20

In einer Zeit vor dieser Zeit war die Erde nicht so, wie du sie jetzt siehst.

In einer Zeit vor dieser Zeit war die Erde heimgesucht von einem endlosen Konflikt, den Rassen und Wesen ausfochten, an die du dich jetzt bloß noch in Mythen und Legenden erinnerst.

Waffen von schrecklicher, unnatürlicher Macht wurden vom Zaum gelassen, gewaltige Energien tobten, und der Himmel selbst riss von einem Horizont zum anderen auf. Der Planet erzitterte unter dem Schritt der Besucher – sowohl Feinde als auch Verbündete, letztere voller Verzweiflung ausgewählt von Welten und Orten, die schlimmer als andere Welten waren. Sie sollten die Reihen gegen Invasoren halten, die wahrscheinlich am Ende keine Fremdwesen mehr waren.

Ganze Nationen und Völker verschwanden in Stürmen, die Jahrzehnte währten.

Gewaltige ausgefranste dunkle Dinger, größer als Berge, bewegten sich über den Nachthimmel, versperrten den Blick auf die Sterne und warfen tödliche Schatten auf jene unten.

Tore öffneten sich an Orten, an denen keine irdische Passage jemals hätte erlaubt sein dürfen, und die Besucher ergossen sich dort heraus, trafen sich zur Schlacht, kamen heran und wichen zurück, wandten ihre fremdartigen Technologien in Fällen an, bei denen Zweifel gestattet sind, dass die daran Beteiligten sie jemals wahrlich verstehen konnten. Es war ein Konflikt über menschliches Begreifen hinaus, und allein Menschen fanden sich in der Falle, in die Ecke gedrängt, von allen Seiten umzingelt durch das, was da vom Zaum gelassen war.

Also kämpfte die Menschheit hoffnungslos, Generation um Generation, erduldete unvorstellbare Schrecken, änderte sich auf Ebenen, die einstmals als für sie wesenhaft galten, zersplitterte und wurde zu einem Dutzend verschiedener Rassen – als ob sich die Rasse, die einmal Mensch genannt wurde, nur durch Aufspaltung ausreichend vor dem raubtierhaft funkelnden Blick der fremdartigen Augen verbergen könnte.

Und dann – aus Gründen, die nicht mehr gut bekannt sind – endeten die Kriege, und die Erde kreiste in relativem Frieden auf ihrer gewöhnlichen Bahn.

Und jene, die geblieben waren, zankten sich um das, was noch vorhanden war.

 

»Also nichts weiter Neues«, brummelte Jhiral, und Archeth sah ihn stumm und überrascht an.

Eine kurzes und bedeutsames Schweigen, und dann ertönte wiederum Anasharals Stimme mit bissigem, schulmeisterhaftem Nachdruck:

»In, diese, Leere …«

 

In diese Leere fielen dann die Dwendas ein, die Aldrainer, das Hexenvolk, glitzernd dunkel und wunderschön, menschlich zumindest in ihrer grundlegenden Gestalt, und sie beanspruchten ein früheres Erbe, ein Besitztum der Erde, das weit vor den Konflikt zurückreichte – obwohl einige behaupteten, ihr Gedächtnis sei fehlerhaft, hoffnungslos verzerrt durch ihre Angewohnheit, lange Perioden in den Sphären der nicht verwirklichten Möglichkeiten zu leben; und andere glaubten, dass in den Kriegen die Zeit selbst irgendwie in sich zusammengestürzt sei, sich zusammengefaltet habe oder vielleicht einfach in Fetzen gegangen sei, sodass die Vergangenheit, welche die Dwendas für sich in Anspruch nahmen, genau genommen nicht einmal zu dieser Version der Welt gehörte.

Aber solche Debatten waren bestenfalls akademisch – die Kriege hatten die Mauern geschwächt, die solche Orte von der unbeschatteten Welt fernhielten, und die Aldrainer waren nicht geneigt, mit der vorhandenen Bevölkerung in Ländern zu diskutieren, die sie nach uraltem Recht als ihr eigen betrachteten.

Sie nahmen die Erde im Sturm und bauten, kurz gesagt, dort an einem Reich, das siebentausend Jahre währte. Viele, auch die Menschen, die sie beherrschten, nannten es das glorreiche.

Sie brachten die Magie als Lebensweise mit, sie streuten sie über den Planeten aus wie Samen.

