22
Die Sklavenquartiere waren bewacht.
Harath sank mit einem Fluch durch die zusammengebissenen Zähne in die Deckung zurück. Vier Treppenfluchten unter dem Absatz, auf dem sie kauerten, sah er eine hohe Flügeltür wie diejenige, durch die sie die Galerie betreten hatten. Eine schwere Kette war durch die Griffe gezogen, und drei stämmige Gestalten saßen auf niedrigen Hockern in einem Kreis davor. Ein paar Laternen standen daneben und warfen lange, unruhige Schatten über den Boden. Leises Gemurmel auf Majakisch, gelegentliche Explosionen gutmütiger Flüche – die drei Männer spielten Würfel im Staub. Drei Stablanzen lehnten achtlos an der Seite der Tür, dünne, knochige Schatten, die im Laternenschein schräg über die Wand fielen.
»Das ist neu«, flüsterte Harath. »Die Mühe haben sie sich sonst nie gegeben.«
»Was passiert wohl, wenn deine angeheuerten Helfer die Ware beschädigen?«, zischte Egar zurück.
Harath grinste dämlich, und Egar hätte ihm am liebsten erwürgt. In ihm stieg ein dünner, rastloser Ärger auf. Wegen dieses Ishlinak-Pöbels würde er es letztlich tun müssen. Wieder einmal majakisches Blut an den Händen, und das aus keinem besseren Grund als …
Als was, Drachentöter? Als bloß aus dir selbst geborener Neugier heraus? Als müßigem Erkunden der Bollwerke des Feindes im Dienste Archeths, die sowieso nicht in der Stadt ist?
Oder – oh, warte mal – ist es vielleicht dieser Hunger, den du mit Ishgrim nicht stillen kannst, und der Gedanke, dass eine andere gertenschlanke naomische Sklavin vielleicht so dankbar wäre, wenn du …
Er drängte diese Überlegungen gereizt beiseite. Der rastlose Ärger schlug höhere Wellen in ihm und suchte nach einem Ausweg.
Verdammter Pöbel.
In seinen Tagen hätte kein Majak, der für die Bewachung von Sklaven Geld genommen hatte, davon geträumt, die Waren anzurühren oder …
Das stimmt, Drachentöter. Und Brüder hielten stets zusammen, der Büffel kam, wenn er gerufen wurde, das Gras wuchs höher und grüner und es hat nie geregnet, verdammt.
Reiß dich zusammen, Alter!
Er unterdrückte die brütende Stimmung mit einer Grimasse. Zog eines seiner Messer. Kauerte sich hin und horchte auf die Stimmen, die durch die düstere Luft herauftrieben. Das Näseln des ishlinakischen Dialekts.
Harath schob den gesenkten Kopf näher heran.
»Ich habe gedacht, du hast gesagt, wir würden uns nicht mit diesen Burschen anlegen.«
»Ich habe gedacht, du hast gesagt, die Sklavenquartiere sind nicht bewacht, und wir kämen mit ’ner Haarnadel rein.«
Wiederum dieses halbe einfältige Grinsen. »Ja, aber …«
Egar löste zwei Finger vom Griff seines Messers, schnappte sich Harath beim Kragen und riss ihn zu sich heran. Augen wie Schlitze, Zähne fest aufeinander gepresst. Die Stimme das Zischen einer Schlange.
»Du bist bezahlt worden, Majak.«
Harath riss sich los. Aber er sah beiseite und befeuchtete sich die Lippen.
»Hör zu – ich gehe davon aus, dass Alnarh da unten ist«, murmelte er.
»Gut. Das sollte es dir einfacher machen. Willst du ihm seinen Scheiß heimzahlen? Du kannst ihn übernehmen, ich erledige die anderen beiden.«
Der jüngere Mann nickte zögernd. Egar konnte einen wilden Stich der Befriedigung nicht unterdrücken. Das kommt davon, wenn man sich so verhält und bei den Falschen anheuert, was, mein Junge? Er winkte mit der Hand, die das Messer hielt, und sie huschten zusammen die Treppe im Schatten der Balustraden hinab. Erreichten den letzten Absatz und die letzte Ecke, die nicht einsehbar war. Harath zögerte. Leckte sich wiederum über die Lippen.
