8
Eine Stunde nach Anbruch der Morgendämmerung machten sie die Leinen von den eisernen Kais los – aus militärischer Sicht ein recht gemütlicher Start, aber Archeth wollte so viel Licht am Himmel wie möglich, um die Männer nicht zu verstören. Sie stand an der Steuerbordreling und sah zu, wie die Schwert der göttlichen Gerechtigkeit hinaus auf die wirbelnden Wasser des Flusses trieb, in der Strömung allmählich drehte und dann bebend stockte, als sich die Riemen an ihren Flanken ins Wasser gruben. Die Trommel dröhnte unter Deck, das Pochen ihres Pulses drang durch die Planken unter Archeths Füßen, und der Rufer begann seinen Singsang:
Was machst du mit dem Kopf vom alten Luden?
– Hau ihn endlich ab! Hau ihn endlich
ab!
Dann hol dir seine allerbeste Hure!
– Bring sie auf Trab! Bring sie auf
Trab!
Was machst du mit dem Geld vom alten Luden?
– Wirf’s zum Fenster raus! Wirf’s zum Fenster
raus!
Dann hol dir …
Und so weiter.
Sie ließ sich von den Versen überschwemmen, ein schwaches Lächeln des Wiedererkennens auf den Lippen, und dann rannen die Worte auf ihrer eigenen Vertrautheit davon. Keine schlechte Wahl – die Brutalität und Angeberei dieses Landgangliedes mochten dazu beitragen, dass sich die Nerven einiger Männern beruhigten, die beim Schlafengehen so einiges von Zauberei und Dämonen gebrummelt hatten.
Und die sich beim Aufwachen nicht viel besser fühlten.
Zum Schlag der Trommel schlich die Fregatte im Schneckentempo flussaufwärts, und der Himmel im Südosten war tief gerötet vom Glanz eines Sonnenaufgangs, der hinter dem langen Bergrücken von An-Monal verborgen war. Archeth lehnte sich an die Reling, beschattete die Augen gegen das Licht und starrte auf den fernen Rauch.
Er hatte sich seit Tagesanbruch nicht verändert – die einzelne dünne Säule eines aufsteigenden Dunkelgraus, wie die Bleistiftskizze eines Handwerkers auf der heller werdenden blauen Kachel des Himmels. Archeth war am frühen Morgen von den Rufen der Männer erwacht, die sie entdeckt hatten. Helleres Licht von Osten vor ihrem Kabinenfenster und aufgeregte, hin und her gehende Rufe, die sich zu einem kleinen Sturm von Debatten und beunruhigten Flüchen aufbauten, bis Senger Hald die Gangway herabkam und die Männer anbrüllte, sie sollten ruhig sein.
Wenn er selbst Befürchtungen hegte, so verbarg er sie gut. Aufgaben wurden neu verteilt, das Lager entlang des Kais wurde abgebaut, die Fregatte fürs Ablegen beladen. Zwar gingen die Seemänner effizient an ihre Arbeit, aber Archeth hörte ihre Worte, während sie brummelnd auf dem Kai unterhalb ihrer Kabine auf und ab gingen. Zumeist waren es fromme Männer, auf ihre eigene rohe Art und Weise, und die gegenwärtigen Ereignisse passten nur allzu gut zu einigen der schrecklicheren Prophezeiungen in den Kapiteln der Offenbarung, die vom letzten Kampf für das Göttliche handelten. Dämonenfeuer bei Nacht, und jetzt brannte etwas im Osten. Zieh deine eigenen Schlüsse!
Die Sonne glitt über den Hang des Vulkans wie eine weißglühende Münze, löste sich vom Horizont und machte sich an ihren Aufstieg. Gähnend überlegte Archeth, dass sie vielleicht noch etwas Kaffee benötigte. Sie hatte in ihrer Gästekabine nicht gut geschlafen. Hatte sich die ganze Nacht hin und her gewälzt, hatte geträumt, war wieder erwacht, hatte erneut geträumt, als pflügte die Fregatte durch schwere See. Ein weiteres Vergnügen, das du der Abstinenz vom Krinzanz zu verdanken hast! Sie erinnerte sich nicht an die Details der Träume, nur dass ihr Vater darin umhergestreift, es ihm nicht gut gegangen war und er sie beständig vor etwas gewarnt hatte. Doch sie war nicht erfahren genug gewesen, Gestalt und Natur der Warnung zu erfassen.
