Teufel / 12
Lee tigert in ihrem Zimmer auf und ab, während sie mit ihrem Handy herumspielt. Sie kann den Lauf der Sonne ebenso wie die Phasen des Trabanten innerlich abrufen, ganz so als wenn sie zum Nachthimmel emporschauen würde. In dieser Nacht wird der Mond seinen Lauf vollenden und in kalter Pracht am Firmament erscheinen. Noch ist kein Wölkchen zu sehen, aber das wird sich ändern. Sie kann es fühlen. Auch so eine Fähigkeit, die in ihrem Innern wie aus dem Nichts erwacht ist. Die Bäume haben vor kurzem damit begonnen, ihr Laub zu verlieren, und ein leichter Nieselregen liegt über der Stadt. Die Nacht der Toten steht kurz bevor. Und mit ihr eine neue Prüfung.
Frank hat ihr immer wieder neue Aufgaben gestellt. Mal sollte sie sich eine neue Bleibe organisieren. Mal geschäftliche Dinge erledigen, die man normalerweise nur tagsüber regeln konnte. Sie war mehr als einmal restlos genervt gewesen von seinen Einfällen, bis sie das System dahinter erkannte.
Gettys war vielleicht ein sadistischer Scheißkerl, aber alles andere als dumm. Widerwillig hatte sie sich eingestehen müssen, dass er sie im Schnelldurchgang mit den Problemen vertraut machte, die ihre neue Existenzform so mit sich brachte. Und wie man sie löste.
Sie hatte sich als gute Schülerin erwiesen, und Frank war zufrieden mit ihr. Nicht dass er ihr das gesagt hätte. Aber sie konnte es spüren. In dieser Hinsicht waren er und Pete sich mehr als ähnlich. Ein Satz ihres alten Lehrmeisters geht ihr durch den Kopf.
‘Du bist ein Überlebenstyp. Das ist eine Gabe, die nur wenigen zu Teil wird, Sister Moon.'
Lee verzieht den Mund. Wenn du wüsstest, wie Recht du hattest, alter Freund. Ich habe sogar den Tod überlebt. Nur das ich dir das nicht verraten kann. Denn unsere Wege haben sich getrennt, und wir werden uns nie wieder sehen.
Das Vibrieren des Handys reißt sie aus ihren trüben Gedanken. Sie haben eine neue Nachricht. Ein Treffpunkt irgendwo außerhalb der Stadt. Lee seufzt. Immer diese Geheimniskrämerei. Kurz überlegt sie, ob sie ihre Waffen einstecken soll, dann zuckt sie mit den Schultern. Wozu? Ihr Messer hat sie immer dabei, und überhaupt, wer kann ihr denn was? Nichts und niemand. Sie streift ihre Lederjacke über, verschließt ihre Zuflucht und macht sich auf den Weg.
***
Im Fond des Wagens ist es stockdüster, und Lee knallt mit ihrem Schädel mehr als einmal gegen eine Seitenwand. Nicht der Rede wert, aber trotzdem nicht die angenehmste Art, durch die Gegend gefahren zu werden. Und dann noch dieser Gestank. Als wenn man kurz vorher eine inkontinente Hundemeute in dieser Karre herumkutschiert hätte. Und dann hatte Frank auch noch darauf bestanden, dass sie nackt in den Wagen steigt.
'Alles Teil der Prüfung Kätzchen. Stell dich nicht so an.'
Womit die Diskussion dann auch erledigt war.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hält der Wagen abrupt an. Die Seitentür wird mit einem Ruck zur Seite gezogen, und Frank nickt ihr auffordernd zu.
'Wir sind da. Auf auf, keine Müdigkeit vorschützen.'
Lee klettert aus dem Wagen und sieht sich um. Ein Waldstück am berühmten Arsch der Welt. Das Ganze garniert mit einem feinen Nieselregen, der den unebenen Untergrund in eine Rutschbahn verwandelt.
'Na klasse! Ist ja richtig gemütlich hier. Könntest du mir jetzt mal erklären, was das für eine Nummer werden soll?'
'Klar! Die Sache ist ganz einfach. Da draußen ist der böse Wolf. Und du bist das Rotkäppchen.'
'Ach, bin ich das? Wo ist denn der Picknickkorb?'
‘Du und Dein loses Mundwerk. Wenn es nicht so amüsant wäre mit dir, würdest du mit mehr als einem Andenken herumlaufen, das kannst du mir glauben.'
Frank lacht ein wenig und sieht kopfschüttelnd in Richtung der hochaufragenden Tannen, deren Wipfel sich leicht im Wind bewegen.