Sie schlichen wie absolute Monarchen in der Nacht umher – und erschufen eine harte menschliche Oligarchie, die ihnen dienen sollte, wo und wann immer das Licht der verwirklichten Sonne zu heftig brannte, als dass sie es hätten ertragen können. Eine Dynastie von Königen, ausgestattet mit dunklen Kräften, eine Ahnenreihe menschlicher Zauberer, mit denen sie sich paarten und ihr Erbe teilten – bis zu einem Ausmaß, wie ein solches Erbe überhaupt mit so gewöhnlichen Menschen geteilt werden konnte.

Die meisten der dunklen Könige waren wahnsinnig.

Die Feinde der Dwendas benötigten die gesamten siebentausend Jahre, bis sie die neuen Regeln erlernt hatten – die neue Magie gemeistert hatten, sie ihrem Willen beugen konnten, wie es die Dwendas vor so langer Zeit getan hatten.

Siebentausend Jahre, um die Kiriath durch die verborgenen Tore in den Eingeweiden der Erde heranzuschaffen, eine Wissenschaft hervorzurufen und ein Volk, das dem unheimlichen Volk ebenbürtig war, das sich ihm im Kampf stellen und ihre Städte in den Sumpf und in die Zerstörung zurückwerfen, ihre Armeen und ihre menschlichen Hörigen zerstreuen konnte. Ein gerüttelt Maß an geistiger Gesundheit in die Welt zurückbringen konnte.

Die letzten der dunklen Könige besiegen konnte.

 

Der Steuermann verfiel in Schweigen.

»Ich habe gedacht…«, setzte Archeth an und schüttelte dann den Kopf. »Spielt keine Rolle.«

Aber der Docht des Argwohns schwelte nach wie vor in ihrem Kopf. Es existierten viele Geschichten darüber, wie und warum ihr Volk in der Welt eingetroffen war, und die meisten der von den Menschen erzählten hatten auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Tatsachen. In dieser Hinsicht waren sogar die Legenden, welche die Kiriath selbst über die Ankunft erzählten, sprunghaft und kaum glaubwürdig. Aber Angfal, der an der Wand ihres Arbeitszimmers hing wie die Eingeweide eines Fremdwesens mit knollenförmig geschwollenen Gliedmaßen, hatte sich stets geringschätzig geäußert.

Die Kiriath haben die Reise über die schnellen Pfade hierher selbst kaum überlebt, hatte er ihr mürrisch in einer Nacht erzählt, als sie mit der Brechstange ein paar Antworten aus ihm herausholen wollte. Sie sind nicht freiwillig hergekommen, Archeth, auch wenn die Chroniken Gegenteiliges behaupten. Sie sind hier gestrandet, und wenn sie blieben, so war es nicht, weil ihnen die Umgebung gefiel. Es war, weil sie Angst hatten, dass die Rückkehr sie vernichten würde.

Einiges davon führte sie auf seine Verbitterung zurück – den Groll, den Angfal verspürte, weil er zurückgelassen worden war. Aber sie hielt Anasharals Version immer noch für leicht überdreht.

Der Imperator hatte auf einer der Granitbänke neben dem Balkon Platz genommen, um nicht dem Schein der Sonne ausgesetzt zu sein. Sein Gesicht lag im Schatten, das reichlich geölte Haar hing nach vorn und versperrte den Blick auf seine Züge, aber sie las seine Ungeduld an der Sitzhaltung ab, dem zur Seite geneigten Kopf. Sie fragte sich, ob sie ihn an einem Besuch seines Harems gehindert hatte – ob die Beaufsichtigung der Exekutionen in ihm ein quälendes Verlangen ausgelöst hatte, etwas zu ficken.

Er wischte sich unsichtbaren Staub vom Schoß.

»Du, äh, willst uns tatsächlich etwas über diesen letzten dunklen König erzählen? Seinen Namen, zum Beispiel? Wer er war, was er getan hat? Was das mit dem Hier und Jetzt zu tun hat?«

»Es ist besser, ihn nicht beim Namen zu nennen«, erwiderte der Steuermann düster. »Besser, jene Silben hier nicht laut auszusprechen.«

Archeth verdrehte die Augen.

