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Lampenlicht glänzte auf den schwarzen eisernen Schlingen und Ausbuchtungen von Angfals massigem Leib, der an der Wand ihres Arbeitszimmers hing. Winzige Glaslinsen, klein wie ein Daumenabdruck, brannten grün und gelb auf dem gesamten Gehäuse des Steuermanns wie ein Wald voller nicht zueinander passender Augen und beobachteten sie in der Düsternis. Die entfernt an eine Spinne erinnernde Ansammlung aus zusammengeklammerten Elementen und einer aufgeblähten Masse knapp unter der Decke in der Mitte der Mauer regte sich niemals – sie war mit kiriathischen Nieten befestigt –, erweckte jedoch beständig den Eindruck, gleich losspringen oder bloß ungeschickt auf sie herabfallen zu wollen. Es war etwas Waghalsiges, Chaotisches daran, wie die Ingenieure Angfal angebracht hatten, und das passte genau zu dem Chaos aus Papieren, Büchern und sonstigem Zeug, das überall im Arbeitszimmer verstreut war. Der Steuermann dominierte den Raum. Seine Stimme hätte überall aus dem missgestalteten Leib kommen können, oder auch aus jeder schattigen Ecke des Raums.
»Du wählst einen interessanten Zeitpunkt, mir von diesen Angelegenheiten zu berichten, Tochter des Flaradnam. Was genau hat dich so lange daran gehindert?«
Wie Manathan benutzte Angfal beim Sprechen Wendungen, die an einen freundlichen Irren im Gespräch mit einem Kind erinnerten, das er jeden Augenblick entweder mit einer Münze beschenken oder einfach töten und auffressen würde. Schwer, sehr viel Menschliches aus seinem Tonfall herauszuhören. Aber in Archeths langgeübtem Ohr klang der Steuermann wirklich zutiefst besorgt.
»Ich hatte zu tun«, erwiderte sie.
»Anscheinend.«
Sie wehrte sich dagegen, in die Defensive zu geraten. »Im Augenblick sind die Dinge … schwierig.«
»Da bin ich mir allerdings sicher. Krinzanz ist eine heimtückische Droge.«
»Davon spreche ich nicht! Ich bin bei Hofe gewesen …«
»Bemerkenswert an sich schon, ja. Gut gemacht. Dennoch, Tochter des Flaradnam, du hättest früher damit zu mir kommen sollen.«
»Ich habe einen eigenen Namen, weißt du.«
Selbst in ihren eigenen Ohren klang das kindisch-trotzig. Aber sie war fix und fertig, launisch und müde und hatte sich gerade von Ringil und dessen Gesellschaft am Fluss verabschiedet, voller Zweifel und ungerichteter Wut. Jetzt hockte sie hinter dem Schreibtisch, sah funkelnd zu Angfals undurchschaubaren, von Linsen übersäten Windungen hinauf und verfluchte die Sturheit, die sie daran hinderte, die Krinzanztinktur in ihrer Vorratskammer zu plündern. Das Verlangen nach der Droge nagte an ihren Nerven wie winzige Ratten.
»Bist du denn so scharf darauf, jegliche Verbindung zum Volk deines Vaters abzuwerfen?«
»Sie haben mich weggeworfen, oder?« Sie trat gereizt nach dem Bücherstapel auf der Ecke des Schreibtischs und verschaffte sich Platz für die Beine. Ein paar der Wälzer fielen zu Boden. »Wie viele verdammte Kiriath siehst du hier drin?«
»Ich sehe einen halben. Mit schlechtem Benehmen.«
»Ja, schon gut.« Sie untersuchte den rechten Daumennagel, den sie bis aufs Nagelbett heruntergekaut hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern. »Ich tu zumindest was. Wir können nicht alle weise auf der Mauer hocken, unseren ironischen Verstand schärfen und die Welt vor die Hunde gehen lassen. Oder?«
»Ich glaube, du hast gerade die Mission akzeptiert, die das Volk deines Vaters ihr Eigen nannte.«
»Und im Stich gelassen.«
»Trotzdem …«
»Verwende einfach meinen verdammten Namen, ja?« Sie sprang vom Stuhl auf, stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch und funkelte zu ihm hinauf. »Ist das zu viel verlangt? Um mehr bitte ich dich nicht, Angfal! Lass diesen ganzen Scheiß mit Tochter des einfach sein. Du meinst, dass mein Vater Flaradnam, der Weise, war, spielt bei allen gegenwärtigen und zukünftigen Ereignissen eine verdammte Rolle? Du meinst, ich möchte jedes verdammte Mal, wenn ich hier reinkomme, daran erinnert werden, dass, dass …«
Sie blinzelte rasch. Starrte auf ihre Hände hinab.