Egar öffnete weit die Augen, ruckte mit dem Kinn. Geh schon, verdammt noch mal!
Harath stand auf. Ging die letzte Treppe zu den Würfelspielern hinab, ohne sich zu bemühen, leise zu sein.
Hektik bei seinem Anblick, Aufstehen und nach den Waffen greifen.
»Bleib da stehen, verdammt!«
»Keinen Schritt weiter, du Arschloch!«
Harath schnaubte. »Oh, Mann, was habt ihr für verdammt große Klingen, Jungs.«
Verblüfftes Schweigen. Egar spähte durch die Balustrade und erkannte Kurzschwerter, vielleicht eine Axt. Aber ihre Stablanzen lehnten immer noch an der Wand. Die mörderische, sieben Fuß lange majakische Reserve – aber nach wie vor nicht im Spiel.
Einer der Ishlinak senkte halb das Schwert.
»Harath – du bist das, Kumpel?«
»Halt’s Maul, Elkret. Er ist ein Ausgestoßener. Was tust du hier, verdammt, Harath? Wer hat dich reingelassen?«
Harath erreichte den Fuß der Treppe, die Hände weit von seinen Seiten weg gehalten. Anscheinend genoss er endlich die ganze Sache.
»He, Alnarh! Wie geht’s, wie steht’s? Hast du eine von der Offenbarung genehmigte Muschi gekriegt?«
Alnarh drehte sich zu der Stablanze an der Wand hin. »Ich habe gefragt: Wer hat dich reingelassen?«
»Mich reingelassen? Du blöder verdammter Hund, meinst du, man muss mich hier reinlassen? Ich hab’s dir bereits gesagt, Alnarh. Du konntest keine Wache aufstellen, um deine verdammte …«
Und los.
Egar setzte über das Geländer, fiel zehn Fuß herab wie ein Katapultgeschoss und schlug mit seinem Messer zu. Er landete unmittelbar neben Elkret, schlitzte ihn auf und schickte ihn schreiend zu Boden. Bei dem Lärm fuhr Alnarh herum. Hatte gerade genügend Zeit für den Ruf …
»Achtung, Räuber!«
… bevor Egar den dritten, namenlosen Ishlinak erreichte. Dem Mann gelang ein glücklicher Block mit dem Schaft seiner Handaxt, doch Egar fegte ihn knurrend mit dem Unterarm beiseite, und schwang das Messer im Kreis. Die Klinge traf irgendwo oberhalb der Hüfte des Mannes ins Fleisch und fuhr bis zum Heft hinein. Der Ishlinak bebte und kreischte. Ein Blick aus dem Augenwinkel – rechts von Egar hatte Alnarh nach seiner Stablanze gegriffen und sie gerade rechtzeitig von der Wand gerissen, während Harath auf ihn zueilte. Die Lanze wirbelte herum, Alnarh stellte sie quer, blockte, und die beiden Männer trafen in einem Wirbel aus Gliedmaßen und Flüchen aufeinander. Egar drehte die eigene Klinge und zog sie heraus – Blut spritzte ihm auf die Hand, so heiß, dass es fast zu brennen schien. Der Ishlinak, den er erstochen hatte, ging mit einem flehenden Ausdruck auf dem Gesicht zu Boden und klammerte sich an Egars Ärmel. Ihre Blicke trafen sich – der Instinkt sagte ihnen beiden die Wahrheit darüber, was geschehen war.
Elkret – hinter ihm.
Er fuhr herum. Elkret hielt ein langes Messer in der hoch erhobenen linken Hand, aber er war langsam – war verwundet – ich muss Glück gehabt haben, mit diesem ersten Treffer. Egar konnte die Verletzung nicht sehen, die er ihm zugefügt hatte, aber er hätte diesem Angriff im Schlaf ausweichen können. Er trat zur Seite, als der andere mit dem Messer zustieß, schnappte den Arm am Handgelenk, zog und renkte ihn aus. Mit der rechten Hand, die zu einer Faust um sein Messer geballt war, hieb er auf das Ellbogengelenk ein, brach den Arm. Das hohle Krachen hallte in dem Geflacker der Laternen wider, jagte zusammen mit dem erstickten Schrei davon, den es Elkret entriss. Das lange Messer flog weg. Egar kam nahe heran, drückte den Kopf des Ishlinaks zurück, sodass die Kehle frei lag …
»Nein – warte!«
Haraths heiserer Schrei. Egar konnte den Stoß gerade noch abbrechen. Er zog Elkret herum, damit er sehen konnte, woher der Ruf gekommen war. Legte dem Ishlinak das Messer an den Hals.