»Ja – uns kann hier nichts so leicht erschrecken«, sagte Jhiral. »Also, bitte.«

»Nennen wir ihn dann einfach den Wechselbalg der Illwrack, denn das war jener aldrainische Klan, der ihn in den grauen Orten großgezogen hat. Mitgenommen aus einem bescheidenen Heim auf dem Marsch nach dem dunklen Glimmer, den die Dwendas bei den Menschen so hoch schätzen, wurde er als aldrainischer Krieger aufgezogen und erhielt schließlich das Kommando über eine Legion Dwendas, stieg dann zu …«

»Weißt du.« Jhiral zeigte jetzt Anzeichen echter Gereiztheit. »Ich habe diesen Mist von den bescheidenen Anfängen schon öfter gehört, Steuermann. Komisch, dass niemand auf ein lebendes Beispiel zeigen kann, nicht wahr? Komisch, dass sie am Ende allesamt legendär und tot sind.«

Anasharal hielt geziert inne. »Oh, der Wechselbalg der Illwrack ist anders, erhabene Lichtgestalt. Weit davon entfernt.«

Schweigen. Vielleicht waren es die Kühle, die langsam mit dem Nachmittag kam, und die Brise, die vom Fluss herüberwehte, aber Archeth spürte einen leisen Schauder über ihre Schulterblätter kriechen. Sie warf einen Blick auf Jhiral, der schwer seufzte und seine manikürten Fingernägel musterte. Sie durchschaute sein Imponiergehabe. Imperator oder nicht, Jhiral war mit solchen Geschichten aufgewachsen wie jedes andere Kind. Seine Stimme, als er das Wort ergriff, konnte eine winzige, gezügelte Anspannung nicht völlig verbergen.

»Und … was soll das genau heißen?«

»Genau das, was es heißt«, erwiderte der Steuermann höflich. »Als die Kiriath in den letzten Stadien des Kriegs der Dämmerung Hannais Mhen vernichteten, stand der wahnsinnige Wechselbalg an der Spitze der aldrainischen Streitkräfte und ihrer menschlichen Verbündeten. Aber er wurde verraten – einige sagen, von einer Geliebten, andere behaupten, es sei eine diplomatische List der Kiriath gewesen. Vielleicht am Ende beides. Wie dem auch sei, als er den Verrat entdeckte, heißt es, habe er vor Wut und Trauer einen Krampfanfall erlitten und wurde für tot gehalten. Die Streitkräfte der Dwendas haben sich mit seinem Leichnam zurückgezogen und sind in den grauen Orten verschwunden.«

»Aber er war nicht tot.« Jhiral beugte sich gegen seinen Willen vor.

»Nein. Die Dwendas waren in Auflösung begriffen, sie missverstanden anscheinend die Lage. Aber eine kleine Gruppe seiner menschlichen Unterstützer trugen den Leib weg und bestatteten ihn auf einem Inselchen im nördlichen Ozean.«

»Die hironischen Inseln?«

»Weiter nordwestlich als die hironischen Inseln. Aber die Insel ist jedenfalls nicht auf deinen Karten verzeichnet.«

Jhiral knurrte. »Wie praktisch.«

»In der Geschichte heißt es, dass der aldrainische Geliebte des Wechselbalgs später insgeheim das Grab aufsuchte, ihn jedoch nicht erwecken konnte. Daher ist er …«

»Er?« Der Imperator schürzte die Lippen. »Er?«

»Oder sie«, gab Anasharal zu. »Im Hinblick auf die genaue Identität ist die Geschichte unklar, nur dass es ein Mitglied des Klans Illwrack war. Wie dem auch sei, dieser Geliebte warf einen Zauber um die ganze Insel und versetzte sie in die aldrainischen Sümpfe. Aber die Magie war eilig und unvollständig, und es heißt, die Insel tauche von Zeit zu Zeit auf und stehe wieder fest im Ozean, obwohl erhellt von Elmsfeuer und manchmal nur für Momente.«

»Davon habe ich gelesen«, sagte Archeth langsam. »Die Geisterinsel, das letzte Glied der Kette.«

Jhiral sah sie an. »Wirklich?«

»Ja, es ist eine Legende des hironischen Volks, aber in Trelayne existieren ebenfalls einige Versionen davon. Seemannsgarn – eine unverzeichnete Insel jenseits der letzten hironischen Inselkette; Schiffe sichten sie inmitten eines Sturms, Elmsfeuer in Blau, im einen Augenblick da, im nächsten verschwunden.« Sie wedelte hilflos mit der Hand. »Es ist eine Legende, wisst Ihr. Ich bin immer davon ausgegangen …«

»Eben.« Der Imperator richtete seinen Blick wieder auf den Steuermann. »Willst du mir etwa sagen, dass wir einen Besuch von diesem untoten Wechselbalg zu erwarten haben?«

