19

Nach einer Weile scheinen die Kormorane seiner Gesellschaft überdrüssig zu sein. Sie hüpfen unbeholfen von dem Felsen herab, den sie miteinander teilten, und verschwinden einer nach dem anderen in die Tiefen darunter. Der letzte dreht den Kopf zu ihm um, bevor er wegtaucht. Stößt ein dürres Krächzen aus, das vielleicht einen Abschiedsgruß bedeutet, und ist verschwunden. Ringil hebt die Flasche zum Gruß.

Setzt sie an die Lippen und entdeckt, dass sie leer ist.

Kein Wunder, dass sie weggeflogen sind.

Eine Weile lang wehrt er sich gegen die offensichtliche Bedeutung des Geschehens. Der Felsen ist seltsam nachgiebig und bequem, wofür es anscheinend keinen Grund gibt …

Na ja, abgesehen von diesem üblen, grau-weiß strahlenden Fleck, der durch den östlichen Himmelsrand sickert.

Etwas ist unterwegs, Gil.

Besser, du bist weg, bevor es bei seiner Ankunft über dich stolpert.

Mit einiger Mühe steht er auf. Gerät ins Taumeln, weil er plötzlich so hoch steht. Er späht nach unten, den Kormoranen nach, doch außer einem vagen Dunkel und dem aufsteigenden Geruch fauligen Meerwassers bringt es ihm nichts ein. Er zuckt die Achseln. Die Tatsache, dass es, im Gegensatz zu ihm, Seevögel waren, spielt am Ende eigentlich kaum eine Rolle. Er macht den langen Schritt vorwärts und fällt ihnen nach. Klatscht ins …

Es ist kein richtiges Wasser, dazu ist es zu spärlich und flüchtig. Aber für den Bruchteil eines Augenblicks glaubt er, Blasen aufsteigen zu sehen, als stiege sein Atem in einem milchigen Fluss zu einer Oberfläche, die durch seinen Sturz mächtig aufgewühlt ist. Es folgt ein kurzes, kühles Prickeln, wie ein Spritzer kalten Wassers auf dem Gesicht, und dann springt etwas haifischartig aus dem Schlamm auf ihn zu.

Scheiße!

Er nimmt Bruchstücke wahr – ein kreisrundes Maul, so weit aufgerissen, dass es seinen Kopf als ganzen schlucken könnte, der nahtlose Ring einer einzelnen gespannten, zurückgerollten Lippe, und in der Mundhöhle dahinter konzentrische Kreise aus aufgerichteten Zähnen. Es ist die Akyia, das Ding, das Seethlaw und Risgillen die Merroigai genannt hatten. Hinter dem albtraumhaften Kopf die Andeutung eines geschmeidigen, annähernd menschlichen Leibes, der sich zu langen, sich wellenden Gliedmaßen teilt, mit Flossen am vorderen Ende. Ein schlanker muskulöser Arm schießt hervor, eine klauenbewehrte Hand greift nach ihm, vielleicht, um ihn vor dem Sturz zu bewahren – aber er weicht zurück wie ein Kind vor der Klaue des Sumpfzorns, und er fällt weiter.

Noch tiefer hinab.

Wenn es jemals eine Oberfläche über ihm gab, so ist sie schon längst verschwunden. Die Dunkelheit zerquetscht ihn wie die riesige Würgeschlange aus der Legende. Das Atmen ist eine Mühsal und zwingt ihm flache Züge durch bebende Lippen auf. Seine Augen schmerzen vom Spähen in die Schwärze, aber etwas lässt nicht zu, dass sie sich schließen. Das Gefühl, dass etwas naht, hat ihn nicht verlassen – er spürt es hinter sich herabstürzen, ausgedehnt, schattenhaft, mit klaffenden Kieferknochen. Und er steckt fest, er fällt weniger, als dass er von einem Foltertisch herabhängt, dessen Form und Ausdehnung er nicht erkennen kann.

Bleich und lumineszierend ragt etwas drohend aus den Tiefen empor.

Ein paar zitternde Momente lang hält er es für einen Oktopus, einen dieser gigantischen Tintenfische, die an den Küsten von Lanatray angespült werden, wenn die Sommer stürmisch gewesen sind. Jäh fällt es ihm ein – er selbst mit acht Jahren, ging allein, wie es immer häufiger der Fall war, und benommen über einen regennassen Sand zwischen buckligen, bebenden, durchscheinenden Hügeln einher, die fast so hoch waren wie er selbst. Einige wenige unheimliche Augenblicke in diesem frühen Morgenlicht, bevor sich rasch ein hartköpfiger Pragmatismus durchsetzte, glaubte er – wollte glauben –, dass es vielleicht die flüchtigen Seelen von Walen wären, die von den Harpunieren der hironischen Inseln getroffen worden waren.

