16

Bei ihrer Rückkehr exekutierte seine imperiale Lichtgestalt Jhiral Khimran II. gerade Verräter im geheimen Besprechungsraum.

Archeth hätte Anasharal sowieso zum Palast hinaufgebracht. Sie kannte den Imperator seit dessen Kindheit, hatte seinen Aufstieg auf den Thron verfolgt – offensichtlich mit weniger Illusionen als der Rest des Hofs, weil sie anscheinend als Einzige nicht über die darauf folgenden Säuberungsmaßnahmen entsetzt war –, und sie wusste, dass er den Steuermann zu sehen wünschte, sobald er von ihm gehört hätte.

Vielleicht setzte er sogar die Exekutionen aus.

Also schritt sie ohne jegliche Begeisterung durch die marmorverkleideten Gänge im Salakflügel des Palastes. Ging tiefer und tiefer hinein und auf die Schreie zu, während das Verlangen nach Krinzanz wie ein Messer an ihren Nerven kratzte. Die glänzenden Bauten mit den glatten Wänden schlängelten sich in üppiger Blässe dahin. Es herrschten gedämpfte Jade- und Bernsteintöne vor, die jedoch an einigen Stellen mit kräftigem Kupfer oder Schwarz geädert und hin und wieder mit Beutestücken durchsetzt waren – Kunstwerke und Skulpturen aus allen Ecken und Enden des Reichs, in Nischen gestopft oder an Wände genagelt, die dafür eigentlich nicht geeignet waren.

Und das Geschrei und das Flehen um Gnade hallte von dem polierten Stein wider, jagte einander die Flure hinab, lauerte auf sie, wenn sie um eine Ecke bog, wie die Geister der Toten, irgendwie gefangen im Marmorherz des Imperiums, das sie bezwungen hatte.

 

Die salakischen Steinmetze und Architekten, die Erbauer des geheimen Besprechungsraums, hatten angeblich Selbstmord begangen, nachdem sie erfahren hatten, was mit ihrer Arbeit geschehen war. Damals war Archeth ein Kind gewesen und würde es daher nie genau erfahren. Als sie größer wurde, hatte sie jedoch eine etwas pragmatischere Wahrheit hinter der Geschichte vermutet: dass seine imperiale Lichtgestalt Sabal Khimran I. die Handwerker hatte ermorden lassen, damit sie mit absoluter Sicherheit nie verrieten, was sie über die verschiedenen architektonischen Tricks und Geheimnisse wussten, die sie so liebevoll erschaffen hatten.

Das wäre ihm bestimmt zuzutrauen, diesem alten Scheißer mit dem bösartigen Blick!

Sabal der Eroberer war der erste der Khimrans gewesen, der die Bezeichnung ›Imperator‹ wirklich verdient hatte. Er war gestorben, bevor sie ein Teenager geworden war, und hatte draußen an den Grenzen der östlichen Wüste die eine oder andere Rebellion niedergeschlagen. Aber sie erinnerte sich immer noch daran, wie er sie als kleines Kind hochgehoben hatte, erinnerte sich an den geheimnistuerischen Ausdruck auf seinem Falkengesicht, als wäre sie eine unglaublich kostbare Vase und er überlegte, sie auf dem Fußboden zu zerschmettern; ein rascher und brutaler Streich, wenn niemand hinschaute.

Viele Jahre später hatte sie ihren Vater danach gefragt, als die Trauer um den Tod ihrer Mutter die Erinnerung an die Oberfläche geholt hatte. Aber Flaradnam war selbst tief in seinen Kummer versunken gewesen und wollte über bittere einsilbige Äußerungen hinaus nicht über Sabal reden. Er hätte es nicht gewagt, war alles, was sie aus ihm herausholen konnte. Er brauchte uns – damals brauchten sie uns alle –, wie sie es jetzt immer noch tun. Die ganze verdammte Dynastie stützt sich auf uns wie auf eine Krücke. Und Sabal wusste, ich hätte ihm das beschissene Herz aus dem Leib gerissen, wenn er dir ein Härchen gekrümmt hätte.