Du musst es versuchen. Sie erinnerte sich an die Worte, mit denen er sie angefleht hatte. Du musst es immer wieder versuchen.
Große, plumpe Hände, weit auseinander auf den Tisch gestützt, dazu die harten Augen, die im Halbdunkel glitzerten, und ein leises Stöhnen draußen vor dem Fenster, ein Schmerzenslaut oder das Geräusch einer kiriathischen Maschine, die sie nicht verstand, oder beides.
Wenn du es jetzt nicht versuchst, wer dann? Wer bleibt dann, Archidi?
Und dann wusste sie, mit der jähen Gewissheit des Traums, dass er tot war, dass sie als Nächste an der Reihe war, und das dünne Stöhnen konnte nur näherkommen, sich gegen das Glas drücken, hereinspähen, und sie war …
Wach. Als wäre ein Zweig unter den Füßen zerbrochen.
Starrte über die Kabine hinweg in das leere Düster.
Und so ging es weiter, wieder und immer wieder, während die Nacht sich langsam an ihren unermüdlich mahlenden Gedanken abarbeitete. Bis die Dämmerung wie eine bleiche, halbherzige Erlösung durch das Fenster hereinsickerte und ihr vorübergehend ein Ziel schenkte.
Ein zweiter Gähnanfall überkam sie. Sie blinzelte im Sonnenlicht, folgte den Signalen ihres Körpers und ging hinab in die Kombüse. Auf dem Rückweg, die Hände um den warmen Keramikbecher gelegt, begegnete sie Hanesh Galat.
»Einen guten Morgen, Mylady.«
»Ja.« Sie war bereits an ihm vorbei und befand sich auf der Kajütenleiter nach oben. Versuchte, ihn zu überhören, als er ihr etwas nachrief.
»Darf ich, ähm, mit Euch kommen?«
Sie stieß einen unbestimmten Laut aus, den er anscheinend als Zustimmung auffasste. Er folgte ihr zur Reling und lehnte sich in diplomatischem Abstand rechts neben ihr dagegen.
»Ein wunderschöner Morgen«, begann er ungeschickt.
Sie starrte auf das sich kräuselnde Wasser hinab, orange-golden gefärbt, auf die glitzernden Strudel, welche die Ruder hervorriefen. Krinzanz, Krinzanz – meine Seele für eine Viertelunze. Sie beherrschte sich und blieb schlicht höflich. »Vermutlich.«
»Na ja, äh …« Galat zögerte, wodurch er merkwürdig knabenhaft wirkte. »Seht Ihr, ich stamme aus dem Norden, ursprünglich. Vanbyr, ziemlich in der Nähe. Da oben haben wir nicht so viel Glück mit der Sonne.«
Oder mit allem anderen in letzter Zeit. Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, es laut auszusprechen.
Aber Szenen der Schlächterei beim Aufstand in Vanbyr marschierten durch ihren Kopf wie eine Kolonne höhnisch grinsender Trolle. Schreie und Rauch, die armseligen brennenden Hütten auf dem Land, die hustenden, bettelnden Gestalten, von Piken zurück ins Innere gestoßen, wenn sie stolpernd versuchten, herauszukommen. Abgeschlagene Köpfe wie Fußbälle durch die gepflasterten Straßen der Stadt getreten, Kinder aus den Fenstern der oberen Stockwerke geworfen, und Soldaten, die sich einen Sport daraus machten, sie mit ihren Schwertern aufzuspießen, während die Mütter weinten und heulten und vergewaltigt wurden, womit die imperialen Soldaten üblicherweise ihre Freizeit verbrachten.
Es war ein Befehl des Imperators, und er wurde buchstabengetreu ausgeführt. Akal der Große wollte ein Exempel statuieren, eine Lektion erteilen, was passierte, wenn eine Reichsprovinz an der Grenze nach Unabhängigkeit strebte. Und alle, die in Vanbyr dabei gewesen waren, sagten übereinstimmend, dass die Lektion mit magistraler Gewalt erteilt worden war – obwohl die Einzelheiten natürlich geschönt wurden, damit die Empfindlichkeiten des Hofs nicht litten. Akal selbst – alternd und zunehmend gebrechlich, weil die Verwundungen, die er im Krieg erlitten hatte, letztlich doch ihren Tribut forderten –, konnte nicht mehr mit seiner Armee nach Vanbyr reiten, deshalb bekam er nicht mit, auf welche Art und Weise sich seine Streitkräfte mit Ruhm bedeckten.