»Du hattest doch vor kurzem ein paar Probleme mit den Aldrainern, nicht wahr?«

Archeth und der Imperator wechselten einen raschen Blick. Die Invasion der Dwendas in Ennishmin war ein wohl gehütetes Geheimnis. Abgesehen von denen, die tatsächlich dort gewesen waren, wussten nur Jhiral und eine winzige Zahl vertrauenswürdiger höfischer Ratgeber und Ritter von den Ereignissen. Gegenwärtig waren zwei volle Legionen imperialer Soldaten an den Grenzen zum Sumpfland zwischen Pranderghast und Beksanara stationiert, angeblich als Bollwerk gegen Räuber aus den Territorien der Liga im Norden und Westen. Der Kommandant der Garnison in Khartaghnal war eingeweiht worden, auf was sie wirklich achten sollten, aber darüber hinaus …

Natürlich ließen sich Gerüchte kaum unterdrücken. Faileh Rakan mochte in dem Scharmützel bei Beksanara gefallen sein, aber eine Anzahl seiner Männer nicht. Die dortige Bevölkerung war dezimiert, jedoch nicht ausgelöscht. Und unter den Überlebenden würden einige, obwohl bezahlt, auf Geheimhaltung eingeschworen und sogar mit grässlichen Strafen bedroht – selbst Veteranen vom Ewigen Thron –, trinken und Garn spinnen und sich erinnern, dunkle Andeutungen machen und Fetzen der Wahrheit von sich geben.

»Die Dwendas sind zurückgetrieben worden«, sagte Archeth vorsichtig.

»In der Tat. Aber die Legenden sagen, dass der Wechselbalg der Illwrack zurückkehren wird, wenn die Not seines Adoptivvolks am größten ist; genauer gesagt, wenn es in der Schlacht aus dem Herzen seines alten Verlangens zurückgeworfen wurde und sich erneut in Auflösung befindet. Das ist ein mehr oder minder direktes Zitat aus den ursprünglichen naomischen Legenden. Erkennst du die logische Konsequenz?«

Jhiral nickte. »Ja. Obwohl mir etwas weniger klar ist, was wir deiner Ansicht nach dagegen unternehmen sollen. Vielleicht ein Präventivschlag gegen diese sich sporadisch manifestierende Insel?«

»Das ist eindeutig unmöglich.« Der Tonfall des Steuermanns war fast affektiert. »Ich bin damit beauftragt, pragmatische Lösungen für deine Probleme anzubieten.«

»Bislang nicht.« Archeth bemerkte, dass etwas von der Ungeduld ihres Imperators auch auf sie übergriff. »Wenn die Geisterinsel unzugänglich ist, dann …«

»Du hast mich die Geschichte nicht zu Ende erzählen lassen, Tochter des Flaradnam.«

»Na ja, jetzt hindert sie dich nicht daran. Können wir bitte weitermachen?«

»Die Kiriath«, sagte Anasharal sanft, »hatten den Zaubern des Klans Illwrack nichts entgegenzusetzen, oder zumindest nichts, zu dessen Anwendung sie sich durchringen konnten. Stattdessen haben sie auf Sicherheit gesetzt. Eine Stadt wurde errichtet, die über den Wellen südöstlich der Geisterinsel steht. Eine Wache wurde eingesetzt.«

»Eine Stadt im Meer?«

Archeths Stimme klang auf einmal merkwürdig angespannt. Jhiral warf ihr einen leicht überraschten Blick zu.

»Das ist korrekt, Tochter des Flaradnam. In Auftrag gegeben und errichtet vom Klan Halkanirinakral, besetzt, zumindest ursprünglich, von dessen Nachkommen. Die Stadt erhielt den Namen An-Kirilnar – das heißt für dich, Majestät, Stadt des Phantoms – und war dazu angelegt, das Auf- und Wegtauchen der Geisterinsel aus den grauen Orten zu überwachen. Seit Kurzem hat es jedoch den Anschein, als sei sie dauerhaft in die Welt zurückgekehrt …«

»Ist sie immer noch da?«

»Ja, sie ist immer noch da, Tochter des Flaradnam. Gegenwärtig steht sie im Ozean jenseits der hironischen Inseln, wie schon seit Wochen.«

»Dann müssen wir dorthin!«

»Archeth …«

»Ja, ich würde sagen, das ist eine angemessene Schlussfolgerung, die zu ziehen ist.«

»Archeth …«

»Kannst du … dich verständigen mit …«

»Archeth!« Die Stimme des Imperators knallte wie eine Peitsche. Er stand von der Bank auf und schritt zum Balkon. Sein Tonfall wurde weicher und triefte vor honigsüßer Ironie. »Wärest du so gut, mit mir ins Haus zu gehen?«

»Mylord.« Sie eilte hinter ihm her. »Mylord, das ist eine Gelegenheit …«

»Dies ist eine Gelegenheit, sich verdammt noch eins wieder zu beruhigen, Mylady kir-Archeth.« Jhiral beugte sich näher zu ihr herüber. In ihrem Zustand der Verwirrung konnte sie nicht erkennen, ob es eine Drohung oder das Betteln um Vertraulichkeit war, ob Imperator oder der Junge, den sie hatte aufwachsen sehen. Die Worte kamen gedehnt. »Jetzt komm mit, wenn du so gut sein willst.«

 

Also kam sie mit.

