18
Als sie nahe an die schwarzen, bedrohlich aufragenden mächtigen Schleusentore herangekommen waren, zog der Bootsführer die Ruder ein und warf den Anker, was ein leises Klatschen hervorrief. Das dunkle Wasser des Flusses zog das Boot lautlos mit sich, und dann straffte sich die Ankerkette und hielt es fest.
»Das wär’s, meine Herren. Weiter fahre ich nicht.«
»Du könntest uns etwas näher ans Ufer heranbringen«, schlug Egar vor.
Der Bootsführer schüttelte den Kopf. »Dazu ist mir mein Boot zu wertvoll. Die Zitadelle hat schon vor Monaten an dieser Seite rund um den Tempel Wachen postiert. Seht ihr die Fackeln? Wenn sie mich zu dieser Nachtzeit mit euch beiden erwischen, und ihr seid so vermummt, dann … Die Leute da oben sind verpflichtet, ihre Schlüsse zu ziehen, nicht wahr?«
Er grinste sie liebenswürdig an, zum Zeichen, dass er seine eigenen Schlüsse gezogen hatte, aber, nichts für ungut, wir alle müssen uns irgendwie durchschlagen.
»So«, zischte Harath. »Du willst also sagen, wir sollen da rüber schwimmen?«
»Na ja, wenn ihr wirklich hinwollt, schlage ich vor, ihr schwimmt, ja.« Der Bootsführer zeigte mit einem Daumen über seine Schulter. »Aber da ist ’ne Leiter, da hinten am Schleusentor. Ist ’n ganz schöner Satz, aber ihr solltet es schon schaffen.«
Egar wartete ab, ob Harath der Sprung gelänge – er schaffte es, nachdem er jetzt seinen Kater abgeschüttelt hatte, sogar mit drahtiger, jugendlicher Anmut –, und zahlte dann den Bootsführer aus.
»Einige Stunden«, sagte er. »Wenn wir bis dahin nicht zurück sind, dann warte. Es wird dein Schaden nicht sein.«
»Verstanden, Mylord.« Der Mann verstaute die Münze unter seinem Wams und trat beiseite, damit Egar zum Bug des Boots hinaufsteigen konnte. »Euch einen ertragreichen Abend!«
»Ja, dir auch.«
Er sprang – ungeschickt, das ungewohnte Gewicht des Seils, das er sich fest um den Leib geschlungen hatte, zog ihn zur Seite. Mit einer Hand verfehlte er die Leiter. Aber mit der anderen packte er fest zu, stieß vor Anstrengung ein heftiges Ächzen aus, drehte seinen Körper wie eine Türangel und fand mit den Füßen Halt auf einer Sprosse. Nachdem er einige Mal tief Luft geholt hatte – sie war feucht und roch nach Pech –, stieg er still und leise hinauf. Harath, das Gesicht mit Holzkohle beschmiert, kauerte bereits in seinem schwarzen Bettlergewand auf dem Schleusentor. Der Ishlinak nickte knapp zum Ufer hinüber.
»Vier«, murmelte er. »Genau wie früher. Sie drehen abwechselnd jeweils zu zweit die Runde, die anderen beiden bewachen das Tor. Das heißt, alle blinden Flecken sind genau dort, wo sie schon immer waren. Ich habe Alnarh darauf hingewiesen, aber er hat nicht auf mich hören wollen. Der sagt immer bloß, wir sind Majak, das wird niemand wagen. Blödmann.«
Egar musterte den zinnenbewehrten gewaltigen Tempel und den gerodeten Grund mit den Resten von Buschwerk, auf dem er stand, die flackernde Kohlenpfanne der Nachtwache auf der Vorderseite sowie die beiden Gestalten, die daran hockten. Vierzig Meter, fünfzig äußerstenfalls. Die leuchtend gelben Tupfer der Fackeln bewegten sich nach links an den dunklen Mauern entlang und weiter um die Ecke nach vorn. Darunter waren zwei Gestalten vage zu erkennen. Er überprüfte seine Messer und hoffte, sie nicht benutzen zu müssen. Andere Majak zu töten war etwas, woran er sich nie richtig hatte gewöhnen können – selbst wenn es Ishlinak waren.
»Also gut, dann ran an den Speck. Gehen wir!«
Sie huschten über das Schleusentor wie Ratten, in raschen, zielstrebigen Spurts, wobei sie darauf achten mussten, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, denn die Oberkante war gerade mal anderthalb Fuß breit. Egars Puls ging rascher, je länger das nächtliche Unternehmen dauerte. Er ertappte sich bei einem Grinsen. Die Fackeln verharrten an der dem Fluss zugewandten Seite des Tempels, und Harath blieb plötzlich wie angewurzelt vor ihm stehen. Zehn Fuß bis zum Boden, da konnten sie nicht runter, ohne gesehen oder gehört zu werden. Sie kauerten sich hin, warteten.