Sie waren es nicht.

Und das jetzt – er kehrt, sich schüttelnd, in die Gegenwart zurück – ist keine Qualle.

Es ist ein Stein.

Bei dieser Erkenntnis scheint der Brocken sich zu beruhigen und hüpft ihm nun wie ein anhänglicher Hund um die Füße. Er möchte ein Freund sein. Eine sanft schimmernde Steinmetzarbeit von der Größe einer kräftigen Männerbrust, auf einer Seite beschrieben mit Buchstaben in alter myrlischer Schrift. Ringil neigt leicht den Kopf und entziffert die Worte:

… und die Schlüssel einer Stadt größer als …

Wie etwas, das man auf den Mauern eines zerstörten Tempels im älteren Ende der Stadt, im Sumpfland, gesehen hat, einen unheimlichen, einst isoliert dastehenden Schrein, der jetzt in einem Meer moderner Häuser ertrunken ist, als Trelaynes sprießende Außenbezirke sich ausgebreitet haben – ein Teil der Steinmetzarbeit ist sehr alt, Jahrhunderte älter als der naomische Aufstieg.

… die Schlüssel einer Stadt …

Der Stein steigt nach oben, wie an einem Schiffstau von erschöpften Männern hochgehievt. Kniehöhe, ein zögerlicher Ruck oder zwei, dann erneut hinauf, ein Jagdhund, den jetzt, nach einem Irrtum, sein richtiger Herr ruft. Vielleicht, so denkt er verschwommen, ungenau, sind die Worte gar nicht dazu gedacht, dass er sie lesen soll, und dieses Zusammentreffen von Mann und Stein ist bloß ein Fehlschlag des Schicksals oder dämonische Absicht, ein Schwert, das von einem Schild abrutscht, den es eigentlich zerteilen sollte, ein Axtkämpfer, der eigentlich sicheren Stand hat und doch im Schlamm ausgleitet und sich auf sein Hinterteil setzt, bevor der Schlag trifft. Ein verschontes Leben, wo keine Gnade hätte zuteil werden sollen, eine eingenommene Stadt, die eigentlich gegen die erstürmende Horde hätte standhalten sollen – ein Irrtum im Buch der Tage, irgendwie so ein Mist.

Im Geiste baut er ein passendes wegwerfendes Achselzucken auf, entdeckt jedoch, dass er zu heftig zittert, um ihm körperlich Ausdruck zu verleihen. Sein Körper fühlt sich wie etwas an, das er nicht mehr besitzt oder nicht mehr richtig beherrschen kann.

Ihm kommt die Erkenntnis, dass er diesmal wirklich sterben könnte.

Das Stück Steinmetzarbeit erreicht die gleiche Höhe wie sein Kopf und wackelt dort einen Augenblick hin und her. Blinder Impuls – bevor er es recht begreift, hält er den Stein gepackt. Umarmt die abgenutzten, glatten Konturen mit der Inschrift. Er fährt mit einer Gewalt durch die Schwärze auf, dass es schmerzhaft an den Schultergelenken zerrt. Der Stein ist kühl an seinem Gesicht, die eingeschnitzten Buchstaben drücken ihm ihre Muster ins Fleisch, er spürt, dass Rumpf und Beine gewichtslos werden und sich heben, bis er waagerecht an dem Stein hängt wie ein Wimpel am Mast im Wind.

Die Schwärze rings umher wird zunehmend grau.

Ein Himmel von der Farbe eines Blutergusses wölbt sich plötzlich über ihm, tritt ins Dasein, breitet sich wie eine hervorschnellende Decke bis zum Horizont aus.

Er fällt aus ihm heraus.

Auf dem Weg nach unten fängt er jäh den Geruch nach Salzwasser auf, den Duft frisch gehackter Küchenkräuter aus den Kindheitserinnerungen …

Er trifft auf eine Oberfläche, die feucht unter seinem Gewicht nachgibt. Wasser drückt sich aus dem Boden und tränkt seine Kleidung. Er bläst etwas, das bitter und schwarz schmeckt, aus seinem Mund. Dreht den Kopf leicht, sodass er atmen kann. Verständnis holt die sensorischen Eindrücke von gerade eben ein.

Er liegt lang ausgestreckt in einem Sumpf, ihm ist kalt, und er klammert sich an einen einzelnen Steinbrocken.