»Keine Bewegung«, murmelte er und spürte, wie Elkret vor der Berührung des Stahls zurückwich.
»Töte – töte ihn nicht.« Harath, der keuchend, vom Kampf taumelnd neben Alnarhs erschlaffter Gestalt aufstand. »Komm schon, Mann. Das musst du nicht tun.«
»Ich glaube, wir tun’s, wirklich.«
Aber er spürte bereits, dass ihm seine Entschlusskraft abhanden kam. Die Rangelei war zu rasch gekommen und gegangen, um die Kampfeswut in ihm zu entfachen, und jetzt fühlte es sich schmutzig und sinnlos an.
Harath trat einen Schritt vor, die Hände ausgestreckt und um gleichmäßiges Atmen bemüht. »Komm schon, Bruder! Er ist ein Freund.«
»Er ist nicht mein verfluchter Freund.« Egar seufzte und schob Elkret von sich weg, praktisch in Haraths Arme. »Schön, Bruder. Es ist dein Gesicht, das er gesehen hat. Tu, was dir gefällt.«
Harath konnte Elkret nicht auffangen und ließ ihn an sich vorbeigleiten. Der verwundete Ishlinak fiel auf die Knie, wobei der gesunde Arm ebenso schlaff herabhing wie der verletzte. Er starrte auf Alnarhs Leichnam hinab.
»Was hast du getan, verdammt, Mann!«, murmelte er. »Was hast du getan, verdammt?«
Es war nicht sofort klar, mit wem er sprach. Aber zumindest Alnarh würde keine Antwort geben – Harath hatte seinem alten Kameraden mit der Stablanze die Kehle eingedrückt, und der Schaft lag noch immer über dem Hals des Leichnams. Die Augen waren aus den Höhlen getreten, und die aufgequollene Zunge hing heraus. Im flackernden Schein der Laternen verlieh dies dem Gesicht des Ishlinak den komisch-grässlichen Ausdruck einer Teufelsmaske aus Shaktur.
»Wir verschwinden besser von hier«, brummelte Harath.
»Oh, nein. Wir sind aus einem bestimmten Grund hergekommen.« Egar nickte zur Tür hin. »Mach auf! Einer von ihnen hat die Schlüssel.«
»Harath, was hast du getan, verdammt?«
»Sieh mal, wir haben viel Lärm veranstaltet. Sie …«
»Das ist das zweite Mal, das ich dich daran erinnern muss, wer hier für die Musik bezahlt, nicht? Such die verfluchten Schlüssel!«
Harath fuhr zusammen. Aber er machte sich daran, Alnarhs Leichnam abzuklopfen. Egar sah ihm einen Moment lang zu, dann durchsuchte er den Mann, den er erstochen hatte.
Der Ishlinak war auf dem staubigen Fußboden ausgeblutet, und die ausgeströmte Flüssigkeit sah aus wie eine reglose Pfütze auf einer mitternächtlichen Straße, in die der tote Mann von einem scheuenden Pferd gefallen war. Egar hockte sich hin, suchte die Kleidung nach den Schlüsseln ab und sah dabei verschwommen die Bewegung seines Kopfs und seiner Schulter im Blut gespiegelt. Einen leicht verwirrenden Augenblick lang war es, als würde etwas Schlammiges unten in der Pfütze zu ihm aufstarren.
»… hast du getan, verdammt, Harath …«
»Halt einfach den Mund!«, zischte Harath, dessen Enttäuschung und Schuldgefühl sich zu Ärger verbanden. »Du bist am Leben, verdammt, nicht wahr? Das ist der verfluchte Drachentöter da drüben. Du weißt, wie nahe er daran war, dir die beschissene Kehle aufzuschlitzen wie einem Stück Vieh? Hab ihn gefunden! Hier ist der blöde Schlüssel.«
Egar löste sich von dem Blick auf sein anderes, im Blut versunkenes Ich. Stand mit einem Gefühl von der schwarzen Lache auf, das geradezu unheimlich an Erleichterung grenzte. Wandte sich den anderen zu.