Nach einem Augenblick setzte sie sich wieder.
»Verwende einfach meinen Namen«, sagte sie ruhig. »In Ordnung?«
Es folgte eine lange Pause.
»Damit hättest du früher zu mir kommen sollen, Archeth Indamaninarmal.«
Sie hustete ein Gelächter heraus. »Ja, schon gut. Kapiert. Aber ich hatte gedacht, du hättest es gewusst. Hättest dich – ich weiß nicht – bei den gegenwärtigen Ereignissen auf dem Laufenden gehalten oder so. Manathan weiß anscheinend alles, was in An-Monal vor sich geht. Anasharal kann ein Gespräch in hundert Metern Entfernung mithören, meines Wissens nach sogar über Meilen hinweg.«
»Jetzt kann er dich nicht hören.«
»Nein?« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Ganz bestimmt nicht?«
»Ich habe dafür gesorgt, dass er es nicht kann.«
Ein winziges Tröpfeln in ihrer Magengrube. »Willst du damit sagen, dass ich Anasharal nicht vertrauen kann?«
Es folgte eine lange Pause, wozu Angfal eigentlich gar nicht neigte, wenn er in einem Gespräch die Oberhand hatte.
»Ich will damit sagen.« Die Antwort schien widerwillig zu kommen. »Dass er uns jetzt nicht hören kann.«
Blinzelnd setzte sich Archeth auf. Es war schwer, ganz sicher zu sein, aber sie glaubte, die Lichter in den Linsen hätten sich verändert, wären an einigen Stellen heller, an anderen dunkler geworden. Gelb wurde Grün wurde Gelb. Ihr Blick schoss hin und her beim Versuch, die Erinnerung daran zu bewahren, welche Linse zuvor wie ausgesehen hatte. So etwas hatte sie bisher noch nie erlebt, weder bei Angfal noch bei einem anderen Steuermann.
»Angfal?«
»Ja, To…« Diesmal war sie sich gewiss. Eine Reihe von Linsen in der Nähe der Basis des Spinnensacks war eindeutig dunkler geworden. »Ja, Archeth Indamaninarmal. Ich höre.«
»Was geht da vor, Angfal?«
»Die Welt dreht sich, der Sturm sammelt sich, dein Volk hat die Menschen nach besten Kräften davor geschützt. Du riefst uns an, und wir bauten – Zauber, um die Ewigkeit zu überbrücken, Zauber, die uns an dich ketten. Aber die Unsicherheit ist eingebaut.« Selbst für einen Steuermann war das allmählich ungewöhnlich rätselhaft. »Nichts lässt sich lösen, Archeth. Einander widersprechende Vermutungen sind unausweichlich, sind erforderlich.«
Sie setzte sich auf und stach mit einem Finger auf die spinnenartige Masse ein. »Warum redest du so? Warum hinderst du Anasharal daran, uns zuzuhören?«
»Einstmals kommandierte ich die Rosenknospe im Herbstfeuer, jetzt kommandiere ich dich.«
Sie blickte finster drein. »Den Teufel tust du.«
»Aber eine Mischlingsgöre in einen sicheren Hafen zu steuern, ist nicht dasselbe, wie ein Feuerschiff zu lenken.« Nur den Bruchteil einer Sekunde schien es, als wäre der wabernde Schrei in den Eingeweiden von Angfals Stimme nahe daran, hervorzubrechen. »Grashgal, ich bin für diese Aufgabe ungeeignet.«
»Willst du damit sagen, Anasharal sei eine Bedrohung?« Sie knallte einen Stiefel gegen den Schreibtisch. Bücherstapel gerieten ins Wanken. »Bei den Eiern des Propheten, Angfal, jetzt äußere dich doch mal sinnvoll!«
»Wir wurden an den Grenzen der Möglichkeit entzündet, wir wohnen immer noch dort. Wir sind um deinetwillen vom Zaum gelassen worden, nicht um unseretwillen. Welchen Sinn willst du von mir, Archeth Indamaninarmal? Du könntest ihn nicht begreifen, wenn ich ihn dir zeigte.«
»Na ja«, sie hob verzweifelt die Arme, »was dann? Blase ich die Expedition nach An-Kirilnar ab? So viel kannst du mir zumindest sagen. Gib mir etwas!«
»An-Kirilnar ist.«
Der Steuermann hielt abrupt inne, so abrupt, dass sie erst einige Augenblicke später begriff, dass keine weiteren Worte mehr kämen. Flackerndes, wechselndes Licht über die Linsen, vorhanden, verschwunden. Aber diesmal sah sie es ganz gewiss.
