch.'

 

'Was ist mit ihm passiert.'

 

Lee schnippt den Rest ihrer Zigarette in die Dunkelheit.

 

'Sagen wir einfach, dass ich ihm kein Glück gebracht habe. Es ist immer das Gleiche - wenn ich mal jemanden mag, ist er nicht mehr lange da.'

 

Wenn du jemanden nicht magst, ist der auch nicht mehr lange da, schießt es Tanya durch den Kopf. Aber den Spruch behält sie besser für sich. Sie schweigt, und Lee scheint ihr Unwohlsein zu bemerken, denn sie wechselt abrupt das Thema.

 

'Für diese Nacht ist es genug mit den alten Geschichten aus der Vergangenheit.'

 

Lee öffnet ihre Lippen, und Tanya fühlt eine Gänsehaut in ihrem Nacken.

 

'Wenn ich nicht aufpasse, ist die Nacht noch rum, und wir haben uns gar nicht amüsiert.'

 

Tanya glaubt einen Blick auf Lees Fangzähne zu erhaschen und will instinktiv zurückweichen, doch Lee legt nur sanft einen Finger auf ihre Lippen.

 

'Ssshhh...keine Angst. Ich habe dir gesagt, dass es Himmel und Hölle gibt. Beide liegen sehr nah beieinander. Für diese Nacht wird es der Himmel sein. Das verspreche ich dir.'

 

Sie hat mich verhext, denkt Tanya. Oder du bist dabei, dich in sie zu verknallen. Eine seltsame Ruhe überkommt Tanya. Sie schließt die Augen und spürt einen wohligen Schauer, als Lees Fänge über ihre Haut gleiten. Ein kurzer Schmerz, dann explodiert eine rote Sonne hinter ihren Augenlidern. Das Letzte, was sie bewusst denkt, bevor sie sich fallen lässt ist 'Himmel oder Hölle, was immer du willst.'

 

***

 

Tanya ist eingeschlafen. Kein Wunder, denkt Lee. Sie ist ein Mensch, und Menschen schlafen in der Nacht. Lee ist ihr fast dankbar. So angenehm es ist, ihrem Verlangen freien Lauf lassen zu können – jetzt will sie allein sein. Mit ihren Erinnerungen, ihren Dämonen, die Tanya unwissentlich hervorgerufen hat und die sie aufwühlen, als wäre alles erst letzte Nacht passiert.

 

Einen Moment steht sie bewegungslos auf der Terrasse und betrachtet die Dunkelheit des Waldes. Der Gedanke, ihre wahre Gestalt anzunehmen und einfach in die Nacht hinaus zu laufen, auf der Suche nach Beute, nach etwas, das sie töten und zerreißen kann, ist durchaus verlockend. Doch sie entscheidet sich dagegen. Verlier dich nicht! Werd nicht zu einem Monstrum!

 

Außerdem - sie könnte die Zeit vergessen und sich einen Platz irgendwo da draußen suchen müssen, und Tanya könnte sie vermissen und unruhig werden. Lee schüttelt leicht den Kopf. Seit wann macht sie sich Gedanken um einen Menschen? Die Kleine hat ihr anscheinend ein wenig den Kopf verdreht. Das ist sie gar nicht mehr gewohnt. Was ist eigentlich los mit ihr? Kaum läuft ihr mal eine über den Weg, die ihr Typ ist, und schon führt sie sich auf wie eine Teenager-Göre.

 

Aber das ist nicht alles, und sie weiß es auch. Etwas hat sich verschoben, und Lee ist sich nicht sicher, ob sie damit wirklich glücklich ist. Sie hat eine Verantwortung übernommen, die sie nicht mehr ablegen oder weiter delegieren kann. Nämlich nicht nur für sich selbst, sondern auch für Tanya. Jennifer hat sie immer davor gewarnt. Fast kann Lee ihre Stimme, ihren Rat, den sie inzwischen so sehr vermisst, im Kopf hören.

 

'Sei vorsichtig, wie viele Gefühle du jemandem entgegenbringst. Egal ob Mann oder Frau - du begibst dich immer in eine Abhängigkeit hinein, von der du viel zu spät merken wirst, wie sehr sie dich bindet und schließlich in Ketten legt. Du magst immer die Stärkere sein, was deinen Körper angeht, aber das gilt noch längst nicht für deinen Geist, und es wird immer deine Last sein. Nicht die deines Objektes der Begierde.

 

Nenn es Liebe, Leidenschaft, Mitgefühl – all das wird dich angreifbar machen. Verletzbar. Erpressbar. Irgendwann wirst du unvorsichtig. Und das ist es, was schon so vielen unserer Art den Tod gebracht hat. So viele schon sind gefallen ob ihres Verlangens.'