Elkret kniete noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatten, wie einer dieser halbverrückten Büßer, die man manchmal draußen vor dem Safrantor sah. Harath neben ihm hielt einen verzierten Eisenschlüssel hoch. Er war nach wie vor etwas grün im Gesicht, brachte jedoch ein verstörtes Grinsen zustande.
»In Ordnung?«
»Also mach auf!«
Elkret sah hoch, als er die Stimme des Drachentöters hörte. Sein Gesicht war vom Schock völlig leer.
»Du verschwindest besser«, sagte er leise. »Bevor sie kommen.«
Egar spürte ein unergründliches Frösteln im Nacken. Er sah sich in den Schatten des Gebäudes um. »Bevor wer kommt?«
»Die Engel.«
»Mich verfolgen keine Engel, mein Sohn. Ich bin nicht konvertiert.«
»Ist egal«, erklärte ihm Elkret. »Sie sehen aus der Höhe zu. Rühre an, was ihres ist, und sie kommen. Das wurde uns versprochen. Wir sind alle als ihre Diener gezeichnet, von unserem Leiden werden wir erlöst.«
Das klang wie aufgeschrieben, derselbe Scheiß, den sie hier unten alle meterweise abspulen konnten, um jede Situation zu vergolden, die der Tag zu bieten hatte. Egar hatte Imrana einmal gefragt, ob es einen Vers gab, der korrektes Scheißen betraf, und sie hatte nüchtern erwidert, ja, natürlich, für Waschungen gab es ebenso korrekte Rituale wie für alles andere auch. Er war sich nie so ganz sicher, ob sie ihn auf den Arm nahm oder nicht.
Wenn es aus dem Mund eines Majak kam, klang es merkwürdig verdreht.
»He, hör auf mit solchem Scheiß!« Harath, mit harter Stimme, teilte anscheinend Egars Widerwillen. »Diese verdammte Stadt hat dir das Gehirn verrotten lassen, Elkret. Wir sind Majak – die Himmelsbewohner wachen über uns. Das reicht mir völlig, Bruder.«
»Die Bewohner werden sie nicht aufhalten. Es ist ein Licht, dem niemand widerstehen kann. Ich hab’s gesehen.«
Egar nickte, schenkte ihm ein knappes Lächeln und schlug zu. Ein Haken von der Seite, die Handfläche wie eine Klinge, das Daumengelenk gegen die Schläfe. Die alte Rückhand der Pferdediebe, k. o. in einem einzigen unaufmerksamen Moment – der Ishlinak brach lautlos zusammen.
»Genau, bringen wir’s rasch hinter uns, nicht?«
Harath starrte auf Elkret hinab. »Das hättest du nicht tun müssen.«
»Ja, aber ich hab’s getan. Also los jetzt. Hier kriege ich allmählich das Fürchten.«
Die Sklavenquartiere auf der anderen Seite der Tür waren besser in Schuss als manche Harems, in die Egar zu seiner Zeit eingebrochen war. Es gab reichlich Platz – was hatte man schließlich sonst in einem leeren Tempel zur Verfügung? – sowie eine endlose Flucht von Räumen, die links und rechts zurückwichen, wie die Finten eines erschöpften Messerkämpfers auf dem Rückzug. Im Lampenschein sah man, dass der Versuch unternommen worden war, den Ort herzurichten. Einige Möbel waren wie zufällig in den Räumen verteilt, gefärbte Tücher und andere improvisierte Vorhänge vor den Fenstern hinten wehten in der nächtlichen Brise. Die schwachen Gerüche nach billiger Seife und gekochtem Essen hingen in der Luft.