»Angfal?«
»Fahrten ins Ungewisse sind Ausflüchte, Archeth. Es sind erzählte Geschichten, Decken, die dich gegen eine Kälte schützen, die du nicht ertragen kannst.«
»Dann …« Wiederum warf sie die Hände in die Höhe. »Dann was? Wir fahren nicht?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Na ja, was hast du denn gerade gesagt? Deine Worte sind immer noch nicht sinnvoll, Angfal.« Angewidert stand sie jäh auf. Schnappte sich ihre Lampe. »Lass gut sein! Lass einfach gut sein, ja? Ich bin hergekommen, weil ich deine Hilfe brauchte, keine verdammten Rätsel. Ich habe Ringil gesagt, du würdest helfen. Und jetzt ist er …«
Sie schluckte. Angfal gab keine Erwiderung. Sie sah funkelnd zu der geschwollenen eisernen Knolle auf und machte dann auf dem Absatz kehrt.
»Ich hätte eine verdammte Brechstange mitbringen sollen«, fauchte sie.
Sie war auf halbem Weg zur Tür, als Angfals Stimme sie erreichte.
»Ein Mann geht von Punkt A nach Punkt B, Archeth Indamaninarmal. Die direkte Entfernung ist nicht groß, eine Sache von hundert Metern oder weniger. Aber wenn er beständig nach links und rechts abbiegt, kehrt er wiederholt auf dem eigenen Weg zurück, bevor er sich erneut seinem Ziel zuwendet. Er bleibt stehen, zögert mit dem Weitergehen bei mehr als einer Gelegenheit. Was beschreibe ich gerade, Archeth?«
Sie blieb stehen, das Gesicht zur Tür gerichtet.
»Ich weiß es nicht. Einen verdammten Irren, wie es klingt. Das ist kein …«
»Und wenn ich dir sage, dass der Mann das Feld von Tarkaman überquert?«
»Das Labyrinth?« Widerwillig sah sie sich zu der Masse des Steuermanns an der Wand um. »Er ist im Labyrinth von Sabal?«
»Ergibt die Vorgehensweise dieses Mannes jetzt mehr Sinn?«
»Ja – und wenn du mir von Anfang an gesagt hättest, dass es um das Labyrinth geht, wäre es hilfreich gewesen.«
»Nicht alle Labyrinthe sind leicht zu erkennen, Archeth. Nicht alle Beschränkungen sind für den Beobachter erkennbar.«
Wiederum dieses flaue Gefühl im Magen. Sie ließ sich auf einer geeigneten Truhe nieder. Stellte die Lampe vorsichtig auf den Boden an eine Stelle, die nicht mit Büchern oder Papyrusrollen übersät war.
Schweigen. Die Linsen leuchteten ihr entgegen.
»Na ja, wer – was beschränkt dich?« Kopfschüttelnd. »Nein, schon gut. Muss eine Sackgasse sein.«
Glitzern von Linsen. Waberndes Lampenlicht auf schwarzem Eisen.
