25. KAPITEL

Heftiges Pochen an der Tür holte Charlotte aus halber Bewusstlosigkeit. Sie hob die schweren Lider, sah sich benommen in dem dämmerigen Raum um und erinnerte sich, wo sie war. Vicki Rays Studio. Wie lange hatte sie hier so gelegen? Viele Erinnerungen waren ihr durch den Kopf gegangen.

Es klopfte wieder, jemand rüttelte am Türgriff und rief ihren Namen. Sie zuckte zusammen, als hätte jemand sie geschlagen.

„Geht weg!“ rief sie und hielt sich die Ohren zu. Sie fühlte sich wie das kleine Mädchen, an das sie sich auf der Bühne erinnert hatte, klein und zerbrechlich. Sie hätte sich gern versteckt.

Jetzt hörte sie das Klirren von Schlüsseln. Sie konnte die Meute nicht daran hindern, hereinzukommen. Mühsam richtete sie sich auf, rieb sich die Wangen und wischte Feuchtigkeit und Schlaf aus den Augen.

Ein deutlicher Luftzug begleitete das schwungvolle Öffnen der Tür, gefolgt vom Trappeln mehrerer hereinkommender Fußpaare. Von allen Stimmen, die ihren Namen riefen, lauschte sie nur einer. Michael! Plötzlich war er da, kniete neben ihr und strich ihr mit einer kräftigen schwieligen Hand das Haar aus dem Gesicht.

„Charlotte“, sagte er leise und war ihr so nah, dass sein Atem ihre Wange streichelte. „Alles in Ordnung? Mein Gott, dein Gesicht, du glühst ja!“

„Halten Sie sich fern von ihr, Sie lausiger Latino!“ schimpfte Freddy und stieß ihn zurück.

Michael nahm die Hand von ihrer Wange, da er das Gleichgewicht verlor. Charlotte sah, dass er die Hand ballte.

„Hört auf!“ schrie sie und sprang auf. „Ich lasse nicht zu, dass ihr vor meinen Augen streitet. Nie mehr!“ Sie sprach zu beiden, doch ihre Augen waren auf Michael gerichtet. Sein Blick schien sie zu durchbohren, während sie in seiner Mimik nach Hinweisen suchte, dass er sie noch liebte. Es ärgerte sie, dass sie immer noch nach seiner Zuneigung gierte. Plötzlich beherrschte sie der Wunsch, es ihm heimzuzahlen. Er sollte leiden, wie sie gelitten hatte. Aus den Augenwinkeln sah sie Vicki Ray Freddy zurückhalten, indem sie ihm beide Hände gespreizt auf die Brust legte.

„Ich bin nicht hergekommen zu streiten“, sagte Michael. „Jedenfalls nicht so.“

„Warum bist du dann hier?“ fragte sie betont kühl.

„Ich will dich daran hindern, dein Leben zu riskieren.“

Charlotte verschränkte die Arme vor der Brust. „Verstehe“, entgegnete sie steif. „Und das wolltest du erreichen, indem du mich öffentlich im Fernsehen bloßstellst?“

Er blickte auf die Schuhspitzen. „Tut mir Leid, das war nicht meine Absicht. Ich wollte dir nicht wehtun, sondern dir Schmerzen ersparen.“ Er hob den Blick zu ihr. „Leider war das in der Kürze der Zeit meine einzige Möglichkeit, an dich heranzukommen, um dich zu hindern, mit diesem Mann dort fortzugehen. Seine Pläne dienen nur seinem Interesse, nicht deinem. Ich musste seine Pläne durchkreuzen, damit das Lügen aufhört. Keine Lügen mehr, Charlotte.“

Sie wich zurück. Sofort trat er mit ausgestreckter Hand einen Schritt vor. Sie wich abermals zurück, und ihr wütender Blick besagte, er solle nicht mal an Versöhnung denken. Michael blieb stehen und ließ die Hand sinken.

„Mein Leben und meine Entscheidungen gehen dich nichts an!“ entgegnete sie scharf. „Du hast mir jetzt alles nur schwerer gemacht.“

„Charlotte, gleichgültig, wie du zu mir stehst, du darfst dir nicht einbilden, irgendein Arzt in Südamerika könnte dich heilen. Das ist wieder nur so ein PR-Mist von Freddy. Du weißt, dass die Implantate entfernt werden müssen. Sieh dich an. Du brennst vor Fieber, deine Hände zittern. Spiele nicht mit deinem Leben. Es ist viel zu wertvoll – wenn nicht für dich, dann doch für mich.“

„Was macht Sie plötzlich zum Experten?“ giftete Freddy. „Sind Sie vielleicht auch Arzt? Zu Ihrer Information, ich bringe sie zu einem der besten Ärzte der Welt. Erstklassig. Sie irren, wenn Sie glauben, dass ich mich bei meinem Mädchen mit weniger als dem Besten begnüge. Wenn mein Arzt nicht der Meinung Ihres Arztes ist, heißt das nicht, dass er Unrecht hat. Haben Sie noch nie von einer zweiten Meinung gehört?“

Michael sah Charlotte nur an, und sie erkannte seine Fassungslosigkeit, dass sie Freddy folgte. Sie reckte leicht trotzig das Kinn vor, wusste jedoch tief im Innern, dass Michaels Skepsis gegen Freddy berechtigt war.