Außer Hörweite – obwohl sie nicht davon überzeugt war, dass das etwas zu bedeuten hatte, wenn es um die Steuermänner ging. Angfal sprach außerhalb ihres Arbeitszimmers, wo er an den Wänden hing wie ein Eisen gewordener Albtraum, nie mit ihr; Manathan würde überall innerhalb des Bergfrieds von An-Monal mit einem sprechen. Sie wusste nicht, ob Angfal dadurch, dass er aus dem Feuerschiff herausgerissen worden war, das sie einst befehligt hatte, irgendwie in der Reichweite seines Bewusstseins gestutzt worden war, oder ob der Steuermann seine wahren Fähigkeiten verbarg. Aber sie war sich halbwegs sicher, dass Anasharal, ein Wesen, das persönliche Einzelheiten aus den Köpfen von Männern pflücken konnte, mit denen es offensichtlich rein zufällig sprach, keine Schwierigkeiten hätte, einem Gespräch zu lauschen, das wenige hundert Schritte entfernt in den Schatten des inneren Gartens geführt wurde.

»Wenn es dort oben wirklich eine kiriathische Stadt gibt, Mylord …«

»Eine Stadt im Ozean?«

»An-Naranash im See Shaktan steht exakt genauso über dem Wasser.«

»Ja, das hat man mir gesagt. Und es ist verlassen.«

Ihre Stimmen wurden wieder hitziger. Archeth wich zurück und setzte sich auf einen hohen, krummen Baumstumpf direkt neben dem Pfad. Ihr Herz schlug rasch, ihre Sicht war verdunkelt. Die Gedanken huschten an den schimmernden, ausgefransten Rändern des Krinzanzentzugs hin und her.

Sie zwang sich zur Ruhe.

»Mylord, ob die Stadt verlassen ist oder nicht, ist kaum das Thema.«

»Nein, Archeth? Wirklich nicht?«

Er hatte sie ertappt – wie sehr sie auch versuchte, dieses Wissen zu unterdrücken. »Meine Sorge, Mylord …«

»… ist, dass du vielleicht noch einige der Rasse deines Vaters vorfinden könntest, welche die Welt nicht verlassen haben.« Jhiral seufzte und setzte sich neben sie auf den Stamm. Mit der Schulter stieß er sie an. Er starrte über den Pfad hinweg in das Laub gegenüber. »Ich nehme es dir nicht übel, Archeth. Wirklich nicht. Wer würde nicht gern manchmal seine Eltern zurückrufen? Aber dein Verlangen ist durchsichtig. Sei ehrlich! Mir gegenüber, wenn du es dir selbst gegenüber schon nicht sein kannst. Du solltest mein vertrauenswürdigster Ratgeber sein. Kannst du mir – in aller Aufrichtigkeit – sagen, dass das eine Bedrohung für das Reich ist?«

Sie verzog das Gesicht.

»Ich habe Euch letzten Winter eine Warnung zukommen lassen, die fast ignoriert worden ist, und seht einmal, was dabei herauskam!«

»Ja, reib mir das unter die Nase, warum auch nicht.«

»Die Tatsache bleibt bestehen, Mylord.«

»Na gut, reite nicht darauf herum.« Jhiral lehnte sich zurück und sah hinauf in den Blätterbaldachin des Baums, als ob er zwischen den Zweigen einen Ausweg finden könnte. Er runzelte die Stirn. »Nach Ennishmin hast du gesagt, dass die Dwendas das helle Licht nicht mögen, dass sie wahrscheinlich die Sonne in diesen Breitengraden nicht vertragen.«

»Das habe ich nicht gesagt, Mylord. Das hat der Ritter Ringil Eskiath aus seiner Zeit unter ihnen geschlussfolgert. Es ist eine Hypothese, nichts weiter.«

Der junge Imperator nickte heftig. »Ja, aber trotzdem. Selbst in Ennishmin, wo die Sonne kaum durch die Wolken bricht, selbst unter dem Leichentuch des Winters ziehen die Dwendas es vor, des Nachts zu kämpfen.«

»Sie könnten auch hier nachts kämpfen.«

»Das war jedoch nicht, was dieser … Eskiath vermutet hatte, nicht wahr?«

Die meiste Zeit, die ich in den aldrainischen Sümpfen verbrachte, herrschte Dunkelheit oder Dämmerung, Zwielicht. Ringils zögerliche Theorie stieg in ihrer Erinnerung hoch. An einer Stelle stand so etwas wie eine Sonne am Himmel, aber sie war fast erloschen. Wie ein bleiches Gerippe ihrer selbst. Von dort stammen die Dwendas ursprünglich, was vielleicht erklärt, warum sie helles Licht nicht vertragen.