'Wir kommen vom Thema ab. Also, noch mal - da draußen ist der böse Wolf. Eigentlich ist es der böse Rottweiler. Nun wäre so ein Köter wahrlich kein Problem für dich.
Damit du dich also nicht langweilst, habe ich ihn gefüttert. Tunen nennt man das heutzutage wohl. Er hat ein bisschen von meinen Blut geleckt, und es ist ihm nur teilweise bekommen. Er ist groß und stark geworden, aber leider auch ein bisschen...verrückt. Na ja, es kann nicht alles klappen.'
Frank grinst.
'Aber du wirst ihn dir ja bald aus der Nähe anschauen und dir dein eigenes Urteil bilden können.'
'Sehr witzig, Frank. Doch, wirklich.'
'Nicht wahr? Finde ich auch. Also, das ist die Aufgabe - mach die Töle platt und bring mir ihren Kopf. Wie du das anstellst, ist mir egal. Einzige Bedingung ist, dass du dir nicht ewig Zeit damit lässt. Ich wär gern zur den Nachrichten wieder zu Hause. Und du möchtest ja auch nicht in einem Erdloch übernachten, oder?'
'Und was kriege ich dafür, dass ich ein braves Mädchen bin?'
'Ich stopf dir den Kopf aus, und du kannst ihn dir an die Wand hängen.'
'Und ich dachte schon, du bräuchtest mal ein bisschen Abwechslung für deine Sammlung im Keller. Na schön, ich hol ihn dir. Und danach können wir ja irgendwann mal um deinen spielen.'
'Das möchte ich wirklich mal erleben...', sagt Frank mehr zu sich selbst als zu Lee, die bereits lautlos im Unterholz verschwunden ist. 'Das möchte ich erleben...'
***
Der Mond, der bisher fahl am Himmel stand, versteckt sich nun hinter den Wolken, während Lee tiefer ins Unterholz eindringt. Es ist stockfinster, doch ihre Augen saugen das noch verbliebene Licht auf und sie kann die Umgebung sehr gut erkennen. Einen richtigen Urwald hat sich Frank da ausgesucht. Dicht bewachsener Untergrund, garniert mit jeder Menge Stolperfallen. Eine prima Gelegenheit, sich die Knochen zu brechen. Lee geht neben einem Baumriesen in die Hocke und strengt ihre Sinne an. Etwas ist hier, und es will sie töten. Sie wird es zuerst finden. Und ihm zuvorkommen.
Es sind ihre Ohren, die ihr die Warnung zukommen lassen. Ein Knacken im Unterholz. Als wenn sich etwas schweres, unförmiges und gleichzeitig geschmeidiges dort bewegen würde, das versucht, leise zu sein. Etwas, das sich anschleicht, weil es auf der Jagd ist. Nach ihr.
Lee wägt ihre Chancen ab. Sie ist nackt und unbewaffnet in einem Wald, den sie nicht im Geringsten kennt, und sie weiß nichts über das, was dort vorn auf sie lauert. Außer, dass es sie in Stücke reißen will. Wäre ihr Gegner ein Mensch, würde sie sich keine großen Sorgen machen. Aber das hier ist etwas anderes.
Sie horcht in sich hinein und spürt, wie etwas in ihr mit Macht an die Oberfläche drängt und die Kontrolle zu übernehmen versucht. Sie zieht die feuchte, modrig riechende Luft durch ihre Nasenlöcher und ihre Fingernägel graben sich in den Boden. Sie richtet sich in eine lauernde Position auf. Ihre Reißzähne haben sich wie von alleine hervorgeschoben, und ein Fauchen entringt sich ihrer Kehle.
Zwischen ihren Schulterblättern fühlt sie eine Art Jucken, gefolgt von einem Schmerz, als wenn ihre Haut aufreißen würde, und plötzlich das Gefühl, dass sich ihr Körperschwerpunkt verändert hat. Als wenn sie sich jetzt in ihrer richtigen Form befände und ihr Körper nur eine lästige Hülle wäre, die sie nun abgestreift hat.
Lee lauscht dem Geräusch des Windes, der unruhig durch die Baumkronen streicht, als das Heulen eines Tieres die Stille durchbricht. Sie lächelt. Was immer dort draußen ist, es soll kommen. Sie freut sich schon darauf. Auf das Töten. Und auf das, was vor dem Töten kommen wird.