„Okay“, räumte Michael gepresst ein. „Ich bin kein Arzt. Aber wenn Sie einen Moment warten …“ Er machte kehrt, ging auf den Flur hinaus und kam mit einem grazilen Mann im Maßanzug zurück.

„Dr. Harmon!“ rief Charlotte aus und legte verblüfft eine Hand an die Wange. Er war der Letzte, mit dem sie gerechnet hätte. Zugleich war sie froh, ihn zu sehen. Sie erinnerte sich gut an seine Ruhe, sein schiefes Lächeln und die blassen durchdringend blickenden Augen. Sie kam sich vor, als wäre sie wieder in seiner Praxis und bäte erneut um Hilfe.

„Was tun Sie hier, Doktor?“

„Mr. Mondragon war so freundlich, mich herholen zu lassen.“ Er musterte ihr Gesicht, während er sprach, vor allem Kinn und Wangen. „Er hat mich über Ihre Absichten unterrichtet, und da musste ich natürlich kommen. Sie sind meine Patientin. Und schließlich haben Sie meine Anrufe nicht erwidert.“ Er sah sie freundlich, aber auch eine Spur vorwurfsvoll an. Sie runzelte die Stirn und wusste, was jetzt kam.

„Charlotte“, fuhr er in seiner ruhigen Art fort, „ich wollte Ihnen persönlich sagen, dass diese Reise nach Brasilien nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich ist. Sie dürfen keine Zeit mehr verlieren. Ich fühle mich verantwortlich für Ihre Reaktion auf die Implantate. Ich hätte sie nicht verhindern können, aber ich möchte das Problem für Sie lösen.“

„Nein!“ stieß sie hervor. „Unmöglich!“

„Ich flehe Sie an!“ drängte Dr. Harmon. „Verschieben Sie Ihre Reise wenigstens für eine Woche. Kommen Sie ins Universitätskrankenhaus, dann machen wir einige Tests. Wir sammeln die benötigten Fakten und stellen eine endgültige Diagnose.“

„Nein, dafür haben wir keine Zeit“, widersprach Freddy ungeduldig. „Nach der Bombe, die Mondragon heute im Fernsehen hochgehen ließ, verdrücken wir uns hier lieber.“ Er sah zu Vicki Ray hinüber, die aufmerksam jedes Wort verfolgte. „Komm, Kleines, wir haben nicht viel Zeit. Unser Flugzeug geht in einigen Stunden.“

Michael vertrat ihm den Weg.

„Wenn Sie sich einbilden, dass ich Sie in dieses Flugzeug steigen lasse …“

„Wer sollte uns aufhalten“, schnarrte Freddy und stieß ihm gegen die Schulter.

Doch Michael vertrat ihm erneut den Weg. Er war größer als Freddy, jünger und muskulöser. Charlotte merkte, dass er sich nicht mehr lange beherrschen konnte und vor Handgreiflichkeiten nicht zurückschrecken würde. „Lassen Sie sie in Ruhe …“

„Für was halten Sie sich?“ schnauzte Freddy. „Sie ist meine Verlobte, bandito, nicht Ihre.“

„Nein!“

Ein kehliger, herzzerreißender Schrei kam von der Tür. Erschrocken drehten sich alle um. Dort stand eine große grauhaarige Frau mit hängenden Schultern in einem bescheidenen Kleid.

Charlotte glaubte, ihr Herz bliebe stehen. „Mutter“, flüsterte sie und starrte sie fassungslos an. Was führte Helena nach Jahren des Schweigens hierher?

Noch eigenartiger war, dass Helena nicht sie anschaute, sondern mit einem zittrigen Finger auf Freddy zu ihrer Rechten deutete. Der wiederum sah Helena mit einem Gesichtsausdruck an, als zermartere er sich das Hirn, wo er diese Frau schon einmal gesehen hatte.

Ungeachtet der allgemeinen Verblüffung fixierte Helena Freddy mit fast irrem Blick, die Wangen gerötet. „Du bist es!“ rief sie aus.

Charlotte sah von Helena zu Freddy, der sich mit leicht verengten Augen etwas vorneigte.