»Wenn du Anasharal daran hinderst, diesem Gespräch zuzuhören, dann befindet ihr beide euch in einem Konflikt.« Langsam suchte sie sich ihren Weg zum Sinn des Ganzen. »Aber Manathan hat mich dort hinausgeschickt, um Anasharal zu holen. Befindest du dich also auch im Konflikt mit Manathan?«
»Manathan handelt im besten Interesse der kiriathischen Mission« , erwiderte Angfal, als gäbe er nur widerwillig Auskunft. »Immer. Er hätte dich nicht woandershin geschickt.«
»Und du?«
Die Linsen durchfuhr ein Flackern, gelb zu grün und wieder zurück. »Grashgal hat mich instruiert, über dich zu wachen, Archeth Indamaninarmal. Wie du wohl weißt. Dir beizustehen, so gut ich kann.«
»Selbst wenn das im Widerspruch zur viel gerühmten kiriathischen Mission steht?«
»Das ist nie der Fall gewesen. Man ging davon aus, dass das auch nie vorkäme.«
»Und jetzt doch?«
»Das muss sich noch zeigen. Die hinterlassenen Anweisungen waren notgedrungen zwiespältig. Nichts lässt sich lösen, widersprüchliche Vermutungen sind erforderlich. Meine Anweisungen hinsichtlich deiner Sicherheit sind jedoch eindeutig. Grashgal hat mir die Aufgabe in feststehenden Ausdrücken erteilt.«
Archeth überlegte. Suchte nach den unsichtbaren Formen in den labyrinthischen Mustern der Rede des Steuermanns, als betastete sie eine Steinmetzarbeit in der Dunkelheit. Sie konnte das Detail nicht erkennen, wusste bloß von seinem Vorhandensein.
»Warnst du mich davor, nach An-Kirilnar zu gehen?«, fragte sie.
»Nein.« Widerstrebend. »Du wirst dort ebenso sicher sein wie hier in Yhelteth.«
Überrascht schaute sie auf. »Soll ich mich jetzt besser fühlen?«
»Es soll dir helfen, eine Entscheidung zu treffen.«
Eine Erinnerung rutschte an ihren Platz, wie eine Klinge, die in ihre Scheide zurückglitt. Sie zupfte vorsichtig daran. Drehte sie herum wie ein halb vertrautes Kunstwerk, das sie aus dem Schutt und der Asche der Kiriath hervorgeholt hatte.
»Anasharal sagt …« Sie räusperte sich. »Dass etwas Dunkles auf dem Weg sei.«
»Ja«, stimmte der Steuermann zu. »Oder vielleicht bereits hier ist.«
Später ruhte sie, gestützt auf ihre Kissen, in ihrem Bett, ohne Krinzanz im Blut, und die Sorgen und Mühen des Tages lagen auf ihr wie der gesättigte Leib einer Geliebten. Die Lampe an ihrem Bett warf flackernde Schatten ins Zimmer, genau wie die im Arbeitszimmer, während Angfal gesprochen hatte – es war, als hätte sie die Schatten selbst mit sich ins Bett genommen. Mit leerem Blick sah sie auf die Bewegungen, aber sie brachte nicht die Kraft auf, das Licht zu löschen und einzuschlafen.
Keine Lösung mithilfe des Steuermanns. Angfal wollte ihr die Expedition nach An-Kirilnar nicht empfehlen, wollte ihr jedoch auch nicht davon abraten. Sie wälzte das Gespräch in ihren Gedanken herum, horchte auf Hinweise, versuchte herauszubekommen, worin die Beschränkungen des Steuermanns bestehen mochten, denen er angeblich unterlag. Sinnlos. Beim Verlassen des Arbeitszimmers war sie nicht schlauer als beim Eintritt gewesen, bloß wesentlich aufgewühlter. Und dazu kam jetzt noch dieses vage Gefühl von Schutzlosigkeit, vom Rückzug behütender Mächte, eines Schilds, auf den sie sich stets verlassen hatte und der jetzt nicht mehr vorhanden war.
Es war ein wenig wie das Gefühl an jenem Tag, als Ringil ihr die Nachricht vom Tod ihres Vaters überbracht hatte.
Inzwischen saß Egar im Gefängnis, verwundet und entehrt, und ihm drohte die Hinrichtung. Ringil war da draußen in der Dunkelheit, in der nächsten Runde, falls man dem Drachentöter Glauben schenken durfte, gegen eben jene blau flackernden Feinde, denen sie sich in Beksanara gegenüber gesehen hatten.
