35

Hämmern ans Tor. Gedämpfte Stimmen.

Ringil rührte sich in dem breiten Bett. Seine weinumnebelten Sinne suchten nach einem Anhaltspunkt für seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort und vor allem dafür, was dort draußen vor sich ging. Er hatte von Egar geträumt – irgendeinen verworrenen Unsinn; dass sie des Nachts draußen in der Steppe saßen, dass er das Knistern und Knacken der Flammen des Lagerfeuers hörte und das bärtige Gesicht des Drachentöters vor der funkensprühenden Dunkelheit beobachtete, dass er seine Lippen beobachtete, wie sie Worte formten, die er fast verstand, irgendwie jedoch auch wieder nicht.

Er tauchte daraus empor, durchbohrt von einem schleichenden schwarzen Unbehagen und einem Gefühl für Zeit und Ort, das hoffnungslos durcheinander geraten war …

Die Gerüche nach feuchter Erde, nach gerade stattgehabtem Sex, erfüllten das Zimmer. Vor den Fensterläden war es immer noch dunkel.

Hämmern an …

… Knallen der Tür, als sie gemeinsam betrunken hereinstolperten. Noyal Rakan, den er fest gegen das Holz schob, woraufhin er sich gegen ihn drückte. Grinsen und leises Knurren, und dann schob Gil steife Finger durch die üppigen, herabbaumelnden Locken des jungen Kommandanten und zog Rakans Gesicht näher zu sich heran, für den ersten forschenden Kuss …

Aha.

Endlich hatten sie sich von dem langen, feierlichen und unglaublich langweiligen Bankett, das Shanta zu Ehren des Klans Nyanar ausgerichtet hatte, zurückziehen können, welch ein Segen! Vater und ältester Sohn besagten Klans hatten über die festliche Tafel hinweg doziert, wie es nur Höflinge konnten. Und unten am Tisch setzten Shanta und Nethena Gral einen öden, manierierten Kontrapunkt. Ausschweifende Toasts gingen hin und her wie immer höher steigende Wetten bei einem blasierten Spiel voller Schmeichelei und Formalität. Eine Rede nach der anderen, eine schwülstiger als die andere, zum größeren Ruhm des Reichs, des Imperators, der imperialen Charta und dem fast sicheren Erfolg des ganzen Unternehmens, unser gegenwärtiges Abenteuer. Unmöglich, dass es nicht zur Bereicherung der großzügigen Weisheit seiner Lichtgestalt beiträgt …

Er ertappte Archeth dabei, ein Gähnen ebenso zu unterdrücken wie einen finsteren Blick. Wagte anschließend nicht, sie anzusehen, weil er befürchtete, er könne die Blasen der Heiterkeit, die in seinem Bauch aufstiegen, nicht mehr unterdrücken. Stattdessen fing er Noyal Rakans Blick auf und hielt ihn ganz sanft. Er spürte ihn flattern wie eine Motte in der hohlen Hand.

Unter dem Satintischtuch eine zunehmende Hitze im Geschlecht.

Hebt Eure Gläser, ich bitte Euch, meine Herren und Damen, hebt erneut Eure Gläser und trinkt auf die heilige Macht von Yhelteth und seine gottgewollte Mission, welche die Menschheit aus den Schatten weniger …

Gähn.

Während Shanta später die Nyanars und ihre Begleitung zur Tür brachte und sich von allen verabschiedete, schritt Ringil hinter Rakan durch die schwach vom Lampenschein erhellten Korridore der Villa am Fluss und lenkte den jüngeren Mann nach und nach zu den Zimmern, die Shanta ihm zugewiesen hatte. Es war ein angespanntes, dünnhäutiges Theaterspiel. Hier und da blieben sie stehen und bewunderten den Geschmack des Marineingenieurs bei Malerei oder Bildhauerei, und gemurmelte, bedeutungslose Silben wurden am Rand eines aufgeregten Gelächters ausgetauscht. Sie streiften einander scheinbar zufällig, drehten sich jäh um und blickten sich in die Augen, sahen dann weg, als aus jenen aufsteigenden Blasen der Heiterkeit in Gils Bauch etwas Dringlicheres wurde …

Und hervorbrach.