Oh, ja …

Etwas stolziert über seinen Kopf wie die Finger einer Hand. Er weiß sogleich, was es ist, schlägt mit instinktivem Ekel um sich und schleudert den weichen Leib davon. Beharrlich windet es sich jetzt unter seinem Körper, irgendwo unter seinen Rippen, strampelt voller Panik – Scheiße! Scheiße! –, und dann die heißen Schnitte von Kieferknochen durch sein Hemd und in sein Fleisch, nachdem er sich zu spät herumgewälzt hat. Ein federleichter Stupser an seinem Hals, weitere weiche, forschende Finger. Er wischt die Berührung davon, kommt verzweifelt auf die Knie hoch. Überall Spinnweben, sie kleben ihm an den Armen, dick auf dem Sumpfgras rings um ihn her wie endlose Meter verrottenden grauen Musselins, er ist im Fraßgang, er ist genau auf dem verfluchten Ding gelandet.

Stolpernd kommt er auf die Füße und sieht sich keuchend um.

Reißt das Schwert herunter, die Scheide, den Mantel. Wirft alles weg.

Wischt brutal an sich herum. Sumpfspinnen leben in Gemeinschaft, verteidigen wild ihr Territorium und erreichen, wenn man Pech hat, bis zu einem Fuß Durchmesser. Ein paar Bisse einer großen Spinne reichen gewöhnlich aus, einen erwachsenen Mann zu erledigen. Ringil dreht sich angespannt einmal um die eigene Achse, ihm ist schwindelig, und er kämpft ums Gleichgewicht, während er die Füße versetzt und in den schlüpfrigen, federnden Boden und den Eiter einsinkt. Der Biss in seinem Bauch schmerzt wie eine Verbrennung. Er spürt das Gift langsam, heiß, unter der Haut entlangkriechen. Er sieht in dem schlechten Licht genau hin, wünscht sich eine Fackel. Glaubt, inmitten des rauen Spinnengewebes und des Sumpfgrases eine Bewegung zu entdecken, ist sich jedoch nicht sicher.

Mühsam kommt er wieder zu Atem.

Die Spinne, die ihn gebissen hat, liegt halb zerquetscht von seinem Gewicht ihm zu Füßen und streckt sich schwach. Sie ist groß wie der Kopf eines Mannes. Mehrere Sekunden lang starrt er sie benommen an, dann trampelt er in einem Anfall von Wut darauf herum, bis sie tot ist.

Mehr Energie kann er nicht aufbringen. Er steht schwankend da. Das Gift kriecht noch etwas weiter in seinen Bauch hinein, breitet sich anscheinend aus. Er reibt reflexhaft an der Wunde und wünscht sich dann, er hätte es nicht getan. Ätzende Säure brennt unter seiner Haut.

Der Sumpf erstreckt sich konturlos bis zum Horizont. Dickes, von Spinnweben bedecktes Gras in alle Richtungen, und ein eisiger Wind, der ihm in die Ohren schneidet.

Prächtig. Einfach beschissen prächtig.

Er sucht sich behutsam seinen Weg zu Schwert und Mantel, hebt beides nacheinander vorsichtig auf und mustert die Sachen von oben bis unten. Aus den Falten des Mantels schüttelt er drei mehr als faustgroße Spinnen heraus, entdeckt eine weitere, die über die Scheide krabbelt, und schnippt sie weg. Bleibt einen Moment stehen, um sicher zu gehen, dass sie alle davonhuschen. Dann legt er sich den Mantel um die Schultern – kämpft gegen den Wind, der ihm den Stoff entreißen will – und schließt ihn, hängt den Rabenfreund wieder über den Rücken und starrt trotzig umher.

Er meint, dass die Spinnweben links von ihm etwas dünner aussehen.

Er macht sich auf den Weg.

Hinter ihm liegt der zurückgelassene Steinbrocken, umringt von schwarzem Wasser, und bietet seine Worte dem leeren Himmel dar.

… die Schlüssel einer Stadt größer als …

 

Es mochte das Gift sein oder auch nicht. Wer kann das in den grauen Orten sagen?

Allmählich hört er eine Stimme, die von den Wolken etwas herabruft, heiser vor Wut, aber zugleich irgendwie weich wie feine Wolle auf seinen Fingerspitzen.

Sieh ihn dir bloß an da unten …

Sieh ihn dir bloß an da unten …

Ein weibliche Stimme, oder vielleicht etwas, das es versteht, eine weibliche Stimme zu imitieren, mehr oder weniger, jedenfalls. Schwach, unheimlich vertraut. Sie kommt und geht mit dem Wind, scheint in jähen Böen an ihm vorbeizujagen und dann zurückzukehren. Ringil dreht sich erschöpft um die eigene Achse und versucht, sich ihr zu stellen.