Archeth, als höfische Beobachterin des Unternehmens, hatte eine nur allzu grimmige Freude darüber verspürt, diese Wissenslücke zu füllen und ihrem kränklichen Imperator in aller Genauigkeit und allen Einzelheiten Bericht zu erstatten, während er auf seinem Krankenbett lag, etwas von Notwendigkeit brummelte und ihrem Blick auswich.
Nachdem Jhiral die Thronfolge angetreten hatte und das Gemurmel bei Hofe gegen ihn losging, war sie selbst von der zerstörerischen Flut der Verachtung überrascht, die sie diesen Nörglern und ihrer offenbar selektiven Erinnerung an den Vater gegenüber empfand.
Und sie war fast froh darüber gewesen, als Jhiral mit den Repressalien begonnen hatte.
Fast.
»Ihr seid noch in Eurer Jugend in die Hauptstadt gekommen?« , fragte sie Galat aus dem Bedürfnis heraus, die Erinnerungen zu verjagen.
»Vor der Erhebung, ja.« Vielleicht hatte er den Schatten gesehen, der ihr übers Gesicht geglitten war. Er räusperte sich. »Ich bin mit neun für die Meisterschaft auserwählt worden. Für meine Familie war das eine große Ehre.«
»Kann ich mir denken.«
»Ja. Der Dienst an den Mitmenschen kann viele Formen annehmen, aber diejenigen, die der Offenbarung dienen, sind über alle Maßen privilegiert.«
Archeth hörte mit unbewegtem Gesicht zu. »Gewiss, gewiss.«
»Aber trotz alledem glaube ich, dass es meinem Vater besser gefallen hätte, dass es ihm sogar lieber gewesen wäre, wenn ich ein Offizierspatent erlangt hätte. Wir sind traditionell eine Militär-Familie.«
»Dann muss Euer Vater begeistert von der neuesten Richtung der Lehren der Meisterschaft sein. Jeder getreue Anhänger soll sich dann als Krieger für die gerechte Sache erachten und nicht bloß das Wort der Offenbarung tragen, sondern auch ihr heiliges Schwert.«
Erneut räusperte sich Hanesh Galat. »Tatsächlich gibt es einige Debatten über die eigentliche Bedeutung des letzten Bildes.«
»Pashla Menkarak zufolge allerdings nicht.«
Eine weitere verlegene Pause, die dieses Mal lange genug währte, dass Archeth sich umsah, ob Galat noch da war. Er blickte verlegen beiseite.
»Erz-Hüter Menkarak ist, ähm, ein sehr gelehrter Mann. Ein glänzender Gelehrter der Offenbarung und ein gründlicher Interpret der Lehre. Ein großartiger Schreiber, einer der besten der Oberherrschaft. Aber gewiss wird er seine Ansicht als die eines Sterblichen und somit nicht über jeden Zweifel erhaben betrachten.«
»Ihr seid ihm begegnet?«
»Äh, persönlich nicht, nein.«
»Hatte ich mir gedacht.«
Ein Schweigen senkte sich zwischen die beiden, und sie glaubte, dass er sich nun verdrücken würde. Aber so viel Glück hatte sie nicht. Er knetete die Reling mit den Händen und wackelte hin und her, als wäre er daran angeleint. Sie spürte, wie er die Worte in seinem Mund arrangierte, verwarf und erneut auswählte. Wäre sie besser gelaunt gewesen, hätte sie ihm vielleicht geholfen.
Aber sie war nicht besser gelaunt.