»Sie sind dennoch nach Khangset gekommen«, sagte sie starrsinnig. »Sie haben die Stadt in Stücke gerissen. Und falls man dem Steuermann glauben kann, ist der Wechselbalg der Illwrack überhaupt kein Dwenda. Er ist ein untoter menschlicher Magier, der aldrainische Kräfte anwendet. Wie wollt Ihr ohne Beistand so etwas aufhalten?«

»Dann glaubst du an diesen Wechselbalg der Illwrack? Sag mir die Wahrheit, Archeth! Hast du je von ihm gehört?«

»Nein, Mylord.«

»Dann …«

»Aber der Zeitpunkt sollte uns zu denken geben. Kaum ein Jahr nach unserem Scharmützel mit den Dwendas werden wir vor einer Eskalation des Konflikts gewarnt. Können wir es uns leisten, das als Zufall abzutun?«

»Ich sage dir, was wir uns nicht leisten können, Archeth. Wir können es uns nicht leisten, eine volle Marineexpedition mitten in den nördlichen Ozean auszuschicken und darauf zu hoffen, dass sie auf das Hirngespinst einer wahnsinnigen Maschine trifft. Abgesehen von allem anderen liegt das auf der anderen Seite des Seegebiets der Liga. Wenn wir mit einer Streitmacht dort hinsegeln, kann das einen größeren diplomatischen Zwischenfall provozieren.«

»Wir befinden uns mit der Liga nicht im Krieg, Mylord.«

»Nein«, sagte der Imperator düster. »Noch nicht. Aber die Piraterie nördlich von Hinerion nimmt zu. Und ich habe aus bester Quelle von den Spionen der Admiralität in Trelayne erfahren, dass die Vereinigung der Reeder der Liga Druck ausübt, die Lizenz zum Kapern zu erneuern. Du weißt, was das bedeutet. Es beginnt immer auf dieselbe Weise.«

Es sei denn, wir beginnen dadurch, dass wir Streitkräfte nach Norden in Marsch setzen.

Sie unterdrückte den Gedanken. Sie hatte keine große Zuneigung zur Liga, hatte stets, wie das Volk ihres Vaters, geglaubt – vielleicht weil das Volk ihres Vaters es geglaubt hatte –, dass Yhelteth den besseren Weg beschritt.

Aber:

»Admiral Sangs … Spione … sind ganz und gar nicht zuverlässig.« Sie achtete sorgfältig auf ihre Worte. »Sie sind bekannt für ihre übertriebenen Darstellungen.«

»Wie der alte Mistkerl selbst. Ja, stimmt schon, Archeth, ich weiß, dass du ihn nicht magst.« Abrupt war Jhiral wieder auf den Beinen und schritt hin und her. »Aber ich habe die Berichte gelesen, und ich glaube, dass Sang hier nicht mächtig auf die Pauke haut. Schließlich haben wir so was schon früher erlebt. Diese kleinen Handelsscheißer da oben im Norden können sich einen Krieg gerade jetzt ebenso wenig leisten wie wir, und sie wissen es. Was sie jedoch nicht daran hindern wird, die Unannehmlichkeiten auf private Reeder abzuwälzen und dann den Zehnten einzusacken. Ihre Truhen füllen sich mit Beute aus imperialer Fracht, ihre Diplomaten schütteln traurig die Wieselhäupter und wissen natürlich von überhaupt nichts. Und in der Zwischenzeit, als hätten wir nicht schon genug zu tun unten in Demlarashan und oben in Ennishmin, müssen wir unsere Truhen plündern und Marinestützpunkte aufbauen oder das Risiko eingehen, unsere eigenen Handelsrouten an Wettbewerber aus der Liga zu verlieren.«

»Vielleicht möchte Admiral Sang einfach nur einige neue Kriegsschiffe haben.«

»Ich habe dir bereits gesagt, dass es meiner Ansicht nach nicht darum geht.« Ein Hauch von Groll lag jetzt in seiner Stimme.