Sie lag hier, im kuscheligen Bett.
Es war so falsch, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte.
Aber Jhiral hatte ihr verboten, Ringil zu begleiten.
Du bist kein Attentäter, hatte er ihr freundlich gesagt, obwohl du ja in letzter Zeit dein Bestes gegeben hast, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Ich brauche dich hier, für weniger grobschlächtige Zwecke.
Sie rutschte mit dem Kopf auf eine kühlere Stelle des Kissens. Dennoch blöd. Ihre Haut und ihre Augen hätten sie verraten, sobald sie sich den Mauern der Zitadelle auch nur auf eine Meile genähert hätte. Sie hätte sich eingehüllt wie eine Ehefrau aus Demlarashan in den Kampf werfen müssen, und was hätte das für einen Nutzen gehabt, verdammt? Und obwohl sie sich wie alle anderen Kiriath auf dem Feld dem schuppigen Volk gestellt hatte, obwohl sie von Kindesbeinen an gelernt hatte, Kriegerin zu sein, obwohl sie im vergangenen Jahr einen Hüter im hellen, kalt lodernden Zorn ermordet hatte – so war sie sich immer noch nicht sicher, was sie in Ringils Augen hatte brennen sehen. Sie glaubte nicht, einem schlafenden Mann die Kehle durchschneiden zu können.
Jemand klopfte an die Tür.
»Ja«, krächzte sie, die Kehle wie zugeschnürt vom Herumliegen in der Stille. Sie machte einen halbherzigen Versuch, sich zu erheben, und gab es auf. »Ich bin wach, Kef. Komm rein!«
Die Tür öffnete sich. Es war nicht Kefanin.
Ishgrim stand da, in einem schlichten, cremefarbenen Nachthemd, das ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichte und die schlanken bloßen Beine zeigte. Herabfallendes langes Haar und eine Kerze von derselben Farbe zwischen ihren schlanken Fingern. Im Schein der Flamme wirkte ihr Gesicht wie eine Halbmaske aus Schatten und Licht. Licht tröpfelte das Nachthemd herab …
Archeth schob sich auf die Kissen hoch.
… und die Brustwarzen zeichneten sich dunkel unter dem Gewebe ab und zogen Archeths Blick zu den großen, unverdorbenen Brüsten, die sich durch den Stoff drückten. Sie hatte sich die Lippen mit irgendetwas rot gefärbt, sie …
»Ishgrim.« Sie hörte jetzt, dass sie es gesagt hatte, wie eine Forderung, wie Durst. Sie schluckte schwer. »Ishgrim, ich war der Ansicht, wir wären uns einig gewesen, dass …«
»Der Steuermann hat mich geschickt«, sagte das Mädchen eilig. »Der Steuermann hat gesagt, Ihr braucht mich.«
Archeth runzelte die Stirn. »Angfal hat das gesagt?«
»Nein, Mylady. Der andere, der neue. Er hat aus der Luft zu mir gesprochen.«
Verfluchter Anasharal! Wenn ich nicht eine Brechstange zu dir mitnehme, bevor die Woche zu Ende ist …
Ishgrim trat weiter ins Zimmer, näher ans Bett heran. Archeth setzte sich auf.
»Ishgrim, hör mal, ich …« Sie wollte gerade aus dem Bett steigen, da fiel ihr ein, dass sie nackt war, und sie hielt mitten in der Bewegung inne, den Saum der Bettdecke anzuheben. Das Mädchen – das Sklavenmädchen, Archidi – blieb vier Fuß vor dem Bett stehen. Das Baumwollgewebe bewegte sich an ihr, der Saum schaukelte, streifte über ihre Oberschenkel. Archeth fing den Duft nach Bad und Kräutern ein, und darunter …
Das Lampenlicht ließ das dunkle Dreieck unten an ihrem Bauch schimmern, versteckt hinter der Baumwolle, aber …
Die Erinnerung flammte auf, schmiedehell und warm – an das erste Mal, als sie Ishgrim gesehen hatte, im geheimen Besprechungsraum letztes Jahr, nackt vom Hals an abwärts, nur ein formeller Haremsschleier hatte Gesicht und Haar bedeckt. Ihren Duft an Jhirals Fingern.