Die Sklaven waren fast genauso über die Räume verstreut wie das Mobiliar. Sie schliefen auf dünnen Matratzen auf dem Fußboden oder auf Steinbänken und in Nischen in den Wänden. Soweit Egar es durch ihre Decken erkennen konnte, waren die meisten jung und weiblich, dazu ein paar Knaben als Auflockerung. Alle hatten ein nördliches Erscheinungsbild, und die Gesichter formten blasse Flecken in der Düsternis. Einige hoben den Kopf, als die beiden Majak vorübergingen, wie es Hunde täten, wenn ihr Herr am Herd vorüberschritte. Aber sie sagten nichts, sondern beobachteten sie nur mit den erschöpften Augen des leichten Schläfers.
Egar schleppte Harath hin und her, bis er die Anlage des Orts mehr oder minder begriffen hatte. Die Räume waren offenbar wie eine Acht um zwei enge, mit einem Gitterwerk überdachte Innenhöfe angeordnet. Das Gefühl eines unendlichen Zurückweichens ergab sich durch eine geschickte Anordnung kleinerer Zimmer hier und da zu den Seiten. Vermutlich waren es einmal Mönchszellen oder so etwas gewesen.
Sie blieben unter den Traufen in der Ecke eines der Innenhöfe stehen.
»Siehst du sie?«, fragte er Harath.
»Nein, Mann.« Gereizter, wegwerfender Tonfall. »Sie ist nicht hier. Wie lange werden wir …«
Egar sah ihn unheilvoll an, und er hob beschwichtigend die Hände.
»Ja, okay, Bruder, okay. Ich werde bezahlt. Ich weiß. Aber die Wache wechselt um Mitternacht. Was tun wir hier? Was hast du für einen Plan?«
Das war eine gute Frage.
Du bist doch wegen irgendwas hergekommen, oder, Drachentöter? Dann find mal besser raus, was das war, und tu’s!
»Komm mit!«
Egar kehrte nach drinnen zurück und näherte sich einem jungen Mädchen in einer Nische, das sich aufgestützt hatte, um ihnen zuzusehen, wie sie vorübergingen. Weiche Züge, Knollennase und kleine, furchterfüllte Augen. Er schätzte sie auf kaum älter als fünfzehn oder sechzehn Jahre. Er stellte die Lampe ab und hockte sich vor sie hin, damit er vor ihren entsetzten Augen nicht so riesig wirkte, zeigte mit dem Daumen zurück auf Harath und sprach beruhigend und leise auf Tethannisch.
»Hör mal, kennst du den da?«
Das Mädchen zog sich in die begrenzten Tiefen der Nische zurück. Das Gesicht gesenkt, schüttelte sie wiederholt den Kopf.
»Bestimmt? Er hatte was mit einem der Mädchen hier, vor ein paar Wochen.«
»Ein paar Monaten«, korrigierte Harath.
Das leise Tröpfeln einer Stimme. »Ich weiß nicht … wir sollen nicht … es ist verboten, bitte …«
Egar hob die Hände in Nachahmung der Geste, zu der er Harath vor ein paar Augenblicken im Innenhof genötigt hatte. »Hör mal, ich will dir nicht wehtun, ich werde dich nicht mal anrühren. Du sollst mir nur etwas über das andere Mädchen erzählen.«
»Aber sie ist weg.« Bettelnder Blick.
»Das wissen wir, verdammt, du Hure. Wohin ist sie?«
Egar sprang auf und fuhr zu Harath herum.
»Hältst du mal für eine Minute das Maul?«, zischte er und kämpfte gegen ein starkes Verlangen an, den Ishlinak niederzuschlagen. »Mach dich nützlich! Geh da raus und sieh mal nach, ob es eine Möglichkeit gibt, zu diesem Gitter hochzuklettern und aufs Dach zu kommen. Los, mach schon! Verpiss dich. Ich kümmere mich um das hier.«
Harath wirkte verletzt, aber er ging. Egar hockte sich wieder vor das Mädchen hin. Sie drückte sich jetzt so fest gegen das Mauerwerk der Nische, dass ihre Muskeln hervortraten, und hatte sich die Decke fast übers Gesicht gezogen, als könnte sie sich damit verhüllen wie das Mädchen im Märchen und verschwinden.