»Abgesehen davon muss es eine ganze Reihe von Händlern der Liga an Land geben, die nichts vom Krieg wissen will. Die Sklavenhändler, um nur diese zu nennen. Die Liga muss nicht unbedingt auf die Reeder hören. Sie …«

»Archeth, wirst du damit aufhören, Luftschlösser zu bauen!«

»Ich« – sie konnte die Worte nicht zurückhalten – »vertraue Sang etwa so weit, wie ich seinen fetten Arsch werfen kann. Er ist unzuverlässig.«

»Oh, und die verdammten Steuermänner sind zuverlässig, ja?«

Plötzlich stand er dicht vor ihr. Er krallte die Hände in ihre Schultern und bohrte die Daumen so kraftvoll ins Fleisch, dass die Sehnen an seinen Armen hervortraten. Sie wurde gewaltsam daran erinnert, dass Prinz Jhiral, der Thronfolger, mochte er auch nie etwas vom Krieg gegen das schuppige Volk oder von den früheren Feldzügen seines Vaters gesehen, tatsächlich in seinem ganzen Leben noch nie einen wütenden Schwertstreich geführt haben, doch seit seinem zwölften Lebensjahr auch nie einen Tag beim Zweikampftraining gefehlt hatte, außer wenn er krank gewesen war. Unter diesen ockerfarben und schwarz drapierten Schultern steckten jede Menge Muskeln, steckte jede Menge trainierte und kanalisierte Kraft.

Aber trotz Krinzanz-Entzugserscheinungen hätte sie ihm Bandschimmer rascher in die Kehle gestoßen, als er hätte blinzeln können.

Hätte …

Sie begegnete seinem Blick.

Vielleicht spürte er es. Er ließ sie los. Richtete sich auf.

»Archeth, du bist in An-Naranash gewesen. Du hast seinen Niedergang erlebt.« Seine Stimme war wieder königlich ruhig wie im Besprechungsraum. Er machte eine wegwerfende Geste, eine Handfläche nach oben. »Das ganze Geschwätz des Steuermanns, die Monate für die Durchquerung der Wüste, das ganze diplomatische Gerangel mit den Nautokraten in Shaktur, der Tribut und die Bestechungen, und was haben wir letztlich dadurch erhalten? Ein Mausoleum auf Stelzen, seit Jahrhunderten verlassen, ohne irgendetwas von Wert.«

Sie hatte es nicht vergessen. Die langsam absterbende Aufregung in ihren Eingeweiden, als sie sich An-Naranashs stummer, hoch aufragender Masse näherten und sie das Ausmaß des Verfalls erkannte. Die stechende, übelkeiterregende Enttäuschung, als sie eines der gewaltigen, von Rankenfüßern überkrusteten Beine erkletterte und das endlose, nach Feuchtigkeit riechende Treppenhaus hinaufstieg und in der hallenden Düsternis von Räumen herumschlich, die ebenso verlassen waren wie alles, was sie von An-Monal her kannte.

»Die Ausrüstung dieser Expedition hat uns eine halbe Million Elementaler gekostet, Archeth. Alles, weil die Steuermänner gesagt haben, geht hin. Einer der größten Fehler, den mein Vater je begangen hat. Erwartest du wirklich von mir, ihm in seinen Fußstapfen zu folgen? Willst du das?«

Darauf hatte sie keine Antwort.

Weil du die Expedition Shaktur erzwungen hast, Archidi, und du weißt es. Es waren nicht die Steuermänner, nicht wirklich. Du hast aus Akal in seiner Melancholie des Sterbenden Mittel und Männer herausgekitzelt, die er sich im Durcheinander nach dem Krieg eigentlich nicht leisten konnte. Eine Geldbuße war es gewesen, der Versuch eines alten Mannes, zu sühnen – die unausgesprochene Abmachung, dass sie ihn nicht mehr mit den Geschichten davon quälen würde, was sie in Vanbyr gesehen hatte, wenn er die Expedition unterstützte und ihr das Kommando übergab. Dass sie ihm, auf eine unklare Art und Weise, Absolution erteilen würde.

Merkwürdig, wie man der Gott eines Mannes werden konnte, ohne es zu bemerken.

Akal war vor ihrer Rückkehr gestorben. Vermutlich nicht das Schlechteste – bei ihrer Rückkehr war sie wirklich nicht in der Stimmung für eine Absolution gewesen.