 

Wie recht sie doch hatte. Daryll hätte ihr als unumstößlicher Beweis eigentlich ausreichen müssen. Stattdessen hat sie Tanya aus einer Laune heraus mitgenommen – immer schön nach dem Motto, dass die Herdplatte gar nicht so heiß gewesen sein kann, als das man es nicht noch einmal versuchen könnte.

 

Doch was, wenn es gar keine Laune war? Sondern etwas anderes? Wie zum Beispiel der Wunsch, nicht mehr allein zu sein in dieser kalten mörderischen Welt? In der sie höchstpersönlich eines der wahren Monster ist? Vielleicht, denkt sie, werden selbst Monster einmal müde. Ein bitteres Lächeln erscheint auf Lees Lippen. Wer weiß, vielleicht war selbst ein Frank Gettys einfach nur einsam und erschuf sie deswegen. Aus einer Laune heraus. Was wäre das für ein Witz.

 

Kurz wägt sie den Gedanken ab, um ihn dann zu verwerfen. Nein, das war nicht sein Antrieb. Es muss einen anderen gegeben haben. Er hatte etwas mit ihr vor, und er ist noch nicht fertig damit. Sonst hätte er sie wahrscheinlich schon längst umgelegt. Ein diffuses Gefühl in ihrem Innern sagt ihr, dass sie es bald herausfinden wird. Und das es ihr so gar nicht gefallen wird.

 

Lee schüttelt den Kopf. Ein paar Runden im Pool sollten ihr wieder einen klaren Kopf verschaffen. Sie streift ihren Kimono ab, wirft ihn auf eine Liege und lässt ihren Blick einmal aufmerksam über die Umgebung streifen. Das Mondlicht glitzert auf der Wasseroberfläche, und sie genießt es, auch wenn es nur ein Abklatsch des wärmenden Lichts der Sonne ist, die sie so vermisst. Mit einigen geschmeidigen Schritten erreicht sie den Rand des Pools, springt hinein und zieht einige Bahnen, ohne auch nur einen Hauch von Anstrengung zu verspüren. Dann lässt sie sich ein wenig auf dem Rücken treiben und betrachtet den Trabanten, der gleichgültig zu ihr zurückschaut.

 

Kurz huschen ihr Bruchstücke von Mythen und Legenden durch den Kopf. Ob es wohl noch andere monströse  Wesen wie sie gibt? Vielleicht treibt sich ja ein Werwolf da draußen herum. Nicht doch, denkt sie, es ist gerade kein Vollmond, also ist die Chance eher gering. Sie lächelt. Was für ein Blödsinn ihr da gerade durch den Kopf -

 

Sie bringt den Gedanken nicht zu Ende und schließt stattdessen die Augen, um sich auf die Geräusche um sich herum zu konzentrieren. Es ist still. Unnatürlich still. Die Zikaden haben aufgehört zu singen. Das Geräusch des Windes in den Zweigen der Tannen ist weiterhin zu hören, aber die nächtliche Fauna ist verstummt. Du bist nicht mehr allein, denkt sie. Die Lichter des Pools erhellen das Wasser, aber jenseits des Beckenrandes herrscht eine Dunkelheit, die auch Lee mit ihren geschärften Sinnen kaum durchdringen kann. Wenn sich etwas jenseits dieser Barriere verbergen will, wird ihm dies auch gelingen. Langsam, mit fließenden, ruhigen Bewegung nähert sich Lee dem Rand des Beckens und gleitet dann lautlos aus dem Wasser. Die Tropfen perlen von ihrer nackten Haut ab und glitzern im Mondlicht. Lee huscht wie eine Raubkatze auf allen Vieren in Richtung der Schatten der Wälder, und konzentriert sich, doch was immer dort draußen auf sie lauert, entzieht sich ihren Blicken. Sie zieht die Luft durch ihre Nasenflügel ein. Der Geruch von feuchter Erde hängt in der Luft. Und da ist noch etwas. Eine kaum wahrnehmbare Witterung. Mit unmenschlich schnellen Bewegungen erreicht Lee die Mauer, die das Grundstück umschließt und überwindet das Hindernis mühelos mit katzenhafter Geschmeidigkeit.

 

Auf der anderen Seite umfängt sie die Dunkelheit des Waldes wie ein Mantel. Instinktiv nimmt sie die Witterung wieder auf, während eine immer leiser werdende Stimme in ihrem Kopf verhallt, die sie vergeblich darauf hinzuweisen versucht, dass sie verflucht noch mal nackt durch den Wald streunen will.