»Diese, ähm, Enttäuschung über die gegenwärtigen Repräsentanten der Offenbarung«, versuchte er es schließlich, »kommt für mich nicht von ungefähr.«
»Nein?«
»Nein. Ich weiß sehr wohl, dass Eure direkten Interaktionen mit der Zitadelle vor Kurzem nicht, sagen wir, erfreulich verlaufen sind. Das hat man mir … deutlich zu verstehen gegeben.«
Archeths letzte unmittelbare Interaktion mit einem Repräsentanten der Zitadelle hatte unter anderem darin bestanden, dass sie ihm am helllichten Tag auf einer öffentlichen Straße die Kehle aufgeschlitzt hatte. Sie hielt ein Auge auf das vorüberstreichende Flussufer gerichtet und sagte gleichmütig:
»Ihr könnt Euch sehr diplomatisch ausdrücken, Hüter Galat.«
»Ja, äh, vielen Dank.« Er wollte sie nicht direkt ansehen. Aber er fasste anscheinend etwas Mut, als er errötete. »Wir sind nicht alle immer im Einklang mit Erz-Hüter Menkarak, Mylady. Wir sind nicht alle voller Hass. Das solltet Ihr vielleicht bedenken.«
Und dann ließ er sie, zu ihrer Überraschung, tatsächlich allein.
Kurz vor Mittag pflügte die Schwert der göttlichen Gerechtigkeit in eine schlammige Untiefe, die nicht auf den Karten verzeichnet war, und steckte fest.
Es geschah ohne Vorwarnung – lediglich der jähe Ruck und dann ein Beben und Ächzen im Rumpf, wie ein monströser Esel, der gerade Prügel bekommen hatte. Das Deck vollführte einen heftigen Satz und neigte sich. Archeth geriet bei dem Aufprall ins Stolpern und wäre auf dem Hintern über Bord gegangen, wenn Senger Hald sie nicht mit der Hand an der Schulter festgehalten hätte. Ein paar der jüngeren Matrosen, die in der Nähe standen, gingen tatsächlich unter dem Gejohle und zur allgemeinen Heiterkeit ihrer Mitstreiter über Bord. Irgendwo unten protestierten die eingepferchten Pferde. Und vom Galeerendeck ertönten die Schreie und das Stöhnen der Ruderer. Sie waren erfahrene Flussleute und wussten, was das Geräusch zu bedeuten hatte.
Der Ausrufer überschrie sie alle: »Zurückrudern! Rudert zurück! Eins! Zwei! Strengt mal eure verdammten Muskeln an, ihr Schlappschwänze !«
Archeth und Hald eilten über das schräg stehende Deck zur Reling und spähten hinüber. In dem schlammigen, braunen, brodelnden Wasser war nichts zu erkennen, aber es war klar, dass die Ruderer trotz der Ermahnungen des Rufers auf verlorenem Posten standen.
»Macht schon! Meine kleine Schwester rudert kräftiger als ihr Ärsche! Zurückrudern – was ihr nur könnt! Eins! Zwei!«
Die Ruder gruben sich ein. Das Wasser kochte. Die Beschimpfungen des Ausrufers wurden heftiger. Das ging noch einige Minuten so weiter, dann hörten sie Lal Nyanar im Ausguck am Bug rufen, sie sollten aufhören. Einen Moment später kam er mit finsterem Blick an Deck.
»Wir stecken fest«, berichtete er überflüssigerweise. »Müssen Leute an Land setzen, die sollen uns mit Tauen rausziehen. Die einzige gute Nachricht ist, dass wir nicht weit von unserem Ziel entfernt sind. Das ist eine Flussschleife – Ihr habt geeigneten Strandkies genau uns gegenüber am anderen Ufer.«
Hald zuckte mit den Schultern. »Dann gehen wir’s von hier aus an, vermute ich mal.«
Er und Nyanar teilten die Männer auf. Die überwiegende Anzahl blieb beim Schiff und sollte bei den Leinen helfen. Die verbliebene Abteilung ließ drei Landungsboote zu Wasser, holte die Ausrüstung und Halds und Archeths Pferde durch die Luke auf Deck und ruderte dann hinüber zur Landungsstelle. Es gab ein paar kritische Augenblicke, als ein riesiges Wüstenkrokodil weiter stromaufwärts ins Wasser platschte und wie ein Scheit neugierig hinter den Booten herschwamm. Senger Hald teilte Männer ein, die sich mit gespannten und geladenen Arbalesten ins Heck jedes Boots stellten, befahl anderen, die Pferde zu beruhigen, und verdoppelte dann still die Schlagfrequenz der Ruderer. Zunächst schien das Krokodil unentschlossen, ob es ihnen ans Ufer folgen sollte oder nicht, aber schließlich zeigte es ihnen seinen gelb-schwarz gepanzerten Schwanz und machte sich stromabwärts davon, auf der Suche nach leichterer Beute.