… sieh ihn dir …

Die Menhire um ihn her flackern, mal existieren sie, mal wieder nicht, und sie gleichen riesigen, missgestalteten Stäben in einer Gefängniszelle für Trolle, ein kreisrundes Gefängnis, das mit ihm Schritt hält. Sie zerteilen für ihn den Sumpfhorizont in Abschnitte, bleiben für ein paar feuchte Herzschläge stehen, erheben sich solide aus dem Sumpfgras mit den Spinnweben und verschwinden dann, sobald er auf sie zuwankt. Nach einer Weile lernt er, den Effekt zu übersehen, wie man so vieles in den grauen Orten übersehen muss.

Er taumelt weiter, kommt sich bei jedem Schritt immer kränker vor.

… sieh ihn dir …

Kippende Aussicht von Grau auf Grau, Stein auf Leere, da und wieder weg, da und wieder weg …

… sieh ihn dir doch bloß …

Er sackt in sich zusammen, bleibt stehen, spürt, dass die Welt einige Schritte weitergeht, ohne ihn. Die Stimme verstummt jäh, als wäre sie interessiert daran, was er als Nächstes täte. Er atmet mehrmals ein. Der tosende Wind drückt ihm kalt gegen den Rücken. Er will ihn weiterschieben.

Er hebt beide Arme. Ruft heiser:

Ja, sieh mich an. Risgillen, nicht wahr? Komm und sieh: Ringil Eskiath, erniedrigt. Hast du das gewollt? Du kannst es nicht mehr gewollt haben als ich.

Keine Antwort. Falls Risgillen dort draußen ist, so ist ihr nicht nach plaudern zumute.

Kannst du es ihr verübeln?

Wirklich nicht.

Der Geist des Steinkreises, wie Schatten im Sonnenuntergang gemalt auf die Rückseite seiner Augen. Die flüchtigen Erinnerungen an Seethlaw – knurrende, ringende Leidenschaft, kühle Haut unter seinen Händen, der Geschmack, als der Dwenda in seinem Mund kam, wie der Saft einer salzig-süßen Beere, die auf seiner Zunge zerplatzte. Die tiefen Stöße, festklammern, als er sich an Seethlaws elfenbeinhartes Gesäß schmiegte. Die Laute, die der Dwenda bei jedem Stoß von sich gab.

Und dann der Zusammenbruch auf das taubnasse Gras, die schaudernde Erleichterung, das Gelächter am Rande des Weinens. Das Loslassen und all das, was danach kam.

Plötzlich denkt er daran, dass die Steine Dakovash draußen hielten, dass der salzige Herr auf der anderen Seite umherschleichen, jedoch nicht hindurchtreten würde. Dass er den Rabenfreund zu Ringil hineinwerfen würde wie ein Mann, der ein wildes Tier in einem Käfig, den er nicht zu betreten wagt, mit Fleisch füttert.

Versuche, das nicht wieder fallen zu lassen. Du wirst es benötigen.

Ich bin nicht dein verfluchter Handlanger.

Wie aus dem Nichts hat er ein hustendes Gelächter im Mund.

Es ist nicht viel daran, gewiss nicht viel Belustigung. Aber das Lächeln, das es auf Ringils Lippen prägt, zeigt herabgezogene Mundwinkel und ist hässlich vor Anstrengung.

Er sieht den Weg zurück, den er gekommen ist. Die niedrige Sumpfvegetation ist in einer wabernden Linie durchbrochen, wo er hindurchgegangen ist. Anscheinend hat er das Territorium der Sumpfspinnen verlassen, ohne es bemerkt zu haben. Die Spinnweben sind verschwunden. Der Geruch des Salzes erscheint jetzt stärker.

Erneut reibt er an der Wunde, und als der Schmerz dieses Mal sengend wird, atmet er ihn ein wie ein Parfüm aus einer liebevollen Erinnerung.

Er schaut sich um und glaubt, den hellen Funken eines Feuers am grauen Horizont zu entdecken.

Einen langen Augenblick starrt er hinüber und wartet darauf, dass er wieder verschwindet, so wie andere verfluchte Dinge hier wieder verschwinden.

Als es jedoch bleibt, als es zu einem Leuchtfeuer am kalten grauen Himmel wird, knurrt er und macht sich in diese Richtung auf. Der kalte Wind in seinem Rücken treibt ihn voran.

Na gut. Was sollst du sonst jetzt tun, Gil – stehenbleiben?