Einmal, nur einmal, knapp vor jenem ersten Kuss, zögerte Rakan, sagte Rakan:

Ich … mein Bruder, er … Er hätte es nicht …

Scheiß doch auf deinen Bruder, knurrte Ringil, die Zunge wie im Fieberwahn an den Spitzen der eigenen Zähne. Ich ficke dich, nicht ihn.

Und dann war es prachtvoll und brennend und heiß, Haut an Haut, nachdem die Tür hinter ihnen zugeschlagen war. Es war Küssen und Klammern, Kleidung abschälen und schließlich Hinknien vor Rakans ausgeprägter, soldatenhafter Muskulatur. Es war seinen angeschwollenen Schwanz in den Mund nehmen und schmecken, einsaugen, schlucken, dieses ganze samtige Fleisch, als wäre er ein Mann, dessen ungeheuerlicher Durst schließlich gestillt wurde.

Der junge Kommandant schien fast zu weinen, als er kam. Immer und immer wieder drückte er seine Hände auf Ringils Kopf, tätschelte ihn. Es war wie der Versuch, dem Mann, der ihm das tat, einen Schleier oder vielleicht ein Diadem aufzusetzen.

Ringil stand auf, grinste vampirhaft bei dem Geschmack, nahm Rakans immer noch schaudernden Leib in die Arme, legte ihn aufs Bett und drehte ihn um …

Hämmern ans verdammte Tor.

Stimmen, die jetzt vernehmlich und heiser etwas auf Thetannisch brüllten.

»Sofort öffnen, im Namen des Imperators!«

Ringil setzte sich in den Laken auf. Er griff neben sich und entdeckte die glatten, schwellenden Rundungen von Rakans Rumpf. Auch der Kommandant richtete sich auf einen Ellbogen auf.

Bei der Berührung mit der Haut des anderen Mannes wallte ein winziger Schmerz in ihm auf. Er blinzelte, schluckte – ein jäher Schock, weil er in dem Gefühl das erkannte, was es war: eine obskure Dankbarkeit, dass Rakan geblieben war. Nicht, wie Gil bei solchen Spielen zu erwarten gelernt hatte, die Szene fluchtartig verlassen hatte.

»Verdammt, was ist denn da draußen los?«, knurrte er im Bemühen, seine Gefühle zu verbergen.

»Vom Palast«, sagte Rakan düster.

Sie hörten, wie sich Riegel lösten und das Tor aufging. Hufgeklapper auf Pflastersteinen. Ringil stieg aus dem Bett und ging zum Fenster. Er zog den Vorhang vorsichtig einen halben Zoll beiseite.

Unten in Shantas Hof saßen Boten in imperialem Ocker und Schwarz auf ihren widerspenstigen Pferden, während Shantas gerade gewecktes Personal herumwuselte. Ringil sah noch so lange zu, bis Shanta persönlich herausgeeilt kam, wobei er sich einen Morgenmantel überstreifte. Das spärliche graue Haar stand in allen Richtungen ab. Er blickte zu dem Anführer auf, und sein Mund bewegte sich, aber der allgemeine Aufruhr war zu groß, als dass Gil die Worte hätte verstehen können. Hinter ihm tauchte Archeth auf, vollständig bekleidet – sie war offenbar überhaupt nicht im Bett gewesen.

Ringil ließ den Vorhang zurückfallen und wandte sich wieder dem Raum zu. Rakan war bereits aus dem Bett, schlank und hart im schwachen Licht. Gil seufzte.

»Anscheinend ist der Spaß vorbei«, sagte er. »Sollte mich vermutlich besser anziehen.«

Sie waren beide erst halb bekleidet, da klapperten schon Archeths Stiefelabsätze draußen auf dem Flur, und sie rüttelte ungeduldig an der Tür.

»Gil? Bist du immer noch im Bett? Hast du den Krach da draußen nicht gehört? Wie viel hast du getrunken?«

Er schob den Riegel zurück, öffnete die Tür eine Handbreit und schaute sich um, ob sie allein war, bevor er weiter aufmachte.