Flaradnam überlebte seine Trauer und schob sie schließlich beiseite – oder lernte zumindest, sie für längere Zeit unbeachtet zu lassen –, aber sie sprachen nie mehr so richtig über Sabal. Die frühen Exzesse des Reichs waren in seinen Gedanken anscheinend unausweichlich mit Nataras Tod verbunden, und er umschiffte sie im Gespräch, sobald die Rede darauf kam. Und dann musste man auch noch die ganze verdammte Dynastie im Auge behalten – Archeth war alt genug, jetzt zum Rat der Kapitäne zugelassen zu werden, ihre eigene Rolle in der untergründigen Lenkung der yheltethischen Angelegenheiten zu spielen. Darin sahen die Kiriath ihre Aufgabe oder ein Mittel zu einem Zweck oder vielleicht bloß ein Hobby. Es war, wie ihr Vater wiederholt sagte, wichtige Arbeit zu erledigen.

Also vergiss Sabal den Eroberer, weil sein Sohn jetzt auf dem Thron saß – Jhiral I., ein scheuer, sanfter Junge, mit dem Archeth aufgewachsen war. Sie hatten zusammen Fangen in den Gärten und Fluren von An-Monal und dem Palast in Yhelteth gespielt, und die Nachfolge war noch weit entfernt davon gewesen, gesichert zu sein. Flaradnam und Grashgal verbrachten einen ziemlich großen Teil der nächsten paar Jahrzehnte damit, Thronräuber niederzuwerfen, Grenzen und Gesetze zu sichern und das frisch errichtete Reich zu etwas zurechtzuhämmern und zu schmieden, das an ein dauerhaftes Werkzeug der Politik für die Region erinnerte.

Und auf Jhiral folgte Sabal II., offenbar eine solide Wiedergeburt der Brutalität, Gewitztheit und militärischen Fähigkeiten seines Großvaters. In An-Monal stießen sie alle einen gemeinsamen Seufzer der Erleichterung aus und traten zurück, damit er Platz für sein Schwert hatte.

Und dann Akal der Große, bisher vielleicht der Beste von allen.

Und jetzt Jhiral II. Mit ihm musste sie allein zurechtkommen, Pech gehabt. Manchmal fragte sie sich – so auch jetzt –, warum sie so verdammt in Sorge war.

Aber man lässt ungern von alten Gewohnheiten.

Sie vollendete eine letzte Biegung in den milchigen, geäderten Steinkorridoren – das Gekreisch traf sie voll ins Gesicht, und sie gab sich alle Mühe, nicht zurückzuzucken – und trat unter der schweren Marmorhaube des Eingangsbogens hindurch und hinaus auf die Ehrenspitze.

Die Exekutionsgesellschaft nahm ihre Ankunft nicht sogleich zur Kenntnis – aller Aufmerksamkeit war nach innen auf das Tagesgeschäft gerichtet, und bei dem Lärm, den die Verdammten machten, hätte sie auch in voller Rüstung auf einem Kriegspferd einreiten können und wäre immer noch unbemerkt geblieben. Alles in allem zählte sie etwa zwanzig Männer – Henker und Lehrlinge in dem düsteren Grau und Pflaumenblau ihrer Gilde, ein paar Richter in Roben, die darauf zu achten hatten, dass die Strafe vollzogen wurde, und dann eine Anzahl Adeliger mit starken Mägen, die das Gefühl hatten, sich gerade jetzt einschmeicheln und etwas imperiale Gunst erlangen zu müssen.

Der geheime Besprechungsraum.

Unter anderen Umständen war es ein strahlender, wunderschöner Raum. Die Ehrenspitze war eine von drei stumpfen Marmorvorsprüngen – Ehre, Opfer, Mut, die Trinität des alten yheltethischen Reiterstammes –, die sich in regelmäßigen Abständen von der ansonsten kreisrunden Mauer um einen abgeschlossenen Zierteich von fünfzig Metern Durchmesser ins Wasser erstreckten. Sonnenlicht fiel durch die geschickt abgewinkelten Lüftungsschächte in der hohen Deckenkuppel, und der Marmor sprühte und funkelte, wo die Strahlen direkt darauf trafen. Anderswo warf die Spiegelung vom Wasser gewellte Muster aus Licht und Schatten an die Wände. Ein Zeltfloß aus seltenen Hölzern und Seide war gewöhnlich in der Mitte des Teichs verankert, ein privater Rückzugsort für den Imperator, den man nur in einem gestakten Boot erreichen konnte, weil man es gewiss nicht überlebt hätte, hinüberzuschwimmen.