Von Zeit zu Zeit flackern die Steine beim Gehen, erscheinen und verschwinden wieder. Aber jetzt ist es weniger das Gefühl eines Gefängnisses, sondern mehr das eines schützenden Panzers.

 

Als seine Geister erscheinen, freut er sich fast über ihren Anblick. Das zumindest ist etwas, woran er gewöhnt ist.

Ja, dir geht es gut. Skimil Shend trabt düster neben ihm einher, in aufgesprungenen Lederstiefeln, schlecht geflickten Hosen und einem weißen Hemd, das schon bessere Tage gesehen hat. Du steckst nicht in einer übelriechenden Mansarde in dieser nach Scheiße stinkenden Möchtegern-Stadt fest. Du bist kein Exilant.

Eigentlich, Ringil beschleunigt den Schritt so gut, wie es der nasse Boden und seine zittrigen Beine ihm erlauben wollen, bin ich einer.

Oh, das nennst du Exil? Ein angeheuerter Botschafter für die majakischen Ebenen, Bezahlung für eine Sinekure, dazu die Anweisungen der Stadt, die deine Extravaganzen decken? Das ist kein Exil, das ist eine Lizenz, die Ärsche von geilen Pferdezüchtern zu plündern. All diese jungen Dinger mit den eisernen Schenkeln. Das ist vielleicht eine Bestrafung! Ich – Shend zeigt in bombastischem Selbstmitleid mit dem Daumen auf die eigene Brust – ich leide für meine Kunst.

Oh, halt doch den Mund!

Aber er muss sich fragen, nur ganz kurz und obwohl er sich dagegen gewappnet hat, welche Form sein Leben in der Welt dieser Alternative, zu der Shend gehört, wohl angenommen hätte. Ein Shend, der letztlich nie heimgekehrt ist, und ein Ringil , der …

Die Erscheinung ›Sturm‹ ist eine Krümmung im Material eines jeden möglichen Ergebnisses, welches das Universum zulassen will, hatte Seethlaw ihm einmal erklärt, als sie draußen in den grauen Orten das Lager aufgeschlagen hatten, mit aller Souveränität eines Adligen der Niederungen bei einem Picknick. Sie nimmt die Alternativen auf wie eine Braut, die ihr Kleid aufnimmt. Für einen Sterblichen sind jene Alternativen zumeist Wege, die sie nie einschlagen, Dinge, die sie nie tun werden.

Er weiß, er erschafft den Aspektsturm jedes Mal, wenn er in den grauen Orten umhergeht. Er umweht ihn in kaum erkennbaren spinnwebhaften Strudeln, und die Fragmente dieser Alternativen wirbeln um ihn herum wie Wasser bei einem Gewitterguss, das sich in einen Abwasserkanal ergießt.

Ihr lebt innerhalb von Millionen verschiedener Möglichkeiten gleichzeitig. Die – leicht angeheiterte – Ansicht eines Gelehrten in Dwendakunde, den er damals in Trelayne kannte. Stellt Euch vor, welchen Willen es erfordern würde, so etwas zu überleben! Der durchschnittliche menschliche Bauerntölpel würde schlicht völlig wahnsinnig darüber werden.

Es hört sich wirklich wie Wahnsinn an: ein Ringil, nicht enterbt, ein Ringil, von der Familie geschätzt – ja, oder vielleicht weich genug, sich dem Familienwillen zu beugen –, sodass seine Gesetzesübertretung keine schlimmere Sanktion nach sich zöge als eine fragwürdige diplomatische Beförderung. Er sieht sich selbst, wie er höflich aus jenem anderen Trelayne mit einem Rang hinausbefördert wird, der ihm das Gesicht wahrt und ein Amt und einen Stab sichert. In manierlicher Unehre eintausend Meilen nordöstlich in die Steppen geschickt zu einem Ort, an dem sein Begehren den Namen des Hauses Eskiath nicht mehr in Verruf bringen kann, weil niemand in Trelayne wissen wird, was er dort tut, und weil es auch niemanden mehr kümmert.

Er überlegte vage, ob er unter jenem schmerzhaft offenen Himmel einen alternativen Egar getroffen hätte. Einen Egar, der vielleicht nicht ganz so resolut und ausschließlich auf Fotzen fixiert gewesen wäre.

In seiner Brust rührt sich jetzt ein Gefühl, das gefährlich nahe am Begehren liegt.

Was, wenn …

Er unterdrückt es.

Lass den Scheiß, Gil! Es gibt keine Alternativen. Du lebst mit dem, was ist.