»Verdammt, was hast du …« Sie sah Rakan, der mit freiem Oberkörper auf der Bettkante saß und sich zu seinen Stiefeln hinabbeugte. »Oh. Aha.«

Ringil lehnte sich an den Türrahmen und verwehrte ihr dadurch betont das Eintreten. »Willst du mir sagen, was das ganze Tamtam da draußen soll?«

Sie verzog das Gesicht. »Ja. Der Drachentöter hat gerade eine Schar von der Stadtwache aufgemischt, in diesem Söldnertreff unter der Brücke.«

»Im glücklichen Pony?«

»Ponyglück – aber heutzutage heißt sie Echsenkopf.«

»Oh, wie originell.«

»Gil, es ist scheißegal, wie diese Kneipe heißt! Er hat zwei Mitglieder der Wache getötet, vor der Hälfte der Söldner aus der Stadt. Weitere drei schwer verwundet, einer davon wird es nicht bis Sonnenaufgang überstehen.«

Unwillkürlich trat ihm ein Lächeln auf die Lippen. »Hab’s dir gesagt.«

»Ja, du hast es mir gesagt.« Die Stimme angespannt vor Ärger. »Du hast gut lachen, Gil. Mittlerweile möchte der Kommandant der Wache die Königsfänger hinzuziehen. Sagt, er kann’s sich nicht leisten, dass die Autorität der Wache an einem solchen Ort untergraben wird. Ist das falsche Signal an die falschen Leute. Er ist jetzt oben im Palast und verlangt das Eingreifen des Imperators in dieser Angelegenheit.«

»Au, Scheiße.« Ringil knallte den Hinterkopf gegen den Türrahmen und wünschte sich dann dringend, er hätte es nicht getan. Schloss die Augen gegen die Wogen des einsetzenden Katers, die der Schlag aufgerührt hatte. »Und Jhiral wird einknicken, stimmt’s?«

Archeth räusperte sich und warf einen warnenden Blick zur Seite, an Ringil vorbei zum Bett und zum Kommandanten des Ewigen Throns hinüber, der darauf saß.

»Er hat bereits den Klan der Ashant am Hals, der ihn zum Einsatz der Königsfänger drängt; jetzt weckt ihn das Oberhaupt seiner Miliz mitten in der Nacht und erzählt ihm genau dasselbe? Was würdest du da tun?«

»Ja«, erwiderte Ringil trostlos. »Erscheint irgendwie sinnig, schätze ich mal.«

»Allerdings.«

Rakan tauchte neben ihm auf, immer noch dabei, Schwertharnisch und Jacke überzustreifen. Er schluckte verlegen. »Ich, äh, Mylady. Ich muss zu meinem Imperator. Er könnte mich vielleicht brauchen …«

»Ja, wir gehen alle hin«, sagte Archeth. Sie sah betont auf Ringils noch nicht zugeknöpftes Hemd. »Sobald alle zum Ritt bereit sind.«

 

Der sie ein paar Stunden später zum Palast führte – eine stürmische, vom Bandlicht erhellte Jagd durch die schläfrigen Dörfchen am Ufer, wo Yhelteths Außenbezirke flussaufwärts zerfransten, und dann durch die verlassenen nächtlichen Straßen der Stadt selbst; eine Geschwindigkeit, die sie im Verkehr des Tages nie hätten erreichen können. Archeth, Ringil, Rakan und die Schwadron Boten, die nach ihnen geschickt worden war – sechs dunkle Gestalten, deren Mäntel hinter den Schultern wehten, und das Trommeln von Hufen im Galopp. Alles vermutlich sehr dramatisch, überlegte Ringil verdrießlich und steckte sich einen widerspenstigen Zipfel seines Hemds in die Hose, während er sich mit den Schenkeln ans Pferd klammerte. Wenn man zufällig in dieser gottverlassenen Stunde auf den Beinen ist und nichts Besseres zu tun hat, als mit offenem Mund die mysteriösen Reiter anzugaffen, die an einem vorüberdonnern. Das kann man dann noch seinen Enkeln erzählen, ist wie etwas aus einer Legende der Sumpfbewohner. Der letzter Ritt der dunklen Gesellschaft, der Bote vor der Morgendämmerung, die grausame Nachricht, die nicht warten würde, und so weiter …

Sein Schädel brachte ihn noch um.

Hoiran verfluche dich, Eg! Wenn du die Stadtwache schon erledigen musstest, hättest du das dann nicht wenigstens ohne Zeugen und irgendwo anders tun können?

Sie erreichten den Palast bei Tagesanbruch und stürmten die Haarnadelkurven im Dämmerschein des Morgengrauens hinauf. Der Höllenlärm von sechs Hufpaaren auf dem kiriathischen Pflaster entweihte die frühe Stille. Oben angekommen, zogen sie auf einen Ruf des Kommandanten hin die Zügel.