»Mach dir keine Sorgen wegen dem. Erzähle mir einfach alles, was du von diesem Mädchen weißt. Weißt du, wie sie heißt?«
Die Augen erwiderten seinen Blick über den hochgezogenen Saum der Decke. »Er hat ihr gesagt, er würde sie wegbringen. Er hat es ihr versprochen. Die ganze Woche hat sie auf seine Rückkehr gewartet.«
Egar seufzte. »Ja, was soll ich dazu sagen? Wie heißt es so schön? Vertraue einem verdammten Ishlinak niemals weiter, als du mit einem Lasso werfen kannst. Was ist also mit ihr passiert?«
Ein angespanntes Schlucken. »Sie sind gekommen.«
»Sie?«
»Die Priester, die Hüter. Sie haben sie rausgeholt, sie haben ihr Fragen gestellt, haben sie geschlagen, sie angeschrien. Sie waren so wütend. Wir müssen rein sein. Unberührt.«
Egar runzelte die Stirn. Es war derselbe Mist, den sie Töchtern auf der ganzen Welt erzählten. Aber Sklaven? Und einige der Frauen, die er gesehen hatte, wirkten nicht weit unter dreißig Sommern. Wenn Menkarak der Ansicht war, er hielte hier eine Schar Jungfrauen, so musste er noch viel durchgeknallter sein, als selbst Archeth vermutete.
»Warum unberührt?«, fragte er.
Ein sichtbarer Schauder durchlief sie. »Die Engel haben uns erwählt. Wenn es für sie Zeit ist, hierher zu kommen, werden sie uns suchen.«
»Engel.« Allmählich hing es ihm zum Hals heraus.
»Du glaubst mir nicht«, flüsterte sie. Ihre Lider schlossen sich, und die Fingerknöchel hatte sie durch die Decke an den Mund gepresst, als müsste sie sich große Mühe geben, sich nicht zu übergeben. Das Gemurmel war fast zu leise, um es zu verstehen. »Du bist aus dem Norden, sogar noch weiter nördlich als ich. Warum solltest du mir glauben? Männer wie du.«
Und dann, als ob diese letzten Worte etwas in ihr erweckt hätten, riss das Mädchen die Augen wieder auf. Fixierte ihn.
»Bring mich hier raus!« Die Worte sprudelten aus ihr hervor. »Bitte, bring mich hier raus!«
»Ähm, sieh mal …«
»Bitte! Ich tu alles, alles. Ich bin gut. Ich war vorher in einem Trainingsstall in Parashal, ich kann, du kannst …« Sie schluckte. »Alles. Aber du musst mich mitnehmen, gleich jetzt.«
»Hör mal …«
»Du verstehst das nicht.« Jetzt war sie vor Verzweiflung angespannt, und die Worte kamen durch die zusammengebissenen Zähne heraus. »Ich habe sie gesehen. Ich habe die verfluchten Engel mit eigenen Augen gesehen. Genau wie sie gesagt haben. Sie kamen, und ich wurde verurteilt. Blaues Feuer. Blaues Feuer und Stimmen wie Tiere beim Spielen.«
Blaues Feuer …
Er setzte sich zurück, als ob sie ihm eine Ohrfeige versetzt hätte.
Abrupt befand er sich wieder in den dunstverschleierten Sümpfen von Ennishmin, kauerte zwischen abgehärteten Lumpensammlern und beobachtete das schwache blaue Flackern in der Ferne.
Sumpfgeister, murmelte einer der Männer, und die anderen vollführten Gesten zu den verschiedenen Talismanen, die sie trugen. Wir gehen nicht hier lang.
Und später, in der Kneipe mit Ringil, sah er, wie ein klappriger alter Mann vor seinen Augen zerschmolz und eben jene blauen Strahlen vergoss, als er zu Boden ging. Sah, was sich stattdessen erhob, um die Illusion des Menschseins zu ersetzen …
Ringil hatte stets gesagt, sie könnten nicht hierher kommen, nach Yhelteth. Würden nicht hierher kommen, wo die Sonne blendend weiß am Himmel hing …
Die plumpen schwarzen Glirsht-Statuen in dem Altarraum.
Eine Art Leuchtfeuer für die Dwendas.
Er hätte sich fast umgedreht und nachgesehen, über die Schulter und auf den Weg zurück, den sie gekommen waren. Auf das, was ihnen jetzt vielleicht diesen Weg versperrte.