Und du lässt nicht zu, dass deine Geister sich in deinem Kopf einmieten.

Trotzdem wirft er einen Blick zur Seite auf Shend. Er kann den Impuls nicht völlig unterdrücken, und es ist kein schöner Anblick. Die einstmals feinen Züge des Poeten sind jetzt, mit den Jahren, eingefallen und aufgedunsen, und sein Haar ist mangels Pflege strähnig geworden. Seine Fingernägel sind bis aufs Nagelbett abgekaut, sein Bauch hängt ihm wie die Schürze eines Geldwechslers herunter. Dass er eines Morgens im Exil erwachte und einfach aufgegeben hatte, ist ihm wie ein Brandmal ins Fleisch geschrieben.

Aufgequollene Augen erwidern Ringils Blick. Was guckst du so? Siehst du was, das dir gefällt?

Sieh mal, Hinerion ist nicht so schlimm, sagt Ringil voller Unbehagen.

Wirklich? Warum verschwindest du dann von hier?

Ich … verschwinde nicht. Ein wenig ungewollte Verwirrung in der Stimme bei diesen Worten. Ich …

Jähes, zerknittertes Bild eines schwarzen Segels am Horizont.  … sterbe …?

Shend schnieft. Sieht für mich aus, als würdest du verschwinden. Und in einer so fröhlichen Gesellschaft.

Ringil wehrt einen Schauder ab.

Ich begreife einfach nicht, wieso das Leben in Trelayne eine so große Sache sein soll, sagt er zu dem Poeten. Zu Hause warst du mehr als die Hälfte der Zeit pleite, hast dir stets Geld von Milacar oder den Jungs vom seidenen Haus geborgt und dich dann abgestrampelt, um es wieder zurückzahlen zu können. Wie kann das schlimmer sein als ein bezahltes Exil in Hinerion?

Shend starrt düster in das Sumpfland hinaus.

Ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Warum auch? Du hast dich immer schon gern im Schmutz gewälzt. Ich könnte mir vorstellen, dass du dich ebenso wohl dabei fühlst, wenn du deine Hüften an unseren dunklen südlichen Nachbarn reibst, wie bei allem anderen Gesocks.

Ja, ja. Ich habe dich gefickt, stimmt’s?

Oh! Oh! Der Shend, an den Ringil sich erinnert, konnte sich deutlicher artikulieren. Nicht so schrill. So weit ist es also gekommen, nicht wahr? Na ja, nicht ich bin derjenige mit Flüchtlingsblut in meinen Adern. Nicht ich bin derjenige mit einer Haut, die sich in der Sonne bräunt wie die eines Sumpfbauern. Ich meine, wie kannst du es wagen! Du stammst aufseiten deiner Mutter praktisch direkt aus der verdammten Wüste!

Was, ganz zu schweigen von dem schrillen Ton, ebenfalls so wenig stimmt, dass man es als offene Verleumdung bezeichnen kann und gezogenen Stahl zur Folge hat, zumindest in Ringils Version der Welt. Die Verbindung zu den Flüchtlingen aus dem Süden liegt gut mehrere Generationen zurück – yheltethische Kaufleute, bei dem einen oder anderen religiösen Schisma vertrieben, als das flügge werdende Reich mal wieder über klerikale Punkte der Doktrin in Zuckungen verfiel –, und bei der Geburt von Ringils Mutter hatte sich die Ahnenreihe eine Weile lang ziemlich freizügig mit dem dortigen Blut gemischt. Eigentlich sogar allzu freizügig, meinten einige und verwiesen auf eine Anzahl unglücklicher Seitenzweige im Familienstammbaum, wo sich, drücken wir es so aus, die Herkunft von den Sumpfbewohnern schwer leugnen ließ.

Aber Shend ist eigentlich niemand, der darauf den Finger legt – wie viele der kleinlichen Adeligen in Trelayne weist auch der Klan von Shend selbst nicht nur einige wenige Stellen in der Ahnenreihe auf, die den Hauch des Sumpfs in sich tragen. Die verräterische Physiognomie ist für alle zu erkennen. Ringil wählt seine Entgegnung mit grausamer Sorgfalt.

Weißt du, du solltest nicht so über südliches Blut herziehen, Skim. Wenn deine Mutter aus dem Süden gekommen wäre, hätte sie dich mit Wangenknochen ausstatten können.

Und du solltest dich einfach – verpissen und sterben!

… sterben, sterben, sterben!

Das letzte Wort hallt anscheinend nach, in Ringils Kopf, oder über den Himmel, er weiß es nicht so genau. Er verzieht das Gesicht.