»Der Bote des Königs kommt! Öffnet die Tore!«

Gähnend rannten die Wächter, deren Schicht sich dem Ende entgegen neigte, aus ihren Wachhäuschen heran. Vom Ruf aufgerüttelt, fuchtelten sie mit den Hellebarden herum und versuchten, nach der einschläfernden nächtlichen Langeweile die zerborstenen Teile ihrer knallharten Bereitschaft wieder zusammenzusetzen. Der Bote brüllte erneut:

»Aufmachen, ihr Idioten! Im Namen des Imperators!«

Die Tore öffneten sich quietschend. Sie ritten hindurch. Im Innenhof dahinter eilte ein hochrangiger Sklavenhausverwalter heran, dessen Gesicht Archeth kannte, die Arme in seinen Gewändern verborgen. Hinter ihm schwärmten Stallsklaven aus.

»Mylady. Seine Lichtgestalt erwartet Euch in den Gärten der Königin.«

»Ja.« Sie schwang sich vom Pferd und hielt ihm die Zügel hin. Verspürte eine echte Erleichterung, weil sie bezweifelte, dass sie sich jetzt schon der Familie Ashant oder dem übrigen Hof stellen müssten. Offizielle Treffen und Beschwerden wurden normalerweise im Thronsaal abgehandelt. Alles andere war für private Besprechungen. Sie sah zu Ringil auf, der noch nicht abgestiegen war.

»Folg mir!«, wies sie ihn an, ins Naomische wechselnd. »Und mach es nicht noch schwerer, als es sowieso schon wird. Hüte deine Zunge und befleißige dich bitte einer höflichen Ausdrucksweise. Falls du deine Zunge behalten möchtest.«

Ringil grinste bösartig auf sie herab. »Ihr verletzt mich, Mylady. Bin ich nicht auf meiner Mutter Seite von adeligem imperialem Blut?«

»Fick dich, Gil! Ich meine es ernst.«

Im Eilmarsch stapften sie durch den Palast. Lange Korridore und ausgedehnte, geflieste Hallen und Innenhöfe. Sie kamen an Sklaven vorüber, die Fußböden schrubbten und Blumen gossen. Der Botenkommandant ging an der Spitze, wie das Protokoll es erforderte, aber Archeth bedeutete Rakan, er solle hinter ihm die Führung übernehmen. Höchstwahrscheinlich hätte Jhiral eine Wache vom Ewigen Thron bei sich, und sie würden wesentlich besser auf einen Kommandanten aus ihren eigenen Reihen reagieren, als auf einen bewaffneten, unausgeschlafenen und verkaterten Ringil.

Obwohl Rakan selbst, hm, na ja, also …

Nach dem, was sie in Ringils Schlafzimmer gesehen hatte, war der junge Kommandant ganz und gar nicht das, was sie von ihm erwartet hätte.

Sie schob diese Überlegung beiseite. Wir haben gerade genügend andere Sorgen, meinst du nicht, Archidi?

Breite, gewundene Treppenhäuser ging es hinauf, säulenbestandene Galerien entlang in die oberen Stockwerke. Die erwarteten Männer vom Ewigen Thron standen an den Eingängen zum Garten der Königin. Zwei waren es, in voller Uniform der Ehrengarde. Sie grüßten Rakan, und einer von ihnen führte die Gesellschaft über die staubigen, von Blättern übersäten Gänge zum Balkon, wo eilig ein leichter Klapptisch aufgestellt und mit seidenen Tüchern und einer Fülle von Tellern und Schüsseln gedeckt worden war. Küchensklaven standen bereit – hinter ihnen weitere Männer vom Ewigen Thron. Seine imperiale Lichtgestalt Jhiral Khimran saß wartend in einem Lehnsessel und kaute gerade an einem gebratenen Hähnchenschenkel.

Der Botenkommandant fiel vor ihm auf ein Knie.