Aber das Floß war gegenwärtig fest an der Opferspitze vertäut, sehr weit weg. Na ja, du würdest ungern Blutspritzer auf diese Seide bekommen. Dauert ewig, bis man die Flecken wieder rauskriegt. Und vier der verurteilten Verräter – drei Männer und eine Frau – trieben bereits auf ihren Exekutionsbrettern in sicherer Entfernung von der Opferspitze, und sie trieben noch weiter weg.

Archeth bemühte sich, den Blick von ihrem Schicksal fernzuhalten.

Sie konzentrierte sich auf Jhirals Rücken, das kostbare imperiale Ocker und Schwarz seines Umhangs inmitten der versammelten Palette von matten Farben der Kleidung der Henker. Sie unterdrückte einen Schauder und schwor sich, sie würde nie mehr versuchen, das Krin auf kalte Weise zu entziehen.

»Mylord.«

Hoffnungslos – das Geschrei übertönte sie. Der fünfte Mann trat und schlug wild um sich, als sie ihn zu den Hand- und Fußfesseln des letzten verbliebenen Bretts zerrten. Mit einer jähen Eiseskälte, die ihr durch die Adern fuhr, glaubte sie, ihn zu erkennen. Obwohl sie sich wegen der Male, die Peitsche und heißes Eisen hinterlassen hatten, und dem vor Entsetzen verzerrten Gesicht nicht völlig gewiss sein konnte.

Sie räusperte sich – etwas schien ihr in der Kehle zu kleben – und versuchte es erneut, lauter.

»Mylord!«

Er wandte sich um. Der schwere Seidenumhang streifte raschelnd über den Marmorboden, die hübschen Züge waren leicht umwölkt und die Stirn gefurcht wie bei einem Mann, der mit seiner Buchführung kämpfte, der er nicht so recht etwas abgewinnen konnte. Seine Stimme trug mühelos. Er war an so etwas gewöhnt.

»Ah, Archeth, da bist du ja. Es hieß, du seist auf dem Weg. Aber ich bin gerade im Augenblick etwas beschäftigt, wie du siehst.«

»Ja, Sire. Das sehe ich.«

Das letzte Exekutionsbrett war ein altes, graues Holzbrett, aufgequollen und zersplittert vom wiederholten Untertauchen, die Schraubplatten für die Fesseln gefleckt mit orangefarbenem Rost. Das Brett, dachte sie nicht zum ersten Mal, sah aus wie ein großzügig aus einem riesigen Schimmelkäse herausgeschnittenes Stück. Breit am oberen Ende, damit der Kopf des Opfers ein paar Fuß über der Wasseroberfläche blieb, und zum unteren Ende hin schmaler werdend, sodass die gefolterten, gefesselten Füße untergetaucht wären und sich langsame Ranken aus Blut ins Wasser winden konnten.

Die Teichbewohner waren schlau – Mahmal Shanta schwor, er hätte sie einmal dabei beobachtet, wie sie junge Heuler von den Stränden bei Hanliagh ins Wasser gelockt hätten –, und sie kannten den Laut der Unterwassergongs, die in den Teich abgesenkt wurden, gut genug, um zu wissen, dass eine Exekution bevorstünde. Sie hatten sich an diesem Morgen durch die Unterwasserschächte an der Basis des Raums hereingequetscht und seitdem unter der Oberfläche gewartet.

Wenn das erste Brett aufs Wasser traf, wären sie ausgehungert.

Und dann konnte Archeth den perversen Drang nicht länger unterdrücken, konnte nicht weiterhin wegsehen. Ihr Blick glitt hinaus aufs Wasser zu den vier Brettern, die bereits mit ihrer schrecklichen, schreienden, rot-schlüpfrigen, sich windenden Fracht dort trieben.