»Sobald die anderen beiden sich in Bewegung setzen«, warnte ihn der Ishlinak vor. »Sie werden miteinander quatschen, alle vier, als würden sie die Zeit unten im Echsenkopf totschlagen. Überhaupt keinen Blick für die linke Seite. Da – siehst du den Busch an der Ecke, wo sie gerade vorbeigekommen sind? Königsdorn – völlig undurchsichtig, selbst am Tag. Renn dahin, warte dort.«
Die Fackeln erreichten das Tor. Die beiden Neuankömmlinge wurden zu deutlich erkennbaren Silhouetten im Schein der Kohlenpfanne. Leise Bassstimmen, etwas Gelächter – ein undeutliches Echo von den Tempelmauern, das über das Wasser hinaustrieb. Der Rhythmus majakisch. Etwas Hantieren mit den Fackeln, und dann …
»Jetzt!«, fauchte Harath. »Los!«
Runter vom Schleusentor, jäher Fall, leises Knirschen beim Aufprall, aufspringen, sogleich losrennen. Vierzig Meter – leichte Strecke, Drachentöter, nun komm schon. Hinter sich hörte er die raschen Tritte von Harath, die ihm folgten. Die Fackeln flackerten entlang der Mauer rechts vom Tor. Dunkelheit hielt die linke Seite umfangen. Egar erreichte den Königsdorn und duckte sich dahinter. Gab sich Mühe, nicht allzu heftig zu atmen. Harath hockte sich hinter ihn, eng zusammengekauert.
Der Stimmenfluss versiegte.
Angespannte Stille.
Harath legte die Lippen an Egars Ohr. »Sie haben uns entdeckt?«
Egar schüttelte kurz den Kopf, hob warnend einen Finger. Keine Ahnung – halt’s Maul, verdammt! Augen in der Düsternis und dem Fackelschein zusammengekniffen, um die Details besser zu erkennen. Eine Hand am Messergriff an seiner Taille.
Leises Gemurmel einer anderen Stimme. Die Gestalten um das Kohlebecken regten sich. Ein langes Gelächter trieb herüber. Egar entspannte sich, lockerte die Hand auf dem Messer. Harath löste sich aus seiner starren Haltung, hielt sich jedoch bereit.
»Linke Mauer entlang«, flüsterte er. »Folg mir, halte Ausschau nach diesem Spalt!«
Und wieder los, wie Geister in der Dunkelheit. Sie erreichten die schattige Ecke, huschten an der dunklen Mauer entlang. Vor sich entdeckte Harath den Spalt, griff hinein und schwang sich mühelos vom Boden hoch. Der kleine Scheißkerl war gut! Egar nur Sekunden hinter ihm, aber der jüngere Mann befand sich bei seinem Eintreffen schon volle acht Fuß an der Mauer über ihm.
So neidisch, Drachentöter?
Er schüttelte das Gefühl ab und tastete mit den Händen umher. Der Riss schlängelte sich im Zickzack aufwärts, ein sauberer Spalt durch das Mauerwerk, etwa vier Finger breit, die einstmals scharfen Kanten von der Zeit glatt geschliffen. So etwas war bei einem derart alten Gemäuer eigentlich auch zu erwarten. In der ganzen Stadt gab es solche Risse, bei allen Bauwerken, die schon gestanden hatten, als die ertrunkenen Töchter von Hanliahg ihrem vulkanischen Groll Ausdruck verliehen hatten, woraufhin die Erde gebebt und der Himmel über Yhelteth schwarz geworden war. Nichts, was man bequem genannt hätte, lautete Haraths wohlüberlegte Meinung. Nirgendwo eine Stelle zum Ausruhen, aber du kannst die Handklemmer-Technik einsetzen, falls nötig.
Fackelschein am anderen Ende der Mauer.