»Lady kir-Archeth«, verkündete er. »Wie befohlen. Mit ihr bringe ich Euch Ehrenkommandant Noyal Rakan. Und, äh, Lord Ringil Eskiath von den Feldern des Hauses Eskiath in Trelayne.«

Er erhob sich wieder, verneigte sich und trat beiseite. Jhiral musterte die Neuankömmlinge ohne viel Begeisterung. Er war angekleidet und trug Stiefel, was zu dieser Stunde bedeuten musste, dass er noch nicht zu Bett gewesen war, und in seinen Zügen lag ein leicht verschwommener Ausdruck, aus dem Archeth Alkohol oder vielleicht auch Flandrijn herauslas. Wie sie wusste, hatte er vor Kurzem mit der Droge herumexperimentiert und sie in seine Haremsitzungen eingebaut.

»Eskiath«, sagte er stirnrunzelnd. »Da klingelt bei mit etwas. Sollte ich diesen Namen von irgendwoher kennen?«

Ringil zuckte die Achseln. »Euer Vater hat mir einmal einen Orden verliehen.«

»Wirklich?« Jhiral biss ein weiteres Stück Hähnchen ab und kaute, nach wie vor stirnrunzelnd. »Also seid Ihr ein Kriegsheld. Und habe ich dieser Ehrenbezeigung beigewohnt?«

Ringil begegnete dem Blick des Imperators. Seine Augen funkelten. »Ich erinnere mich nicht mehr.«

Jhiral versteifte sich.

»Lord Ringil war wesentlich für unseren Sieg in Ennishmin vergangenes Jahr verantwortlich«, sagte Archeth hastig. »Ihr erinnert Euch, ich habe ihn Euch gegenüber erwähnt.«

»Oh, ja.« Aber der Imperator war nicht beschwichtigt. Er musterte Ringil mit einiger Geringschätzung. »Na ja, dann muss es das sein. Obwohl, wenn ich es recht verstanden habe, dann seid Ihr am Ende heimgeritten, Herr Ritter von Trelayne, zurück zu diesen erbärmlichen Handelsposten oben im Norden.«

Ringil nickte liebenswürdig. »Wie immer, wenn das Werk getan und das Reich gerettet war. Aber Mylord, es wäre weise, nicht so viel Vertrauen in Erzählungen zu setzen. Sie sind kein Ersatz dafür, selbst hinauszuziehen und sich umzuschauen, wie Euer Vater es tat.«

Verblüfftes Schweigen breitete sich nach diesen Worten aus – wie Wellen, die ein grober Ziegel erzeugte, den man ihn in einen Zierteich warf. Die Luft schien davon erschüttert. Beide Männer starrten einander an. Die Männer vom Ewigen Thron rührten sich. Ringil lächelte …

Archeth trat vor, stellte sich zwischen die beiden.

»Ich habe Lord Ringil damit beauftragt, unsere Expedition nach An-Kirilnar zu leiten. In dieser Funktion wird er für uns von unschätzbarem Wert sein.« Die letzten Worte stark betont. »Er hilft uns bei der routinemäßigen Planung und wird den Großteil der diplomatischen Gespräche übernehmen, wenn wir das Gebiet der Liga erreichen.«

Jhiral entspannte sich, einen Muskel nach dem anderen. Er zog eine imperiale Braue hoch. »Diplomatische Gespräche, hast du gesagt?«

»Ja, Mylord. Als Mitglied der Aristokratie der Niederungen wird er auf einer Ebene Zugang haben, die ideal für unsere Zwecke ist.«

Wiederum sorgsam hochgezogene Brauen – na ja, wenn du das sagst. Immer noch kauend warf der Imperator seinen abgenagten Hähnchenschenkel auf den Teller zurück und hielt träge eine Hand hoch. Ein Sklave mit einer Serviette eilte herbei. Jhiral nahm sie entgegen und wischte sich gedankenvoll die Hände.

»Bei diesem Treffen jetzt«, sagte er, »geht es nicht um die Expedition nach An-Kirilnar, Archeth.«

»Ja, Mylord. Das hat man mir zu verstehen gegeben.«

Jhiral warf die Serviette dem Hähnchenschenkel hinterher. Ließ sich zu einem Wink zu Ringil herab. »Was tut er also hier?«

Halt bloß deinen verdammten Mund, Gil! Eilig warf sie ein: »Lord Ringil ist, äh, bekannt mit Egar Drachentöter. Sehr gut bekannt.«

»Wie passend! Im Augenblick stehen uns die Kriegshelden offenbar bis zum Hals. Hoffen wir bloß, dass der hier sich besser darauf versteht, wie er sich außerhalb des Kriegs zu benehmen hat, als dein drachentötender barbarischer Hausgast.« Der imperiale Blick flackerte zurück zu Ringil. »Ihr wart, vermute ich, Waffenbrüder, so was in der Art?«

»So was in der Art«, stimmte Ringil sanft zu.