In der Wildnis hätte ein schwarzer Oktopus aus Hanliagh seine Tentakel um ein Opfer von dieser Größe geschlungen und es in die Tiefe hinabgezogen, wo es ertrinken würde und wo er leicht damit fertig werden könnte. Da das auf und nieder wippende Holz und die Fesseln dieses vereitelten, umschwärmten die Kreaturen die Bretter und rissen mit wilder Heftigkeit an den gefesselten Leibern, saugten an ihnen und bissen sie ungeschickt mit ihren Schnäbeln. So erbeuteten sie große Streifen Haut zusammen mit kleineren und größeren Brocken Fleisch, bis schließlich die Knochen blank lagen. Blutgefäße zerrissen – bei ein paar wenigen Glücklichen tödlich. Und hin und wieder erstickte ein Opfer durch das Gewicht von Tentakeln oder Leibern auf dem Gesicht. Aber für die meisten war es ein langer, langsamer Tod durch planloses Schinden und Flensen. Keine der Kreaturen war größer als ein höfischer Jagdhund, sonst hätten sie sich nicht durch die Schächte der Kammer quetschen können, und selbst ihre vereinten Bemühungen reichten selten aus, der Sache ein gnädiges Ende zu bereiten.

Jhiral beobachtete sie.

Sie zwang sich, den Blick nicht abzuwenden – von der Blutgischt, von den Tentakeln, die wie dicke schwarze Peitschen auf und nieder zuckten, von den weichen, purpur-schwarzen Gestalten, die an Holz und Fleisch hingen oder darüber hinwegkrochen. Ihr Blick blieb an einem wilden, weit aufgerissenen menschlichen Auge und einem kreischenden Mund haften, kurz überdeckt von einem dicken, kriechenden Tentakel, dann wieder entblößt, und kreischend, kreischend, kreischend.

Sie wandte sich ab und begegnete Jhirals Blick. Nahm die dazu nötige entspannte innere Haltung an. Langsam, Archidi, langsam. Hielt seinen Blick, hielt den Moment wie eine Messerklinge, locker zum Wurf. Ein Kämpfertrick – lenke die Geräusche weg zum Rand deiner Aufmerksamkeit, wie den Schmerz geringfügigerer Verletzungen, wenn du dich in der Schlacht zusammenreißen musst.

Jhiral winkte ungeduldig.

»Also?«

»Wir haben einen neuen Steuermann gefunden, Mylord. Er spricht von Bedrohungen für die Stadt, für das Reich.«

»Einen neuen Steuermann?« Jhirals Brauen schossen nach oben. »Einen neuen?«

»Genau, Mylord.«

Jhiral warf einen Blick auf den letzten verurteilten Mann, auf die verzweifelten Anstrengungen, die er unternahm, sich seinen Peinigern zu entziehen, als es ihnen schließlich gelang, ihn auf das Brett zu drücken. Der Imperator schien etwas zu überlegen. Dann sah er wieder zu ihr hin.

»Archeth – du würdest doch keinesfalls den Versuch unternehmen, die Bestrafung deines alten Kumpel Sanagh abzuwenden, oder?«

Aha.

Das blutige, schreiende Gesicht – die Erinnerung sprang an ihren Platz wie ein brutal eingerenktes Schultergelenk. Bentan Sanagh. Sie hatten ihm das Haar in den Kerkern abgehackt, natürlich, und er war vom Leiden hager geworden. Und überhaupt, Kumpel traf es nicht so ganz – sie kannte Sanagh bloß flüchtig durch Mahmal Shanta und die Gilde der Schiffsbauer. Ein Idealist mit großem Maul, auf seine Weise ziemlich brillant, was ihn wahrscheinlich während Akals Regentschaft am Leben erhalten hatte, aber ihm hatte stets Shantas Instinkt für den Selbstschutz gefehlt. Archeth hatte ihn ziemlich gemocht, sich auf einem oder zwei Banketten ein paar Mal mit ihm unterhalten. Aber sie hatte ihn schon lange für verdammt gehalten und entsprechend Distanz gewahrt.