Egar hakte beide Hände in den Spalt, rammte unter sich die Füße hinein, bildete ein seitliches V mit seinem Körper und zog sich den Spalt hoch. Scharfes Zwicken des Mauerwerks an seinen Zehen – die Stiefel mit den weichen Sohlen, die er für diese Gelegenheit übergestreift hatte, waren dünn, und er musste den Fuß fast senkrecht nach unten verdrehen, damit er in den Spalt passte. Die Fackeln kamen um die Ecke, und die beiden Wachmänner schlenderten in geselligem Schweigen an der Mauer entlang. Anscheinend war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen. Und er war nach wie vor keine zehn Fuß über dem Boden. Wenn einer von beiden zufällig aufschaute …
Er arbeitete sich höher hinauf, so lautlos, wie er es vermochte. Fingerdicke Stückchen des geborstenen Steins gaben unter seinem Griff nach, verursachten ein winziges Kratzgeräusch. Scheißdreck, Scheißdreck … Schwitzende Handflächen, pulverisierter Stein unter den Fingerspitzen. Eilig kletterte er an diesem lockeren Abschnitt vorbei – die Eile war ein Fehler, ein Fuß rutschte aus dem Spalt, und er schwang herum.
Mist, verdammter!
Mit aller Gewalt drückte er eine Hand in den Spalt, schloss sie zur Faust und verdrehte sie seitlich zur Handklemme. Der raue Stein biss ihm ins Fleisch, als er sich mit vollem Gewicht daran hängte. Zwölf Fuß über dem Boden, die Zähne zusammengebissen und bemüht, ruhiger zu atmen, während die Wächter unten vorübergingen.
Sie gingen vorüber. Einfach so.
Er wartete ab, bis sie ein gutes Stück entfernt waren, bevor er sich rührte. Dann drückte er so lautlos, wie es nur ging, den freien Fuß zurück in den Spalt, lockerte die Handklemme zu einem etwas konventionelleren Griff und stieg die restliche Mauer ohne weiteren Zwischenfall hoch. Er zog sich über die Zinnen und stieß dort zu Harath, der so entspannt an der Festungsmauer lehnte, als wäre er zu seinem Sonnenbad hier heraufgekommen.
Schwer atmend sank er neben dem jüngeren Mann nieder. Harath warf ihm einen Blick von der Seite zu.
»Alles in Ordnung?«
Egar hielt seine Faust ins Bandlicht und entdeckte das winzige schwarze Rinnsal von Blut. Er leckte es ab und lutschte die ausgefransten Ränder der aufgerissenen Hand sauber.
»Ja.«
»Haben sie dich gesehen?«
»Ja, sie haben mich gesehen. Sie haben gesagt, sie würden mir ’ne Stunde drinnen geben, solange wir nichts kaputtmachen. Zeigst du mir jetzt dieses verdammte Loch in der Decke oder was?«
Im Tempel selbst herrschte ein modriger Geruch nach Steinstaub, der Egar an die Felsengräber erinnerte, die er als junger Mann in Dashara geplündert hatte. Immerzu erwartete er Särge, steinerne Podeste oder mumifizierte Überreste in den Mauern. Stattdessen waren die Räume weit, hoch und leer. Geröll knirschte unter den Füßen, aber das waren die Hinterlassenschaften jahrzehntelangen Leerstands – Stein und Stuckpulver, von den zersprungenen Decken herabgefallen, Rattenmist und Kies und die winzigen vertrockneten toten Spinnen. Irgendwohörte er sporadisch Wasser vom Dach oder aus beschädigten Zisternen in den Obergeschossen tröpfeln. Dort oben gab es viele Löcher wie dasjenige, durch welches sie sich mit dem Seil herabgelassen hatten; Schäden, entstanden durch dieselbe Eruption, die für die Risse in den Mauern verantwortlich war. Blickte man auf, konnte man die Sterne durch die Spalten erkennen.
Alte, verleugnete Götter stützten die Dächer.
»Erinnert der dich an jemanden?«, flüsterte Harath und nickte zu einer der aufragenden Gestalten hinüber.
Egar sah zu dem muskulösen Torso auf, dessen Schultern unter der Last eines Pferdesattels gebeugt waren. In der erhobenen Hand hielt er eine kurze, rechteckige Klinge, nicht mal ein richtiges Messer. Das schmallippige, düstere Kriegergesicht mit Bart.
»Ja, Urann – ohne die Zähne.«
»Sollte sich glücklich schätzen, dass er überhaupt ein Gesicht hat. Ein paar von den anderen hier drin haben sie so sehr zerstört, dass man kaum noch erkennen kann, wer gemeint ist.«
Egar nickte, größtenteils zu sich selbst. Das war so ziemlich überall dasselbe, wohin die imperialen Erlasse gelangten. Die Offenbarung hatte etwas gegen Konkurrenz.
Sie schlüpften unter dem leeren steinernen Blick der Statue hindurch. Harath zeigte nach links – flache Steinstufen führten aufwärts. Sie nahmen immer zwei auf einmal, die Messer gezogen, falls sie oben jemanden träfen.