Jhiral stand auf. »Na ja, Euer Waffenbruder steuert auf den Henkersblock zu, fürchte ich. Soll heißen, falls ich der trauernden Familie von Saril Ashant ihre Forderungen nach seinem Tod im geheimen Besprechungsraum ausreden kann. So sieht’s aus. Die Ehre des Kriegshelden bringt einem nicht viel, fürchte ich, wenn man einen anderen Kriegshelden in dessen eigenem Schlafzimmer niedergemetzelt hat. Oh, und, äh, dabei auch noch die Tugend seines guten Eheweibs in den Schmutz gezogen hat – offensichtlich. Bei einer derart gewaltigen Dummheit gibt es kein Zurück mehr. Das Todesurteil ist bereits geschrieben und unterzeichnet.«

»Welch ein Unglück!« Eine kalte Schärfe kroch jetzt in Ringils Stimme. Archeth warf ihm einen warnenden Blick zu.

»Nicht wahr?« Der Imperator hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Er ließ den Blick über die Speisen auf seinem Tisch schweifen und war sehr um einen Plauderton bemüht. »Drei tote Wächter, Archeth. Zwei weitere verkrüppelt, einer wahrscheinlich für immer. Und das vor einer Kneipe voller ausländischer Söldner. Das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Der Kommandant der Wache schreit nach Unterstützung durch den Palast, und Kadral Ashant brummelt überall am Hof etwas von undankbarer Führerschaft. Und das alles, weil du nicht wolltest, dass ich die Königsfänger einsetze.«

»Tut mir leid, Mylord. Ich habe anscheinend unterschätzt, wie …«

»Oh, Schwachsinn, Archeth!« Fäuste knallten auf den Tisch. Unter der Wucht des Hiebs sprangen Teller hoch. Jhiral fuhr herum, das Gesicht dunkelrot, und schritt auf sie zu, als wollte er sie schlagen. »Schwachsinn! Hältst du mich wirklich für so blöde? Du hast nicht gewollt, dass er erwischt wird! Du hast geglaubt, er würde die Stadt verlassen, und du wolltest ihm einen guten Vorsprung verschaffen. Na ja, er hat die Stadt nicht verlassen, oder? Oder?«

Drei Fuß entfernt blieb er stehen, wie von einer unsichtbaren Leine festgehalten. Funkelnd sah er sie an. Die beringten Finger der rechten Hand zuckten an seiner Seite. Offenbar musste er sich sehr zusammenreißen, nicht zuzuschlagen.

Links neben ihr rührte sich Ringil – eine winzige, undefinierbare Änderung der Haltung, das sah Archeth aus dem Augenwinkel. Oder eigentlich spürte sie es eher. Er, und das musste sie nicht sehen, beobachtete Jhiral, beobachtete diese zuckende imperiale Hand, die darum rang, sich nicht zur Faust zu ballen. Er war davon gefangen, gefangen in jener schrecklichen, leicht belustigten Losgelöstheit, die dem stählernen Lied vorausging, dem einzigen, das der Rabenfreund zu singen verstand.

Sie spürte, wie die Atmosphäre sich verdichtete, spürte das Gleichgewicht auf dem Balkon schwanken, spürte es kippen. Wenn Jhiral diese Faust schloss und sie hob …

Gil würde ihn umbringen – sie wusste es ebenso deutlich, als wäre es bereits geschehen.

Sie hob die Arme in offener Anerkennung der Schuld, und ihr linker Arm blieb nur einen Augenblick länger oben und blockte Ringil und den Weg des Rabenfreunds ab. Sie hoffte, das würde reichen, und neigte den Kopf vor ihrem Imperator.