Was meinst du? Sie ist neu. Was hältst du von ihr? Soll ich sie in dein Schlafzimmer schicken, wenn ich mit ihr fertig bin?
Alles hatte dort zur Schau gestanden, ein weiterer von Jhirals sorgfältig durchdachten Beweisen für seine Macht, und jetzt entdeckte sie, dass sie immer noch jede Rundung und Wölbung in- und auswendig kannte.
Sie erinnerte sich daran, ein paar Tage später Ishgrim in ihrem Bett vorgefunden zu haben. Jhiral, getreu seinem imperialen Wort, hatte seinen Besitz weitergereicht.
Mir wurde geheißen, Euch zu dienen, Mylady. Auf jede Weise, wie es Euch gefällt.
Ihr eigener blöder Wille, der die Zähne zusammengebissen hatte, während sie dagestanden und diese ganze hellhäutige Schönheit angestarrt hatte, die ihr dargeboten wurde. Und sie hatte trocken gesagt:
Ich werde zweifelsohne eine Tätigkeit in meinem Haushalt für dich finden, aber im Augenblick fällt mir nichts weiter ein.
Die Macht des Krinzanz. Sie erkannte sie jetzt als solche, weil sie diese Stärke hier und jetzt nicht mehr aufbrachte. Jetzt schmolz sie dahin wie die Kerze in Ishgrims Fingern.
Sie ist eine Sklavin, Archeth.
Neun Monate Krinzanz-Stärke und eiserner Wille. Drei Jahreszeiten verdrängten Verlangens und Ishgrim die ganze verfluchte Zeit über im Haus. Ishgrim, deren Wunden sich langsam schlossen, sodass das schüchterne, verängstigte Mädchen, das sie einmal gewesen war, zu einem Menschen erblühte, den man hin und wieder lachen hören konnte, der sich das Haar aus dem Gesicht zurückschob, der einen Blick zu Archeth hinüber wagte und …
Sie war aus dem Bett, bevor sie völlig begriffen hätte, was sie tat. Eine zitternde flache Hand, wenige Zoll von Ishgrims Gesicht entfernt. Ihr brach die Stimme.
»Ishgrim …«
Das Mädchen sah mit geneigtem Kopf zu ihr auf. »Ja, Mylady.«
Und Archeths Hand ging stattdessen zu der Kerze, drückte die Flamme zwischen dem schwieligen Zeigefinger und Daumen aus. Die rechte Gesichtsseite des Mädchens versank ebenso wie die linke im Schatten. Sie lächelte, und die letzten rostigen Schlösser fielen von Archeths Selbstbeherrschung ab. Sie packte Ishgrim an beiden Schultern und schwang sie herum, drückte sie hinab aufs Bett und setzte sich breitbeinig über sie. Sie beugte sich herab und küsste sie, teilte ihre Lippen und fand ihre Zunge, saugte sanft daran, während sich das Pochen in ihrer Brust aufbaute und ihre Hand nach einer der versprochenen Brüste griff.
Ishgrim gab einen leisen, wahnsinnig machenden Laut von sich.
Sie ist eine Skl…
Zitternd zog Archeth sich zurück. Starrte hinab in das Gesicht des Mädchens, atmete schwer. Spürte das Pulsieren in ihrem Geschlecht, das sich fest gegen den Bauch des Mädchens presste.
»Sag’s mir«, sagte sie.
»Ich, Mylady …?«
»Sag mir, dass du das nicht möchtest. Sag’s mir! Jetzt, wo du es noch kannst. Sag’s mir, und ich höre auf.«
Ishgrim streckte zögernd eine Hand aus und legte sie ihr auf die Wange. »Ihr seid meine Erretterin gewesen, Mylady. Ich kann Euch nichts verweigern. Ich würde Euch nichts verweigern.«
Archeth bleckte die Zähne. »Das ist keine …«
Ishgrim hob die andere Hand. Nahm Archeths Gesicht zwischen die Handflächen. Aus dem kleinen Mädchen wurde etwas anderes, plötzlich. Ihre Lippen öffneten sich. Archeth spürte, wie sie die Beine spreizte, spürte, wie sich ein langer trelaynischer Schenkel fest an sie drückte und sie von hinten rieb.