Man konnte deutlich hören, wie in den Booten der fest angehaltene Atem aus sämtlichen Kehlen ausgestoßen wurde, als die Kreatur davonschwamm.
»Verdammte Dinger«, brummelte einer der jüngeren Seemänner.
Sein Gefährte am gegenüberliegenden Ruder war älter, Schläfen und Bartstoppel waren bereits ergraut. Er grunzte und zeigte beim Ruderschlag die Zähne.
»Kannst dich glücklich schätzen, mein Sohn. Das ist eine blöde Echse, die du da vor dir hast. Einige von uns waren dabei, als die intelligenten vorbeigeschaut haben.«
Und er begegnete Archeths Blick, als er sich wieder ins Ruder legte.
Sie erinnerte sich nicht an sein Gesicht aus dem Krieg. Vielleicht hatte sie in den Angriffsreihen in seiner Nähe gestanden, vielleicht auch nicht. Es waren Tausende von Gesichtern gewesen, und die meisten waren jetzt dahin. Wahrscheinlich war sie nur ein Symbol – die pechschwarzen kiriathischen Züge, die Augen; Erinnerungen an eine inzwischen vergangene Zeit, als Männer und Frauen wie sie in der Stunde der größten Not der Menschheit an der Spitze aller Armeen gestanden hatten, die Yhelteth ins Feld geworfen hatte.
»Ganch«, sagte jemand weiter hinten im Boot, »warum hörst du nicht einfach mit deinen blöden Kriegsgeschichten auf, hm?«
Allgemeines Gelächter. Ganch selbst stimmte darin ein.
Sie landeten ohne weiteren Zwischenfall, und die Männer grinsten einander mit flauem Gefühl im Magen an, sprangen über Bord ins knietiefe Wasser und zogen die Boote ans Ufer. Es gab eine etwas überlaute Fröhlichkeit, ein bisschen Klamauk, der sich verflüchtigte, als Senger Hald sie zusammenrief und die Männer für die Erkundungsgruppe auswählte, alles in allem zwanzig. Er skizzierte kurz, worauf es ankam, und befahl den verbliebenen Männern, bei den Booten das Lager aufzuschlagen. Dann schwang er sich neben Archeth in den Sattel und warf ihr einen zweifelnden Blick zu.
»Also los, Mylady – bringen wir’s hinter uns.«
Sie ritten durch die stille Wüstenluft auf die Rauchsäule zu. Uralte, aufgebrochene Lavaströme in einer verlassenen, abfallenden Landschaft, keine Erlösung von der Sonne, so weit das Auge reichte. Anfangs gab es etwas niedriges Buschwerk, aber nachdem sie den Fluss hinter sich gelassen hatten und An-Monals Ausläufer erstiegen, dünnte sogar dieses Gebüsch aus. Der Vulkan ragte hinter ihnen drohend in den Himmel wie ein lebendes, beobachtendes Wesen. Keine weitere Konversation mehr mit Hald, tatsächlich sogar kein Geräusch außer den Hufen der Pferde, dem Klirren der eisernen Harnische und dem Knirschen der Schritte von den Männern hinter ihnen.
Etwa eine Stunde später entdeckten sie den Baum. Es war eine Calderaeiche, heimisch an den Flanken des An-Monal und gewöhnlich ein majestätischer, willkommener Anblick in einem Gelände, das so karg und schattenlos war wie dieses.
Etwas hatte die hier völlig verbrannt.
Senger Hald zog die Zügel und hob die Hand. Das Geräusch marschierender Stiefel erstarb. Sie kamen neben dem geschwärzten Skelett der Eiche zum Stehen. Es gab nicht viel zu sehen – das Blattwerk des Baums war verschwunden, aber von den verkohlten Ästen stieg noch immer Rauch in den blauen Kristallhimmel auf. Archeth lenkte ihr Pferd mit der Hacke herum, beugte sich hinüber und wischte mit einer Hand über den verkohlten Stamm des Baums. Sie zog die Finger schwarz und dick verschmiert mit Asche zurück.