„Fridrych, erkennst du mich nicht? Ich bin es – Helena. Helena Godowski aus Polen.“

Freddy erbleichte und schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, das ist unmöglich.“

„Es ist möglich. Ich bin es. Und ich habe dich fünfundzwanzig Jahre lang gesucht.“ Sie kam mit ausgestreckter Hand näher, offenbar nicht sicher, ob er eine Illusion war oder Realität. Als sie vor ihm stand, verharrte sie, als wolle sie ihn berühren, traue sich aber nicht. Stattdessen legte sie sich die Hand an die eigene Brust.

„Du hast mich gesucht?“ fragte Freddy. „Warum? Wie hast du mich jetzt gefunden?“

„Durch Mr. Mondragon. Er wollte, dass ich herkomme. Ich sagte Nein, aber dann entdeckte ich dich im Fernsehen, als ich Charlotte sah.“ Als sie ihre Tochter erwähnte, verzog sie weinerlich das teigige Gesicht und blinzelte die Tränen fort. „Ja, ja, Charlotte“, sagte sie fahrig und legte die Fingerspitzen an die Wange. „Deshalb bin ich hier.“ Suchend sah sie sich nach ihrer Tochter um. „Du kannst ihn nicht heiraten, Charlotte, es wäre eine große Sünde!“

Charlotte stockte der Atem.

„Wovon redest du?“ fragte Freddy.

„Charlotte ist deine Tochter!“

Charlotte fürchtete, die Erde täte sich auf und verschlinge sie. Ihr wurde schwindelig, und sie sackte auf dem Sofa zusammen. Freddy ihr Vater? Unmöglich. Das war zu verrückt. Andererseits, warum sollte ihre Mutter lügen?

Sie ahnte, dass es stimmte. Sie war unehelich geboren, und sie hatte nie ein Foto ihres Vaters gesehen. Es erklärte einiges, beispielsweise, warum sie und Freddy so eine sonderbare Bindung aneinander hatten. Warum er so besitzergreifend war. Sie erinnerte sich an seine Bemerkung: Ich liebe dich auf meine Art. Wie ein Vater etwa?

Sie sah Freddy an, der kalkweiß, schockiert ihre Mutter anstarrte. Mein Gott, es war ihr vorher nicht aufgefallen, aber seine Nase … sie hatte seine Nase gehabt vor der Operation.

Freddy wich zurück. „Sie sind verrückt, Lady. Ich habe keine Kinder. Ich kann keine Kinder zeugen.“

„Du wusstest es nicht!“ beteuerte Helena. „Ich bemerkte die Schwangerschaft erst, als du Polen verlassen hattest. Meine Familie verstieß mich. Ein Priester brachte mich nach Warschau. Sie wollten, dass ich mein Kind weggab. Das konnte ich nicht. Deshalb suchte ich deine Mutter auf. Sie erzählte mir, du wärst vor den Behörden nach Amerika geflüchtet. Sie hat mir geholfen, Fridrych. Sie gab mir ein Flugticket, damit ich dich suchen konnte.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Aber ich konnte dich nicht finden. Ich suchte und suchte, und dann wurde Charlotte geboren. Danach musste ich die Suche einstellen und arbeiten, um zu überleben. Ich habe immer gehofft, dich zu finden. Aber nicht so!“

„Mein Gott, nein“, beteuerte Freddy rasch, bleich und eindeutig erschüttert von der Neuigkeit. „Ich werde sie nicht heiraten. Scheiße, nein. Ich meine – ich wusste es nicht –, es ist nichts passiert.“ Er trat eifrig den Rückzug an, um eventuellen schmutzigen Gedanken entgegenzuwirken.

Auch Charlotte musste das alles erst verdauen. Sie dachte daran, wie Freddy ihr übers Haar gestrichen und sie im Spiegel bewundert hatte. Sie wäre mit ihm nach Südamerika gegangen. Die Vorstellung, was vielleicht passiert wäre, verursachte ihr Übelkeit.

„Wir wollten nicht wirklich heiraten“, plapperte Freddy weiter. „Es war alles eine Finte, um ohne Presse nach Südamerika entwischen zu können. Ich meine, Jesus …“ Er wischte sich die Stirn. „Ich hatte doch keine Ahnung …“

Freddy und Charlotte sahen sich an, forschend, fragend und gelangten zum selben Schluss.

Michael verfolgte das voller Skepsis. Er glaubte die Geschichte, aber das änderte wenig an seiner Einstellung zu Freddy. Er zog sich zurück und beobachtete die Familienangelegenheit aus der Perspektive des neutralen Betrachters.