 

Sie zieht wieder die Luft ein. Da – dieses unvergleichliche Aroma. Hier ist Blut vergossen worden. Nur wo? Lautlos bewegt sie sich tiefer in das Unterholz hinein, von Zeit zu Zeit in die Hocke gehend und den weichen Boden absuchend, bis sie schließlich fündig wird. Ein Fußabdruck. Von einem Kind. Es ist hier, denkt sie. So wie in der Nacht, als sie Franks Monster in Stücke gerissen hat. Was willst du von mir, denkt sie. Zeig dich mir. Doch nichts geschieht. Der Blutgeruch wird dagegen etwas stärker. Es ist nur ein Hauch, doch für Lee ist er wie ein unsichtbares Band, an dem sie sich entlanghangeln kann.

 

Sie kommt an eine kleine Lichtung, als wie aus dem Nichts das Kind vor ihr erscheint, gekleidet in ein strahlend weißes Kleidchen. Lee spannt ihre Muskeln an und wendet sich an das Kind.

 

'Wer bist du? Warum bist du hier? Was willst du von mir?'

 

Lee Stimme ist ein Knurren, doch das Kind scheint sich nicht vor ihr zu fürchten. Vielmehr betrachtet es Lee aus uralten Augen neugierig mit leicht zur Seite gelegtem Kopf und lacht dann lautlos.

 

'Hast du deine Stimme verloren? Los, antworte mir.'

 

Das Kind lächelt sie weiterhin nur an, und Lee muss sich anstrengen, nicht einfach ihre Vorsicht fahren zu lassen. Das Kind legt nun einen Finger auf seine Lippen und öffnet dann den mit messerscharfen Zähnen gespickten Mund, als wenn es lachen wollte. Lee will gerade aufbrausen – als sie plötzlich einen Anflug von Übelkeit in sich aufsteigen fühlt. Sie hat viel gesehen in ihrer Zeit mit Gettys. Und viele Dinge getan, die sie gerne vergessen würde. Aber für alles hat es Grenzen gegeben. Selbst für Wesen ihrer Art. Also wer zur Hölle tut so etwas?

 

Wer schneidet einem Kind die Zunge heraus? Und verwandelt es in – so etwas? Ihre Wut ist wie weggeblasen, und sie muss sich beherrschen, das Kind nicht in den Arm zu nehmen, es zu trösten, ihm zu sagen, dass alles gut wird.

 

Das Kind lacht wieder lautlos und verschränkt die Ärmchen hinter dem Rücken. Dann neigt es leicht den Kopf zur Seite, betrachtet Lee mit einem undeutbaren Blick und zeigt in Richtung einer riesigen Tanne am Rande der Lichtung. Lee wendet ihren Blick – und ist für einen Moment erneut wie vor den Kopf geschlagen.

 

Ein Rabe ist an den Stamm genagelt, kopfüber gekreuzigt, die Augen herausgerissen, die Innereien kunstvoll arrangiert.

 

'Was soll das', sagt Lee, nur um sich im gleichen Moment die Antwort selbst zu geben. Eine Warnung. Nur wovor? Lee schüttelt den Kopf und öffnet ihren Mund um das Kind noch etwas fragen, dem Kind hinterher rufen, aber es ist schon längst zwischen den Bäumen verschwunden, ganz so, als hätte es der Erdboden verschluckt.

 

Von einem Moment auf den anderen scheint die Fauna der Nacht wieder zu erwachen. Das Kind ist fort - Lee weiß es, so sicher, wie sie vorher instinktiv gespürt hat, dass es dort draußen auf sie gewartet hat. Heute Nacht wird sie keine Antworten mehr auf ihre Fragen bekommen, und so macht sie sich frustriert auf den Heimweg.

 

***

 

Nachdem sie sich unter der Dusche von ihrem Ausflug in den Wald gereinigt hat, zieht sie sich in ihr Refugium zurück. Gedankenverloren frottiert sie sich die Haare. Will sie wirklich die Wahrheit wissen? Sie ist hin- und hergerissen. Tief in ihrem Inneren weiß sie, dass sie die Antwort fürchtet. Wissen allein bringt nicht unbedingt Gewinn - im Gegenteil, im schlimmsten Fall ist es die Knochensaat, die nichts als Leid hervorbringt. Mit einem Seufzer legt sie sich auf ihr Bett.

 

Jemand wacht über mich, denkt sie. Nur dass sie sich nicht sicher ist, ob sie das freuen soll oder nicht. Mit diesem Gedanken gleitet Lee davon an den Ort ohne Dunkelheit, der für sie der Nexus aller Dinge ist.