Vielleicht werde ich sterben.

Grobes Schweigen, das auf seine Ohren drückt, und das leise Schmatzen seiner Schritte im Sumpf. Ringil sieht sich um und entdeckt, dass der Dichter, vielleicht unter ein paar letzten beleidigten Anfällen, verschwunden, zusammen mit dem Echo seiner Abschiedsworte verblasst ist.

Dieses Fünkchen Feuerschein am Himmel kommt anscheinend auch nicht näher.

 

Später, als hätte sie irgendwie Shends Beleidigungen ihre Herkunft betreffend gehört und wäre davon angezogen worden, tritt Ishil Eskiath in Erscheinung. Während er sorgfältig die Ausläufer einer weiteren Durchseuchung von Sumpfspinnen umgeht, ist Ringil überrascht davon, wie schwer er es erträgt. Er kann nicht einschätzen, wie stark sich diese Frau von der Mutter unterscheidet, die er aus der wirklichen Welt kennt, aber sie wirkt richtig glücklich, was seiner Auffassung nach einen beträchtlichen Unterschied ausmacht.

Lanatray, beharrt sie strahlend. Dort hat es dir immer gut gefallen.

Dort bin ich fast ertrunken, Mutter.

Er kann nichts dagegen tun, gegen den eingeschnappten Tonfall. Aus dem Augenwinkel sieht er, dass sie das Gesicht verzieht, aber sie sagt nichts. Eine weitere Veränderung – die Ishil Eskiath, die er kennt, würde ihm nie das letzte Wort lassen, vor allem dann nicht, wenn er sie gerade verletzt hat.

Er seufzt. Hör mal, es tut mir leid. Aber du kennst mich nicht, Mutter. Du glaubst, mich zu kennen, aber du kennst mich nicht.

Oh, Ringil, meinst du nicht, das würde jeder Junge von seiner Mutter denken?

Sie legt eine Hand auf die seine. Er zuckt leicht bei dieser Berührung zusammen – an ihr ist etwas Kühles und nicht völlig Menschliches. Den Geistern an den grauen Orten mangelt es offenbar an der normalen Wärme lebendiger Dinge, und er vermutet, dass sie ihm etwas von seiner Wärme entziehen, damit sie ihn weiterhin umkreisen können. Vielleicht ist es das, wovon sie angezogen werden wie Motten von einer schimmernden Lampe irgendwo im Grau des Sumpflands. Aber …

Ich habe dich länger gekannt als du dich selbst, sagt sie.

Er starrt die trüben, dicken, glitzernden Büschel von Spinnweben über dem Sumpfgras vor sich an. Dann sag mir, was ich denke.

Oh, das Übliche. Ishils Stimme wird abrupt hart und glitzernd wie ein Edelstein. Ihn durchfährt ein Schauder – plötzlich ist sie ein perfektes Ebenbild der Mutter, die er kennt. Du fragst dich, wie ich es fertigbringe, mit der täglichen Wahrheit über eine Ehe mit deinem Vater zu leben und mir nicht an einem sonnenhellen Nachmittag in meinem Badewasser die Adern aufzuschneiden.

Na ja …

Sie lacht. Einiges der Härte sickert aus ihrer Stimme. Du bist ein solcher alter Romantiker, Gil! Versuche doch mal, dir für einen Augenblick vorstellen, dass du als Mädchen zur Welt gekommen wärst. Kinder oder Bordell, das sind deine Möglichkeiten. Wir kommen einfach nicht so weit, eine Klinge zu tragen und uns unseren eigenen kompromisslosen Weg durch die Welt zu schlagen wie die Jungs.

Er hat Frauen gekannt, die das getan haben, drüben im alten Lagerhallenviertel und unten am Hafenende. Zugegeben, nicht viele davon haben ihre Jugendjahre überlebt. Er vermutet, dass es auch nicht viele erwartet hatten.

Frauen kennen den Preis der Dinge, Gil. Wir lernen es hart und schnell auf dem Knie unserer Mutter, wenn wir helfen, sorgen, holen und tragen, während unsere Brüder achtlos der Welt gegenüber nach wie vor Ritter und Feinde spielen. Die Welt überfällt uns früh.

Du hältst es anscheinend durch, sagt er mürrisch. Worin besteht das Geheimnis?

Kinder, teilt sie ihm in jäher Wärme mit. Sie zur Welt bringen. Sie durchbringen. Das weißt du.