Nichts. Schatten und Staub. Türen mit Holzpanelen, doppelt mannshoch, durchsetzt von Holzfäule, von dem Schutt auf dem Boden verkeilt.
»Die hier führt zu einer Galerie, die oberhalb der zentralen Halle verläuft«, erklärte ihm Harath, als sie dort ankamen. »Die Galerie geht ganz rundherum. Von da aus hat man einen guten Blick.«
Egar nickte. Er packte eine der Türen an der Kante, entschied, dass es zu viel Lärm verursachen würde, sie zu bewegen, und wollte sich seitlich durch den vorhandenen Spalt quetschen.
»Tief Luft holen«, bemerkte Harath umsichtig.
Es reichte trotzdem nicht. Bei der Anstrengung, den Bauch einzuziehen, tränten Egar die Augen. Dennoch kratzte er sich an der Türkante und schob die Tür geräuschvoll einen weiteren Zoll auf, bevor er auf der anderen Seite herauskam. Er blieb mucksmäuschenstill stehen, die Klinge in der Hand, und wartete ab, ob man sie gehört hatte.
Harath schob sich geschmeidig hinter ihm durch.
Die Galerie war, wie versprochen, eine eindrucksvolle Angelegenheit und erstreckte sich in fünfzehn Fuß Höhe rund um die gesamte Halle, breit und mit Balustrade. Bandlicht sickerte durch die hohen Fenster, die schon vor langer Zeit mit Brettern vernagelt worden waren. Egar kroch geduckt zu der Balustrade hinüber und spähte hindurch. Unter sich erblickte er einen Ausschnitt des schäbigen, schuttübersäten Steinfußbodens, der genauso aussah wie im vorigen Saal. Auf einem Podest an einem Ende stand ein verbliebener Altar, der seinem Aussehen nach seit einem Jahrhundert nicht mehr in Gebrauch gewesen war, anderswo sah er ein paar vierschrötige Statuen, einige wenige Holzbänke sowie …
Er runzelte die Stirn. Sein Blick kehrte zu einer der Figuren zurück. Er bemerkte jetzt, dass es fünf waren, vier grob zu einem Kreis angeordnet, die fünfte mehr oder weniger in dessen Mitte …
Wie etwas, das er einmal …
So groß wie eine kleine Frau oder ein Kind. Grobe Steinhauerei, die Gesichtszüge kaum herausgearbeitet. Stummelarme, ausgestreckt, wie um das Gleichgewicht zu halten. Ähnlich den Übungspuppen der Bogenschützen, nur dunkel, starr und auf Bodenhöhe niedergedrückt.
Die Erinnerung stürzte wie ein Wasserfall herab – filterte den Bodensatz der Vertrautheit heraus und dann die großen Brocken der Erinnerung, die ihm in den Kopf plumpsten.
Hartes graues Licht.
So was wie ein Leuchtfeuer für die Dwendas. Archeth, am Morgen nach der Schlacht, einen Stiefel auf der umgestürzten Figur, die mit dem Gesicht nach unten im Sumpf lag. Sie trat mit dem Absatz nach dem Ding, ein verbliebener Ärger, der sich noch Luft verschaffte. Die Wunde an ihrer Schläfe war gesäubert worden und glänzte lebhaft rot im dünnen Morgenlicht. Die Sumpfbewohner haben sie gefertigt, vor langer Zeit. Sie bilden irgendwie eine Verbindung. Es hat etwas zu tun mit der Art Stein, den sie verwendet haben.
Er stieß Harath an. »Woher stammen die?«
»Woher stammt w…« Der Ishlinak sah, wohin er zeigte. »Oh. Jetzt bin ich aber baff! Als ich das letzte Mal hier drin war, hatten sie nur zwei. Dem Aussehen nach zu urteilen, ziemlich billiger Scheiß. Schlechtere Bildhauerarbeit als bei den Voronak, und das will was heißen.«
»Es ist Glirsht«, sagte Egar geistesabwesend. »Naomischer Stein. Sie haben sie aufgestellt wie … das muss … in den vier Himmelsrichtungen, nicht wahr?«
Der jüngere Mann zuckte die Achseln, schnüffelte. »Könnte sein. Möchtest du sehen, wo sie die Sklaven halten, oder nicht?«
»Ja, ja.«
Er folgte Harath, unter vielen Blicken zurück, die Galerie entlang und durch eine weitere verfallene Tür. Und selbst nachdem sie die Halle verlassen hatten, sah er die vierschrötigen schwarzen Steinstatuen wie bösartige kleine Puppen vor dem geistigen Auge.