»Weil der Prophet weiß«, fuhr Jhiral mit einem Seufzer langen Leidens fort, »dass seine gute Frau an alle Adligen bei Hofe, die er je bestochen hat, geschrieben und versucht hat, seine Bestrafung umzuwandeln. Wir alle stecken bis über beide Ohren in tränendurchweichten Pergamenten. Ich könnte mir vorstellen, dass du auch irgendwo auf der Liste stehst.«

Stand sie nicht. Vielleicht war aufgefallen, dass sie gewöhnlich Abstand hielt. Bringt nichts, sich auf Menschen einzulassen, hatte ihr Vater bitter, betrunken, eines Nachts zu ihr gesagt, wenige Monate nach dem Tod ihrer Mutter, sie sterben dir bloß unter der Hand weg. Oder es lag vielleicht an ihrer schwarzen Haut und ihren Augen und der vulkanischen Abstammung.

Oder der Brief ist dir vielleicht nur entgangen, Archidi. Vielleicht hast du mal wieder unter Krinzanz gestanden oder draußen in An-Monal gebrütet oder dich in der Wüste versteckt.

»Ich habe nichts von Bentan Sanaghs Verurteilung gewusst, Mylord«, sagte sie gleichmütig.

»Nein?« Jhiral starrte sie fast wehmütig an, dachte sie. »Nein?«

»Nein, Mylord.«

Kreischen. Kreischen. Abrupt verdrehte der Imperator aller Lande die Augen.

»Oh, schneidet ihm einfach die verdammte Kehle durch!«, fauchte er.

Die Henker erstarrten. Wechselten Blicke. Einer von Sanaghs Armen kam fast frei.

»Mylord …?«, wagte einer der Tapferen zu fragen.

»Ihr habt mich gehört. Vergeudet meine Zeit nicht länger damit, dass ihr ihn festnagelt und treiben lasst. Schlitzt ihm einfach die Kehle auf. Ich werde Zeuge sein, und wir können alle verschwinden und etwas weniger … Geräuschvolles unternehmen.«

Weitere Blicke. Hilfloses Achselzucken. Sanagh war gleichfalls erstarrt, vor dem Hintergrund seiner schreienden Mitverurteilten in Schweigen verfallen. Schwer zu sagen, welcher Ausdruck ihm im Gesicht stand.

»Nun? Mach schon!«

»Jawohl, Mylord!« Der oberste Henker ging in Habtachtstellung. Er zog seine Gnadenklinge, trat heran und kniete neben Sanaghs Kopf nieder, während die anderen Arme und Beine auf dem Brett festhielten. Archeth erhaschte einen letzten Blick auf das blutverschmierte Gesicht, die unergründlichen Augen und dann versperrte der massige Arm des Henkers ihr den Blick. Sie bekam nicht mit, wie die Klinge Sanaghs Fleisch aufschlitzte. Aber ein Schwall Blut schoss über das graue Holz und spritzte fast bis auf den von Kupferadern durchzogenen Marmor zu ihren Füßen.

Jhiral sah sich unter der versammelten Gesellschaft um und nickte.

»Gut. Gut gemacht.« Draußen auf dem Wasser ging das Geschrei weiter, prallte wie wahnsinnig von den Marmorwänden zurück, erfüllte die Luft, suchte die Ohren heim wie Schwärme stechender Insekten. Jhiral musste seine Stimme nach wie vor erheben. »Das war’s dann – wir können gehen. Vielen Dank an alle, Ihr seid entlassen. Khernshal, jemand soll die Schweinerei hier säubern, ja?«

Der angesprochene Höfling verneigte sich gravitätisch. Jhiral wandte sich bereits ab. »Also gut, Archeth. Gehen wir und werfen wir mal einen Blick auf deinen Steuermann, ja?«

»Ja, Mylord. Vielen Dank.«

»Oh, nicht der Rede wert«, sagte der Imperator aller Lande mürrisch. »Das Vergnügen ist ganz meinerseits.«

Das Gebrüll folgte ihnen hinaus.

 

Auf Archeths Anweisung hin hatten sie Anasharal in die Gärten der Königin gebracht. Dabei handelte es sich um eine Erweiterung der oberen Ebenen des Palastes, die nicht viel in Gebrauch gewesen war, seitdem Akals geliebte dritte Frau vor elf Jahren im Kindsbett gestorben war – ein ruhiger, weitgehend vergessener Platz, staubige Kolonnaden und Palmen, die der Wind rüttelte, hier und da eine gespenstisch weiße Statue im Salakstil. Die inneren Bereiche vermittelten ein Gefühl von Schatten und Geheimnis, wie längst verlassene Ruinen, als wären sie überhaupt nicht Teil der Architektur. Die Pfade durch das Grün waren ungefegt, übersät mit herabgefallenen Blättern, und die größeren Bäume darüber warfen einen Flickenteppich aus Schatten. Ein guter Ort für heimliche Treffen. Niemand kam hierher, falls es nicht unbedingt sein musste – es hieß, in gewissen Nächten streife der verschleierte Geist der Königin immer noch mit ihrer Totgeburt in den Armen, eingehüllt in Gaze und blutig, durch die Gärten.