»Archeth, sieh mal.« Akals Sohn, jetzt versöhnlich gestimmt, lehnte sich mit jener halbseidenen aristokratischen Schlampigkeit zurück, die er so gut beherrschte. »Ich will nicht sagen, dass wir das nicht ernst nehmen. Geh auf jeden Fall in die Bibliothek. Ich weiß, wie sehr du diesen klerikalen Mist liebst. Verfolge dieses Märchen vom Wechselbalg im Indirath M’nal. Sprich mit Angfal, wenn du etwas aus ihm herauskitzeln kannst. Aber komm wieder runter, um des Propheten willen! Geh dich betrinken, nimm Krin – verdammt, geh mit jemandem ins Bett, Archeth! Spiele mit dieser kurvenreichen kleinen Schlampe herum, die ich dir letztes Jahr geschenkt habe. Ich wette, die hast du bislang noch nicht angerührt, oder?«

In gewisser Weise war sie fast erleichtert. Es war eine Seite von Jhiral, mit der sie leichter umgehen konnte, eine Rolle, die er seit seiner frühen Jugend gespielt hatte, ein Streich, gegen den sie sämtliche klugen Paraden und Riposten kannte, denn sie hatte sie seit Jahrzehnten ausgeführt. Eine Dekadenz, die man bequem verachten konnte.

Aber sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wogegen er sich damit abschottete.

Vielleicht ist es kein Abschotten – vielleicht gefällt es ihm bloß verdammt gut. Vielleicht schwelgt er darin. Je daran gedacht?

Ishgrim sprang ihr in den Sinn, helles Fleisch, das darum bettelte, von Händen umschlossen und gepackt zu werden. Lange, geschmeidige Glieder, in denen sich schwelgen ließ. Ich wette, die hast du bislang noch nicht angerührt, oder? Was für eine schlaue Wette, Mylord! Was für ein Spiel Jhiral mit ihr um Ishgrim auch spielen mochte, er gewann es mühelos.

Sie erhob sich von dem gebogenen Baumstamm. Holte tief Luft.

»Ich werde in die Bibliothek gehen, Mylord«, sagte sie.

»Gut. Dann können wir es dabei belassen, glaube ich. Der Steuermann sollte …«

»Falls ich da«, sagte Anasharal aus der leeren grünen duftenden Luft wie ein göttlicher Besuch, »vielleicht einen Einwand erheben dürfte.«

Der Imperator aller Lande und die halb-unsterbliche Halb-Kiriatherin – ihre Blicke trafen sich wie die zweier Kinder, die eine fremde Stimme zum Essen hereinrief. Selbst Archeth, die ältere Schwester, die das halb erwartet hatte …

Sie brachte ein Schulterzucken zustande, bemüht beiläufig.

»Du hast uns belauscht?«

»Du hast wahrlich ein Talent, das Offensichtliche festzustellen, Tochter des Flaradnam! Manathan hat davon gesprochen. Er führt es auf das befleckte Blut des Mischlings zurück. Aber merkwürdig genug ist es, dass du nach wie vor noch nicht die sehr offensichtliche Lösung gefunden hast, wie du aus der Sackgasse vor dir wieder herauskommst.«

»Hier gibt es keine Sackgasse«, sagte Jhiral, der etwas königliche Geringschätzung aufbrachte.

»Ich spreche nicht mit dir, Jhiral Khimran.«

Es war ein Affront, der jedem menschlichen Sprecher einen raschen und wahrscheinlich tödlichen Ausflug in die Kerker des Palasts eingebracht hätte. Doch die Steuermänner – na ja, über die Jahrhunderte hatte die khimransche Dynastie gelernt, sich anzupassen. Man beißt nicht die Hand, die einen mit Macht füttert, denn sie mochte unter der weltmännischen, gönnerhaften Oberfläche durchaus dämonische Krallen aufweisen.

»Vielleicht erklärst du das besser«, sagte Archeth hastig. »Welche Sackgasse?«

»Die Sackgasse, die du vor dir siehst, Tochter des Flaradnam, wenn du mit deiner Lektüre fertig bist und zu deiner Zufriedenheit erkannt hast, dass eine Suchexpedition nach An-Kirilnar tatsächlich nötig ist, und du dich immer noch denselben Restriktionen seitens dieses stotternden armseligen Imperators wegen einer erschöpften imperialen Truhe gegenüber siehst.«

»Ja, vielleicht kannst du uns einfach den Weg zu einem Topf Gold weisen«, sagte Jhiral höhnisch.

Wiederum dieses Schweigen, das Archeth allmählich als Tadel zu interpretieren lernte. Dann der eisige schulmeisterliche Tonfall.

»Genau genommen, Jhiral Khimran, werde ich exakt dies tun. Also würde es sich wiederum für dich geziemen, deinen Anspruch auf eine Behandlung wie im Thronsaal zu unterdrücken und genau zuzuhören, was ich zu sagen habe.«