Sie bewegt sich fast lautlos und mit höchster Anspannung, und trotzdem wird sie auf dem falschen Fuß erwischt, als das Monstrum durch eine Barriere aus Totholz bricht. Eines seiner Augen ist zugeschwollen, und stinkender Eiter trieft aus einem Nasenloch. Sofort stürzt es sich auf Lee, und sie wird zu Boden geschleudert. Das Monstrum schnappt nach ihrer Kehle, aber Lee schafft es, sich mit einem Reflex zur Seite zu werfen, und so schrammen die rasiermesserscharfen Zähne nur über ihre Schulter, einige schmerzhafte Risse in ihrer Haut hinterlassend.
Lee bemerkt kaum, wie schnell sich die Wunden wieder zu schließen beginnen und der Schmerz verebbt. In ihrem Kopf erklingt wieder dieses Flüstern, und sie verspürt ein heftiges Ziehen in den Händen und Füßen.
Fauchend wirbelt sie herum und fixiert ihren Gegner mit ihren zu Schlitzen verengten Augen. Das Hundewesen spannt sich erneut zum Sprung, und Geifer tropft von seinen Kiefern. Es scheint für eine Sekunde zu zögern, dann stößt es sich mit seinen Hinterbeinen ab und macht einen gewaltigen Satz, um Lee unter sich zu begraben. Lee taucht unter dem Monstrum hindurch, und ihre zu messerscharfen Krallen verformten Nägel graben sich in seinen Bauch hinein und zerfetzen das weiche Fleisch. Sie spürt, wie sein Blut auf ihren Körper spritzt, gefolgt von einem widerlichen Geräusch, als die dampfenden Eingeweide sich über sie ergießen. Das Hundewesen stößt einen heulenden Laut aus.
Mit einer Schnelligkeit, die sie selbst überrascht, ist sie wieder auf den Beinen und stürzt sich erneut auf ihren Feind. Ihre Krallen graben sich in seine Kehle und reißen sie mit einem Ruck auf. Wieder ein ekelerregendes Geräusch, gefolgt vom verführerischen Geruch frischen Blutes. Das Tier unter ihr erschlafft, und Lee rammt zwei Finger in seine Augen, während sie mit der anderen Hand die Sehnen zerfetzt, die den Kopf noch am Körper halten. Ein weiterer Ruck, und sie hält den Schädel in ihrer Linken. Mit einem Lachen legt sie den Kopf in den Nacken, während sie ihre Trophäe hochhält und das Blut über ihr Gesicht laufen lässt.
Die Stimme in ihrem Kopf ist verstummt, aber Lee weiß, dass sie zufrieden ist. Sie hat sich ihr hingegeben. Ihr die Macht über ihren Körper und ihren Geist gegeben. Und sie bereut es nicht. Das Gefühl, eins zu sein mit dieser anderen Seite, es war berauschend.
Dann lichtet sich der rote Schleier, und Lee ist wieder sie selbst. Kurz muss sie sich orientieren. Was ist eigentlich passiert? Sie sieht an ihrem mit Blut und Eingeweiden verschmierten Körper herunter. Der Kadaver des Hundes strömt einen eigenartigen Geruch aus, aber das Aroma des Blutes ist immer noch da, und sie muss sich zusammenreißen, nicht ihrem Verlangen nachzugeben. Sie betrachtet den Kopf in ihrer Linken. Ihre Finger stecken immer noch in den Augenhöhlen, und sie schwankt zwischen Ekel und dem Hochgefühl des Sieges.
Eine Bewegung, aus den Augenwinkeln wahrgenommen, reißt sie aus ihren Gedanken. Jemand ist hinter ihr, und es ist nicht Frank. Sondern…
Ein Kind? Was zur Hölle macht ein Kind hier allein im Wald, mitten in der Nacht? Lee macht einen Schritt auf das Kind zu, hält dann aber inne. Das Kind lächelt, aber Lee fröstelt es leicht, als sie in seine Augen blickt, die durch sie hindurchzusehen scheinen. Sie hat das Gefühl, dass sie das Mädchen schon einmal gesehen hat. Als wenn sie es kennen würde. Sie öffnet den Mund, um es anzusprechen, aber das Mädchen macht nur eine stumme Geste, dass sie ihr folgen soll und dreht sich dann wortlos um und läuft in den Wald hinein. Lee läuft ihm hinterher, und obwohl sie eigentlich schneller sein müsste, hat sie Mühe Schritt zu halten. Schon nach wenigen Sekunden ist es verschwunden, und jetzt nimmt Lee eine Veränderung ihrer Umgebung wahr. Die Dunkelheit des Waldes hat sich gewandelt. Sich zusammengezogen, verdichtet. Als wären die Schatten lebendig geworden.