Aber auf der anderen Seite öffneten sich diese Gärten zu einem Bereich mit sonnigem weißen Steinpflaster und Balustraden, geschmückt mit rosafarbenen Kriechpflanzen. Es gab breite Granitbänke, weitere Statuen und einen langen Balkon mit Aussicht. Von hier aus hatte man einen Blick über die Stadt nach Westen und die breiten Wasser der Flussmündung, auf denen die Sonne glitzerte.

Den Steuermann hatten sie auf eine zentrale Bank unterhalb der Balustrade des mittleren Balkons gesetzt. Eine Schwadron vom Ewigen Thron stand unsicher daneben Wache. Sie versteiften sich, sobald sie sahen, wer da kam. Ihr Kommandant trat vor.

»Mylord, ich …«

»Entspanne dich, Rakan, es sind nur wir. Nicht nötig, so zeremoniell dazustehen.«

»Jawohl, Mylord.« Noyal Rankan, überaus angespannt dieser Tage, wie es Archeth erscheinen wollte, trug seine kürzlich erfolgte Beförderung zum Rang seines Bruders wie einen Helm und eine Uniform, die etwas zu groß geraten waren. Hin und wieder tat ihr der Junge leid. Er war noch nicht lange seinen Jugendjahren entwachsen, und seine Trauer war immer noch frisch und knabenhaft. Aber er hatte die vergangenen sieben Jahre in der Leibwache des Imperators gedient, und die Gebräuche des Regiments beim Ewigen Thron waren klar und eindeutig und ließen sich direkt zur Familientradition der Reiterstämme zurückverfolgen.

»Das ist also unser neuer metallener Freund, hm?« Jhiral umkreiste den Steuermann und musterte ihn neugierig von der Seite. »Sieht nicht nach sehr viel aus, muss ich sagen.«

»Verachte nicht den Bettler, ergraut und verkrüppelt an der Ecke«, zitierte Anarshal scharf. »Denn wer kann sagen, welchen Haushalt oder welche Königreiche er einstmals sein eigen nannte. Das Leben ist ein langer Traum, dessen Ende wir nicht erkennen können, und er ist vielleicht bloß eine Vorwarnung, eine glückliche Vorwarnung, die du beachten solltest.«

»Oh, die Schrift kennt er auch.« Ein imperiales Achselzucken. »Aber das tun anscheinend alle, nicht wahr? Na ja, Steuermann – man hat mir gesagt, du hast eine Warnung für mich?«

»Sie ist nicht für dich persönlich, Jhiral Khimran. Sie gilt deinem Volk.«

Ein langes Schweigen. Rankan und die anderen vom ewigen Thron sahen betont anderswohin. Archeth verbiss sich ein heranschleichendes Grinsen.

»Dann werde ich sie gewiss weitergeben«, sagte Jhiral mit einer jähen Spur von Gereiztheit in der Stimme. »Vielleicht würdest du dich jetzt bequemen, mir die Einzelheiten mitzuteilen?«

»Und Warnung ist auch nicht ganz das richtige Wort. Du siehst darin besser eine taktische Gelegenheit. Die Chance, deinem Gegner einen Schritt voraus zu sein.«

»Sprichst du von der Liga?«

»Nein, spreche ich nicht. Ich spreche von etwas, das deine Grenzstreitigkeiten mit der Liga wie das erbärmliche Gezänk von Schuljungen aussehen lässt, das sie immer schon waren. Ich spreche von einer Dunkelheit aus der Legende, einem Sturm im Entstehen, einem lange begrabenen Albtraum, der wieder erwacht. Ich spreche vom Ende deines Reichs, Jhiral Khimran.

Also setzt du dich besser hin und hörst mir zu.«