»Ihr habt recht, Mylord. Die Schuld liegt ganz bei mir.«

»Das kann man wohl sagen, verdammt, Archeth.« Eine ätzende Befriedigung in Gesicht und Tonfall, hörbar und ebenso rasch wieder versickert. Er räusperte sich und winkte vorsichtig mit der Hand, die es noch vor so kurzer Zeit danach verlangt hatte, sich zur Faust zu ballen. »Also gut. Sinnlos, auf deinem offensichtlichen Fehler in dieser Angelegenheit weiter herumzureiten. Wieder einmal ist es mir überlassen, die schwierigen Entscheidungen zu treffen und das Richtige zu tun. Die Königsfänger sind ausgeschwärmt, Archeth. Er ist erledigt. Ich habe den Befehl vor einer Stunde unterzeichnet. Sie werden diesen Drachentöter herbringen, tot oder lebendig, und der Gerechtigkeit wird genüge getan werden. In der …«

»Mylord, wenn ich …«

»In der Zwischenzeit, Mylady.« Er wartete ab, ob sie es wagen würde, ihn erneut zu unterbrechen; sah, dass sie es nicht tat, und fuhr in brüskerem Tonfall fort: »Wird Euch der Kommandant der Fänger nach Hinweisen auf die Gewohnheiten und Lieblingsplätze ihres Jagdobjekts befragen wollen. Auch Euren Freund hier aus dem Norden, könnte ich mir vorstellen. Rakan?«

Noyal Rakan fuhr auf. »Mylord?«

»Führt Lady kir-Archeth und ihren edlen Begleiter, so schnell es geht, in den Flügel mit den Kasernen der Königsfänger. Taran Alman erwartet sie dort.«

»Ja, Mylord. Sogleich.«

Sie wandten sich zum Gehen. Archeth in aller Eile, weil sie sowohl verbergen wollte, was sich in ihren Augen zeigte, als auch den schäumenden Drang zu sprechen unterdrücken musste, der hinter ihren zusammengebissenen Zähnen brodelte. Ringil nahm sich etwas mehr Zeit und maß in abschätzender Ruhe den Imperator mit dem Blick.

Jhiral sah es und war entrüstet. »Wolltet Ihr mir etwas sagen, Ringil Eskiath? Eine Klage oder Bitte vorbringen, vielleicht?«

»Nein.« Ringil rührte sich nicht. »Keine. Ich glaube, Eure imperiale Scheingestalt hat alles gesagt, was hier zu sagen war. Jetzt bleibt nur noch die Ausführung.«

Jhiral lachte, aber in dem Gelächter lag ein unsicheres, heftiger werdendes Zittern, das er nicht verbergen konnte. Sowohl Archeth als auch Rakan hörten es, und beide blieben wie angewurzelt stehen. Die Ehrenwache vom Ewigen Thron hörte es ebenfalls und spannte sich stärker an.

Ringil schenkte ihnen einen flüchtigen abschätzenden Blick, dann fixierte er Jhiral erneut.

»Habe ich Eure Scheingestalt irgendwie amüsiert?«

Jhiral räusperte sich und wandte sich leicht zu seinen Sklaven und Soldaten um, reine Effekthascherei. »Na ja, Eure Sprachkenntnis ist sehr zu loben, Mylord. Ziemlich bemerkenswert für einen Nordländer, wahrlich. Aber wie es scheint, ist Eure Kenntnis des Thetannischen doch etwas beschränkt. Ihr meint Lichtgestalt.«

»Wirklich?«, fragte Ringil tonlos.

Er erwiderte den Blick des Imperators etwas länger, als wollte er die imperiale Miene an einem besonderen Platz im Gedächtnis abspeichern. Dann verzog er die Lippen zu einem Lächeln, das so dünn war wie die Narbe auf seiner Wange, und nickte, als hätte ihm eine Stimme etwas gesagt, das die anderen nicht hören konnten.

Anschließend drehte er sich um und ging davon.

 

»Damit hast du dir also in den letzten zehn Jahren den Lebensunterhalt verdient, nicht wahr?«

»Wenn du damit sagen willst, dem Ewigen Thron und seinem Volk nach besten Kräften zu dienen«, zischte Archeth, »dann ja. Ich fand das produktiver, als sich in einem Hinterwäldlerdorf in den Bergen zu verstecken und für mein Taschengeld und die Bezahlung der Stalljungen, die mich fickten, ein Garn über meine Heldentaten zu spinnen.«

»Na ja, einige von uns können sich halt keine Sklaven zu diesem speziellen Zweck leisten.«