Überrascht stellt sie fest, dass sie keine Furcht empfindet. Vielmehr hat sie das Gefühl, in ein ihr vertrautes Element eingetaucht zu sein. Sie schaut sich um und ist erstaunt über die Leichtigkeit, mit der sie sich orientieren kann. Ein Lächeln zeichnet sich auf ihren Lippen ab. Darüber hat Frank kein Wort verloren. Ein leises Flüstern ertönt in ihrem Kopf.
'Auf die dunkle Seite wechseln zu können ist Dein Geburtsrecht. Aber du musst lernen, es zu beherrschen. Sonst wirst du dich in den Schatten verlieren.'
Lee schaut in die Richtung, in die das Kind verschwunden ist und verspürt den Drang, ihm weiter zu folgen.
'Überschätze dich nicht', flüstert die Stimme.
Lee ringt ein wenig mit sich selbst, aber schließlich siegt die Vernunft über die Neugierde. Außerdem muss sie jetzt erst einmal den Kopf abliefern. Mit geschmeidigen Schritten gleitet sie durch die Dunkelheit in die Richtung, in der sie Frank vermutet.
***
Sie ist weg. Urplötzlich ist der Kontakt, den Frank die ganze Zeit über verspürt hat, abgerissen. Als hätte jemand die Leitung gekappt. Wieder einmal beschleicht ihn ein ungutes Gefühl. Ja, er hat sie ausgewählt, weil sie alles mitbringt. Aber das sie sich vor ihm verbergen kann, hier, in seinem Jagdterritorium? Das kann nicht sein!
Und doch ist es so. Auf seine Sinne kann er sich verlassen. Und er hat gelernt, die Dinge so zu sehen wie sie sind. Und nicht so, wie sie sein sollten.
Soll er sie suchen? Nein! Warum ihr zeigen, dass er den Trick genauso beherrscht wie sie? Auch wenn sie es sich sicherlich denken kann. Sie ist nicht dumm. Ganz und gar nicht.
Frank knetet seine Unterlippe. Sie wird gefährlich. Selbst für ihn. Sie ist wie ein wildes Tier, das dabei ist, seine Kette zu zerreißen. Aber hat er nicht genau das gewollt? Noch einmal schaut er sich um. Sie ist hier, irgendwo. Frank kann es spüren. Wo bist du, kleine Lee? Sag es mir. Doch die einzige Antwort, die er erhält, ist das ist das monotone Prasseln des Regens im Unterholz.
***
Die Zeit scheint dahinzutropfen, und langsam wird er ungeduldig. Er will hier nicht die ganze Nacht verbringen stehen. Frank überlegt noch, ob er sie suchen soll, als der Hundeschädel mit einem dumpfen Laut vor ihm auf dem feuchten Waldboden aufprallt.
Franks Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, als Lee aus den Schatten tritt. Er mustert ihren Körper von oben bis unten. Wirklich verführerisch. Sie würde einen formidablen Sukkubus abgeben. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Viel interessanter ist, dass sie kaum eine Schramme abbekommen hat. Ein paar Wunden an den Schultern und den Armen, die sich schon fast komplett geschlossen haben. Sonst nichts. Faszinierend. Sie muss mit dem Vieh fertig geworden sein, als wäre es das Leichteste von der Welt gewesen.
‘Du hast gesiegt.'
Lee tritt gegen den Kopf, der zwischen ihnen auf dem Boden liegt.
'Sieht so aus. Und, wars das? Oder gibt es noch eine Zugabe?'
'Nein, für heute Nacht ist es genug. Ich hab gesehen, was ich sehen wollte.'
Frank geht zum Wagen, holt eine Sporttasche heraus und wirft sie ihr vor die Füße.
'Hier. Deine Sachen. Ich meld mich bei dir, wenn es wieder was zu tun gibt. Pass hübsch auf dich auf, Kätzchen!'
Mit diesen Worten dreht Frank sich um und steigt ohne ein weiteres Wort in seinen Wagen. Lee schaut ihm hinterher.
'Hey, wie komme -'
'Kannst dir ein Taxi nehmen. Aber nicht vom Fahrer naschen.'
'Das meinst du doch - '
Lee macht einen Schritt auf den Wagen zu, doch Frank gibt einfach Gas und verschwindet den holprigen Weg hinauf in der Dunkelheit. Langsam werden die Rücklichter kleiner und verschwinden schließlich ganz.
Lee schüttelt den Kopf. Was für ein Arschloch. Fluchend zieht sie sich an und macht sich auf den Weg zur Straße, während ein Augenpaar ihr aus der Dunkelheit hinterher schaut.