Er erträgt ihren Gesichtsausdruck bei diesen Worten nicht. Er wendet sich ab von ihrem bohrenden Blick, halb geblendet. Er überlegt mit einer seltsamen, ruhigen Verzweiflung, wie viele Male die Ishil, die er kennt, ihn so angesehen haben mag, ohne es jemals zu erkennen oder zu wissen.

Bist du deswegen hier? Mich zu durchschauen?

Wiederum lacht sie, die Stimme dieses Mal völlig frei. Ich bin hier, weil ich dich wegen der Hochzeitsvorbereitungen fragen will, Gil. Die Eheringe für dich und Selys, Gold oder Silber? Rote Rosen oder weiße für den Weg der Braut?

Was, fragt er schwach.

Und die Einladungen, die Liste? Bestehst du wirklich darauf, die Kaads zu brüskieren, oder sollen wir das Vergangene vergangen sein lassen? Komm schon, Gil, verdirb deiner Mutter nicht die größte Stunde! Ich bin so glücklich für euch beide. Ist das so seltsam?

Es ist so verflucht seltsam, dass er nicht einmal darüber nachdenken möchte. Er zeigt auf die Spinnweben, um Zeit zu gewinnen. Hör mal. Ich werde niemanden heiraten, bevor wir nicht zunächst einen Weg hierdurch finden.

Warum versuchst du es nicht dort drüben?

Zu seinem Ärger erweist es sich als guter Ratschlag. Es gibt Stellen, an denen sind die Spinnennetze ausgefranst und alt, verklebt durch ausgesogene Hüllen von Insekten und kleinen Sumpftieren. Kein Anzeichen heimlicher, gelenkiger Bewegung. Er zieht den Rabenfreund nur für den Fall der Fälle aus der Scheide, stochert zweifelnd ein wenig herum und gibt dann auf. Ishil hat wohl recht.

Dann hier entlang?

Hier entlang, stimmt sie zu. Geh immer so weiter, es ist der beste Weg hier heraus. Was ist jetzt also mit den Kaads? Im Ernst. Dein Vater meint, sie sollten kommen.

Da gehe ich jede Wette ein. Grimmig schlägt er sich durch die alten Netze und das Gras und die winzigen, ausgetrockneten, herabhängenden Hüllen, die beim Vorübergehen hin und her pendeln und sich um die eigene Achse drehen. Die Politik des Kanzleramts schläft nie, stimmt’s?

Oh, fang nicht damit an, Gil!

Also lässt er es. Er lässt sie stattdessen reden. Und obwohl er es nicht gern zugibt, ist ihre Stimme, die neben ihm ertönt, merkwürdig tröstlich.

Was du nicht zu würdigen weißt, Gil, ist, dass dein Vater trotz aller Grausamkeiten und Indiskretionen ein großer Schild in schweren Zeiten gewesen ist. Du weißt nicht, wie es damals in den Zwanzigern war. Wir hatten damals nicht das schuppige Volk, das uns einte. Yhelteth war ein verachteter Feind …

Jagenau in die Richtung geht es heute auch wieder.

Aber sie hört ihm anscheinend nicht zu. Die Scharmützel an den Grenzen gingen jahrelang hin und her, Gil, alle paar Wochen kamen Nachrichten von einer Stadt, die in Schutt und Asche gelegt und deren Bevölkerung in Ketten davongeführt worden war. Und wir waren gezeichnet. Da war es gleich, dass wir ehrliche Kaufleute mit Reichtum in unseren Truhen und einer Generation besonnener Ehebündnisse waren. Wir hatten trotzdem die rote Farbe an unserer Tür, trotzdem war uns das Kanzleramt versperrt. Auf der Straße bewarf man uns mit Steinen, die Gassenjungen bespuckten uns ungestraft. Südlicher Abschaum, südlicher Abschaum. In den Schulen, die wir besuchten, schlugen die Priester meine Brüder bei jeder Gelegenheit. Einer von denen schleuderte Eldrin einmal zu Boden, nannte ihn einen yheltethischen Welpen, trat ihn von seinem Schreibpult zur Tür und hinaus in den Korridor. Er war fünf. Er kam grün und blau geschlagen heim, und mein Vater, beschämt, konnte nichts dagegen tun. Stattdessen ging meine Mutter bei den Priestern betteln, und die Schläge hörten eine Weile lang auf, aber Zeit ihres Lebens hat sie später nie von diesem Besuch gesprochen. Weißt du, wie erleichtert meine Eltern an dem Tag aussahen, als ich Gingren Eskiath heiratete? Weißt du, wie glücklich ich für sie war?

Waren sie glücklich wegen dir?

Keine Antwort.

Er sieht sich um und entdeckt, dass sie ihn gleichfalls verlassen hat.