Gebrummel seitens der Männer in den Reihen hinter ihr. Sie musterte die Asche an ihren Finger und hörte zu, ohne es sich anmerken zu lassen.
»Diese Bäume können nicht brennen, verdammt!«
»Ja, was du nicht sagst! Holz brennt. Jedes Holz, früher oder später.«
»Nein, er hat recht, Trath. Mein Alter ist in den Lavafeldern nördlich von Oronak groß geworden. Er hat immer gesagt, dass du zehn Liter Lampenöl über einen von den Bäumen auskippten könntest und bloß die Zweige ansengen würdest.«
»Ja? Wie ist das hier passiert? Ich meine, du siehst es doch selbst, nicht wahr?«
»Ich seh’s, ja. Gefällt mir nicht.«
»Oh, und was hast du erwartet? Du hast den Monal, der finster von da hinten auf uns runterguckt, du hast ’ne schwarz verbrannte Führerin. Du meinst, wir …«
»Halt dein verdammtes Maul, Mann! Der Kapo kommt, der hört dich.«
Sie hörte nicht weiter zu, ließ die Worte an sich abgleiten wie Blätter auf der Oberfläche eines Flusses. Aber sie wusste, dass ihre Augen auf sie gerichtet waren – sie spürte die raschen, verstohlenen Blicke wie Nadelstiche auf Hals und Schultern. Und obwohl der Kommandant von hinten herankam und brüllte, sie sollten Ruhe in den Reihen geben, wusste sie, dass heute Nacht im Lager die Geschichten, die unablässigen Erzählungen, im Feuerschein hin und her gehen würden, Mythen über den Vulkan und das Vulkanvolk, und von einem Onkel, der einmal, nein, hör mal zu, damals, als er noch jung war, die Kiriath …
Und so weiter.
»Habt Ihr das erwartet?«, fragte Hald sie leise.
Sie schüttelte den Kopf. »So etwas nicht, nein.«
Das unausgesprochene Wort hing in der Luft zwischen ihnen.
Drache.
Es war kein Drache.
Es war eigentlich kaum etwas von irgendwas.
Hinter dem ersten Baum standen andere, ähnlich eingeäscherte Bäume, die weiter zu einer zentralen Rauchsäule führten und dann, jäh, zu einer breiten, flachen Senke, ausgeschaufelt aus dem schrägen Grund von An-Monals gewaltiger Flanke. Hier waren die einzigen verbliebenen Bäume zu hohen, gezackten Stümpfen verkohlt, die an Pfähle erinnerten und in merkwürdigen Winkeln dastanden. Am oberen Rand des Kessels war die rötliche Wüste selbst von der Hitze schwarz geworden, und weiter hinab, zur Mitte hin, wich die Schwärze einer glasigen bleichen Substanz, die in der Sonne in allen Regenbogenfarben glänzte.
Die Rauchsäule stieg unbeirrt von einem zusammengeknüllten Haufen am Grund der Schüssel auf. Es war das letzte i-Tüpfelchen, das den Ort unheimlich wie die kleine Kopie eines Vulkankraters aussehen ließ.
Archeth stieg ab, stand da und starrte hinab.
Wir sind den ganzen Weg hergekommen, für … das?
In der flimmernden Hitze zitterte das Objekt und wirkte auf diese Entfernung unbestimmt, aber in ihren Augen ähnelte es nichts so sehr wie den schlackenartigen Auswüchsen, welche die schwarzen eisernen Maschinen der kiriathischen Brauereien südlich von Monal manchmal erzeugten.
Manathan, wenn das ein Witz der Steuermänner sein soll, dann werde ich deine verdammten Innereien mit einem Schlosserhammer bearbeiten!
Falls du sie finden kannst.