»Fick dich doch ins Knie, Gil!«

Ein Verlust der Selbstbeherrschung in ihrem nicht akzentfreien Naomisch und ein Schrei, der weit tragen musste. Mitten in den Gärten waren sie wie angewurzelt zum Stehen gekommen, knapp außerhalb der Hörweite des Balkons und der imperialen Gesellschaft und fast Nase an Nase. Rakan stand daneben, außerstande, dem plötzlichen Wechsel in eine Fremdsprache zu folgen, aber das brauchte er auch nicht, er verstand den Tonfall auch so. Ringil, der jetzt höhnisch grinste, seine vom Kater hervorgerufene schlechte Laune aufblitzen ließ, den Mund öffnete zu …

Hinter ihm fuhr klagend etwas vorbei.

Er spürte die Berührung deutlich, wie kühle Finger im Nacken. Er runzelte die Stirn und vergaß, was er sagen wollte.

Ein einzelnes Blatt wirbelte von oben herab, gefangen in einem Strahl Sonnenlicht, der durch die Bäume stach. Amüsiert sah er ihm beim Fallen zu. Spärliches Morgenlicht schimmerte schwach im Laubdach, aber es wirkte kalt und sehr weit weg. Hier, um ihn her, war die Luft schattig und kühl, und etwas …

Etwas stimmte nicht.

»Wenn sie den Drachentöter umbringen«, sagte er ein wenig ruhiger. »Werde ich diesen Palast in Brand stecken. Das weißt du doch.«

»Ja«, fauchte Archeth, offensichtlich unberührt von der kühlen Luft um sie her. »Mit wessen Armee? Der Krieg ist vorbei, Gil. Dies ist nicht die Galgenschlucht.«

»Nein. Ist nicht so sauber hier.«

»Oh, jetzt hör verdammt noch mal damit auf!« Sie hob die gespreizten Hände und schlug sie sich an die Stirn, eine Geste, die so typisch kiriathisch war, so sehr ihr Vater, dass er Flaradnams Züge einen Augenblick lang in den ihren sah. »Dies ist die Zivilisation, Gil. Du weißt schon, die Sache, für deren Rettung wir gekämpft haben? Du – du und auch Egar –, ihr beide könnt nicht einfach herumschleichen, den Stahl in der Hand, und euren Kummer erschlagen.«

»Stimmt. Heutzutage ist das solchen Leuten wie dem kleinen Scheißer da hinten und seiner Kabale vorbehalten. Privilegierte von Rang und Namen.«

»Du hattest einen Rang, Gil. Du hast ihn weggeworfen.«

»Ja. Und du klebst an deinem.«

Sie bekam große Augen. Wich zurück, als hätte sich gerade im Pflaster zwischen ihnen ein zerklüfteter Abgrund geöffnet.

»Mylady«, warf Rakan ein. Er sah Ringil an und leckte sich die Lippen. »Mylord. Taran Alman wartet. Der Wille des Imperators ist eindeutig. Wir sollten nicht säumen.«

Einen Augenblick lang sprach niemand ein Wort. Dann nickte Ringil und wechselte wieder ins Thetannische. »Er hat recht, Archeth. Du lässt den Mann von den Fängern besser nicht warten.«

»Wir, Gil.« Drängend, weil sie erkannte, was in seinen Augen lag. »Wir lassen ihn besser nicht warten.«

Aber er hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. War an Rakan vorbei mit einem Blick, der alles Nötige besagte – der Kommandant vom Ewigen Thron senkte den Kopf und gab ihm den Weg frei. Weg von Archeths verzweifelter Stimme, die ihn zurückrief.

»Gil! Gil, du kannst nicht einfach …«

»Erzähle ihnen alles, was du ausbuddeln kannst«, sagte er zu ihr und gab sich keine Mühe, Naomisch zu sprechen, drehte sich nicht einmal um. »Je mehr, desto besser. Sorge dafür, dass sie sich mit Gerede aufhalten.«

»Ich kann dich nicht einfach gehen lassen!«, rief sie.

»Du kannst mich nicht daran hindern.« Seine Stimme tönte seltsam schwach zwischen dem Buschwerk und den Bäumen zu ihr zurück. »Grashgal und dein Vater haben dafür gesorgt. Du weißt, was sie auf diese Klinge geschrieben haben.«

Er bog um eine Ecke und war verschwunden.

Das Morgenlicht schien in seiner Abwesenheit kräftiger zu werden.