»Dann ja«, sagte sie, auf einmal mit starkem trelaynischen Akzent. »Ja, ja. Fickt mich! Fickt mich!«
Sie richtete sich auf dem Bett auf, so rasch, dass sie fast mit der Stirn Archeths Nasenspitze gestreift hätte. Überrascht wich Archeth zurück. Das Mädchen hatte die Arme hochgerissen und kämpfte darum, sich aus dem Nachthemd zu befreien. Archeth beeilte sich, ihr zu helfen, zog und zerrte ihr das dünne Gewebe über den Kopf. Ishgrim wand sich ungeduldig, befreite den Stoff unter ihren Beinen. Jetzt war das Gewand herunter, die schweren Brüste schwangen kurz in die Höhe und dann wieder herab, und bei dem Anblick stockte Archeth der Atem. Dann tauchte Ishgrims Gesicht wieder auf, rosig von der Anstrengung, das Haar zerzaust. An einem Arm verfing sich das Hemd am Gelenk, und beide mussten lachen, als sie den Grund verstanden – sie hielt nach wie vor die Kerze, hatte vergessen, sie loszulassen.
Sie ließ sie los und befreite die Hand. Wiederum ergriff sie Archeths Gesicht mit beiden Händen, drückte ihr einen Kuss auf den Mund und legte sich auf die Ellbogen zurück.
»Ja«, wiederholte sie, inzwischen schwer atmend. »Ja. Tut mit mir, was Ihr wollt! Zeigt mir, was Ihr wollt!«
Archeth fiel über sie her wie eine einstürzende brennende Holzfassade.
Fleisch an Fleisch, und die Hitze dieses Gefühls nach einer so, so langen Zeit der Entbehrung, und Heranziehen, Saugen, Küsse, dieses ganze bleiche Fleisch hinab, es bearbeiten, die Hände damit füllen, es besitzen und dann, schließlich, strichen ihre Finger über die Nahtstelle von Ishgrims Schenkel, während sie das Mädchen mit dem anderen Arm umfing und ihr aus wenigen Zoll Abstand in die Augen sah. Das eigene Verlangen zurückhalten, benommen daran hängen, es nähren mit den geteilten Lippen des Mädchens und seinen halb geschlossenen Augen und dem Stöhnen, das zu heftigem Keuchen schmolz, als sie zu reiben begann, der verzweifelt angespannte Griff ihrer Hand um Archeths Handgelenk, ihre Finger tiefer ziehend, drängender daran zerrend, aufschreiend, während sie sich hin und her drehte und versteifte und schluchzend kam.
Archeth spürte, wie sie selbst vor Verlangen zerfloss.
»Jetzt ich.« Sie sagte es drängend, immer und immer wieder. »Jetzt ich!«
Und sie neigte sich vornüber in den begierigen Mund des Mädchens, ihrer Zunge zu.
Hinterher lagen sie eng zusammen, verschwitzt und in duftenden Laken, murmelten einander Liebkosungen ins Ohr und wie es sich angefühlt hatte, nachdem sie die Kerzen genommen und Ishgrim gezeigt hatte, wie sie diese bei ihr benutzen sollte, nachdem Ishgrim schüchtern um denselben Gefallen gebeten hatte, nach all dem lag Archeth mit dem Mädchen zusammen, das sich an sie geschmiegt hatte und in ihrer Armbeuge schlief, und starrte durch das Zimmer zu den bebenden Schatten der Lampe.
Schweiß tropfte ihr von den Haarwurzeln herab. Der Schlaf wollte sie nicht überkommen. Sie blickte auf das schlafende Gesicht des Mädchens hinab und begriff auf einmal, dass sie jetzt etwas Neues verlieren könnte. Dass sie sich keine weiteren Fehler mehr leisten könnte, dass sie es sich nicht mehr leisten könnte, ihre Überlegenheit zu verlieren.
Ein Unbehagen rührte sich, schlich in ihrem Kopf herum. Alle flüchtigen Ausreden, in die sie sich gehüllt hatte, flogen davon, getränkt in den Erinnerungen an ihr Gespräch mit Angfal.
Anasharal sagt, etwas Dunkles ist unterwegs.
Ja. Oder vielleicht bereits hier.