»Lasst Euer Pferd zurück«, sagte sie müde. »Es wird sowieso nicht auf diesem Zeug laufen können. Und sagt den Männern, sie müssen vorsichtig sein – es wird da unten glatt sein wie der Felsen eines Wasserfalls.«
Senger Hald schwang sich von seinem Reittier und trat zu ihr. Er beschattete sich die Augen und spähte hinab in den Krater. »Genauso wie die kiriathischen Wälle in Khangset und Hanliahg, nicht wahr?«
»Vermutlich ja. Kiriathische Gussformen benötigen bei der Herstellung viel Hitze, und ich würde sagen, letzte Nacht hat es hier auch eine gewaltige Hitze gegeben.«
Sie wartete, während Hald dem Kommandanten seine Befehle erteilte, und blickte mit zusammengekniffenen Augen in den Hitzeschleier und den Regenbogenglanz des Glases. In Khangset hatte sie gesehen, wie die Sklaven der Reptilien versucht hatten, die Verteidigungsanlagen zu ersteigen, die die Ingenieure ihres Vaters dort errichtet hatten; sie hatte gesehen, dass sie höchstens zwei oder drei Meter weit gekommen waren, bevor sie den Halt verloren hatten und um sich schlagend und knurrend in das Meer unter ihnen zurückgerutscht waren, ohnmächtig mit den Klauen kratzend.
Während sie in die Senke hinabstarrte, überlegte sie, ob das da auch eine Art Verteidigungsanlage war.
»Hast du die Absicht, den ganzen Tag da oben zu verbringen und hinabzuschauen, Tochter des Flaradnam?«
Einen langen Augenblick des Schocks dachte sie, die Stimme spräche allein zu ihr. Sie hatte das Gefühl, jemand flüstere ihr etwas ins Ohr, wie bei Manathan, wenn er sie im Bergfried von An-Monal ansprach. Aber dann sah sie, wie sich Senger Hald versteifte, sah, wie die Seeleute sich mit den Händen auf den Schwertgriffen umschauten, und sie verstand, dass die Luft rings umher von der vollen, ironischen und etwas merkwürdigen Stimme erfüllt war.
»Ja – du, mit dir spreche ich.« Sein Tonfall war höher als Manathans, fast weiblich, und der Hauch von Unvernunft und Sprunghaftigkeit augenscheinlicher. »Mit dir und dieser Schar von Einheimischen, die du mitgebracht hast. Könntest du vielleicht in Erwägung ziehen, dass es sich um eine dringliche Angelegenheit handelt? Manathan hat darauf beharrt, du könntest gut mit Krisen umgehen, aber ich muss sagen, dass er offenbar übertrieben hat.«
Hald war an ihrer Seite, die bärtigen Züge angespannt und wachsam. »Mylady?«
»Schon in Ordnung.« Archeth hob eine Hand zum Zeichen dafür, dass sie ruhig war, was nicht im Geringsten zutraf.
»Es kennt Euren Namen, Mylady.«
»Oh, allerdings«, sagte die Stimme ätzend. »Es kennt auch deinen Namen, Senger Hald. Und die Namen aller deiner Männer, außer dem großen mit den Duellnarben, der aus irgendeinem Grund einen Tarnnamen benutzt und sich tatsächlich nicht mehr daran erinnern kann, wie er einstmals hieß. Ich würde mich an deiner Stelle mal darum kümmern – es erscheint unangemessen für eine erstklassige imperiale Einheit.«
Archeth sah zu den Männern zurück. Alle umklammerten Amulette oder machten Zeichen. Einige trugen Duellnarben, daher war es unmöglich zu entscheiden, welchen Mann sich die Stimme herausgepickt hatte, aber misstrauische Blicke gingen hin und her. Jemand musste dem ein Ende setzen, rasch. Sie räusperte sich und hob leicht das Kinn, weil sie nicht in eine unbestimmte Richtung sprechen wollte.
»Du bist der Botschafter, den Manathan versprochen hat?«
»Nein, ich bin eine zufällige dämonische Stimme in der Wildnis. « Unten aus dem Krater ertönte ein lautes Krach. »Natürlich bin ich der Botschafter, Tochter des Flaradnam. Siehst du den Rauch nicht? Wärest du jetzt bitte so freundlich und würdest hier herabkommen und eine Transportmöglichkeit zurück nach Yhelteth für mich organisieren? Es ist wirklich eine Sache von einiger Dringlichkeit.«
Und in dem Hitzeschleier inmitten des Kraters eine jähe Bewegung.