Einmal, er war kaum zwanzig gewesen, da war er tief im Dashara-Pass allein in eine Grabstätte gegangen, nur um zu entdecken, dass es jetzt der Bau eines Felspanthers war. Der Sarkophag war umgestürzt, der Deckel in große Stücke zerbrochen und über den irdenen Boden verstreut. Überall Knochen, und jede Menge Pantherspuren, die Abdrücke eisenharter Klauen im Staub, die Spuren der Pfotenballen.
Der Höhlenausgang lag dreißig Meter den Weg zurück, den er gekommen war, dreißig volle Meter kalter, gewundener Tunnel aus rohem Fels. Mit gebeugtem Rücken schob er sich jeden einzelnen dunklen Fuß davon zurück, stets in der Erwartung, vor sich das Kratzen von Klauen und das leise Jaulen des zurückkehrenden Panthers zu vernehmen. Gebete an die Himmelsbewohner in der Kehle, bettelnd – er würde freudig in den Tod gehen, wann immer, wo immer es ihnen beliebte, nur sollte es unter freiem Himmel sein.
Als er hinaus in das heiße Sonnenlicht der Berge gelangt war, hatte er sich wie neugeboren gefühlt.
»Unmöglich«, knurrte Harath, nachdem er vom Innenhof zurückgekehrt war. »Der Stein ist so fest wie am Tag, als sie ihn geschnitten haben. Dauert ’ne Woche, sich da durchzumeißeln.«
»Na gut. Dann den Weg zurück, den wir gekommen sind. Hol die Lampe! Wir verduften.«
»Vavadas Titten sei gedankt dafür.«
Egar streckte die Hand nach dem Mädchen aus. »Du willst raus, Mädchen? Hier. Gehen wir.«
Dem Sklavenmädchen fiel ungläubig die Kinnlade herab. Dann fasste sie ihn bei der Hand wie eine Ertrinkende. Harath lachte höhnisch. Egar musste sich beherrschen, ihm keinen Schlag zu versetzen. Stattdessen zog er das Mädchen hoch. Ein dünnes Baumwollhemdchen unter der Decke; das Gewand war praktisch durchsichtig und reichte ihr knapp bis zu den Waden. Es spannte sich um ihre Brüste, und durch den Stoff sah man dunkle Warzen. Harath stieß tief in der Kehle einen anerkennenden Laut aus und griff nach den sanften Rundungen. Egar schlug ihm die Hand weg.
»Wir haben’s eilig«, knurrte er.
»Du bist ein trauriger alter Mann, Drachentöter.« Der Ishlinak grinste ihn dreckig an. »Ich hab’s dir gesagt, verflucht, wenn du was wolltest …«
Egar warf ihm einen Blick zu, und er schwieg.
»Und ich hab dir gesagt, wir haben’s eilig. Jetzt heb diese verfluchte Lampe auf.«
Vielleicht war es die Anspannung in seiner Stimme, die den Ishlinak verstummen ließ. Oder Harath verspürte das, was Egar sich nicht eingestehen wollte. Das kribbelige Gefühl, das jetzt aus sämtlichen dunklen Nischen und Türöffnungen rings umher hereinfegte, das in den Räumen hinter ihnen umherschlich wie der Rachegeist für die Ermordung der Brüder.
Etwas ist unterwegs.
Sie schritten rasch durch endlose Räume, die Messer gezogen und tief gehalten. Die in Decken gehüllten Leiber links und rechts ignorierten sie, ob sie wach waren und ihnen beim Weggehen zusahen oder nicht. Laufschritt – leises, rasches Knirschen ihrer Sohlen, die voraneilende Pfütze des Lampenscheins, und hinter allem eine gähnende, ahnungsvolle Stille. Das Mädchen stolperte, während sie sich abmühte, auf den bloßen Füßen zu bleiben.
Sie durchquerten den Haupteingang zu den Sklavenquartieren und fanden die Leichen unberührt, ebenso die anderen Laternen, aus deren unterem Teil grässliche, lang gestreckte Schatten hervorleckten. Das Treppenhaus hoch, wie sie gekommen waren, und dort oben …
Egar blieb ruckartig stehen.
Das Mädchen sah es. Wimmerte tief in der Kehle.
Blaues Feuer.