„Charlotte Godfrey“, sagte Freddy vor sich hin. „Charlotte Godowski. Natürlich, du hast den Namen geändert.“ Er hob die Hand, wie um sie zu berühren, ließ sie jedoch wieder sinken. „Bei deinem richtigen Namen hätte ich etwas geahnt. Ich wusste von Anfang an, dass du etwas Besonderes an dir hast. Es sind deine Augen, sie gleichen denen deiner Mutter.“

Er wandte sich Helena zu und betrachtete die große, schäbig gekleidete Frau mit dem kurzen grauen Haar, dem blassen, faltigen Gesicht und den Beinen voller Krampfadern. Charlotte fiel auf, wie sehr die harten Zeiten ihre Mutter gebeugt hatten, sodass sie weit über ihre Jahre hinaus gealtert war. Wie würde Freddy sie jetzt sehen nach all der Zeit?

Sie entdeckte einen leicht verächtlichen Zug um seinen Mund. Wo sie auf Mitgefühl gehofft hatte, reagierte Freddy mit Verachtung. Zornig verteidigte sie ihre Mutter im Stillen. Sie hat sich verändert, weil sie sich die Finger wund gearbeitet hat, um mich aufzuziehen, weil sie von ihrem Geliebten, meinem Vater, von dir, Freddy, verlassen wurde! Du hast deinen Spaß gehabt und Helena den Preis zahlen lassen. Wie kannst du es wagen, auf sie herabzusehen, nun da sie alt und verbraucht ist und nicht mehr das hübsche junge Mädchen, dessen Leben du ruiniert hast?

„Was sagt man dazu?“ wandte er sich mit einem kurzen erfreuten Lachen an sie. „Ich habe eine Tochter.“

Charlotte hob nur leicht das Kinn, eine Geste, die besagte, dass sie keinerlei zärtliche Gefühle für ihn hegte. Sie musste sich noch daran gewöhnen, seine Tochter zu sein. Sie war ihm dankbar für seine Hilfe, aber sie liebte ihn nicht.

„Ich denke, das ändert alles“, sagte Dr. Harmon ernst. „Als ihr Vater wollen Sie zweifellos nichts tun, ihre Gesundheit zu gefährden.“

„Fridrych, du darfst sie nicht wegbringen, wenn sie krank ist“, redete auch Helena ihm ins Gewissen.

„Natürlich darf ich das“, widersprach er fast scherzend. „Als ihr Vater habe ich mehr Recht denn je, dafür zu sorgen, dass man sich um sie kümmert. Ich weiß, was das Beste für sie ist.“

Michael stieß sich von der Wand ab. Dr. Harmon richtete sich verlegen die Brille, als hätte er nicht richtig gehört. Charlotte öffnete den Mund zu einer Erwiderung, als sie Helena gebieterisch „Nein!“ sagen hörte. Diesen Ton kannte sie bestens. Er duldete keinen Widerspruch. Als Kind hatte sie dabei strammgestanden. Konfrontiert mit einer vollen Dosis von Helenas gerechter Empörung, zuckte sogar Freddy zusammen.

„Du hast dich nicht verändert.“ Sie sah ihn wütend an. „Ich bin nicht mehr das junge Mädchen von damals. Das Leben hat mich hart gemacht, aber auch klüger. Ich sehe dich, wie du wirklich bist: selbstsüchtig, gefühllos und selbstgerecht. Du hast mir geschadet, aber ich lasse nicht zu, dass du meinem Kind schadest!“

Sie wandte sich ihrer Tochter zu, und Charlotte stockte der Atem, als Helena näher kam. Dies war ihr erstes Zusammentreffen seit jenem Streit, nach dem sie Chicago verlassen hatte. Sie hatten sich schreckliche, unverzeihliche Dinge gesagt. Aber das alles war lange her und inzwischen bedeutungslos.

„Verzeih mir“, platzte Charlotte heraus, ihren Stolz überwindend. Sie wollte die Fehde beenden. Diese starke Frau mit all ihren Fehlern war ihre Mutter, und sie liebte sie.

„Nein.“ Helena umfasste ihr zartes Gesicht mit ihren rauen Händen, betrachtete es und machte ihren Frieden damit. „Es war meine Schuld“, widersprach sie und räusperte sich, um Fassung ringend. „Ich hätte dir von deinem Vater und den Umständen deiner Geburt erzählen sollen. Durch mein Schweigen wurde es zu etwas Schmutzigem, aber das war es nicht. Es ist geschehen. Zu lang habe ich mich nach Fridrych gesehnt, dabei hätte ich glücklich sein müssen, dich zu haben. Ich habe gesagt, du wärst meine Strafe gewesen. Aber das stimmte nicht. Du warst ein Geschenk.“ Sie straffte sich und nahm Charlottes schmale Hände in ihre. „Ich bin es, die um Verzeihung bitten muss.“

Charlotte schluchzte auf. Noch nie hatte sie ihre Mutter um Verzeihung bitten hören. Gern hätte sie sie umarmt, unterließ es jedoch, weil sie wusste, wie unangenehm ihr körperliche Nähe war.

Doch plötzlich umarmte Helena sie und hielt sie fest. Für einen Moment fühlte Charlotte sich in die Kindheit zurückversetzt. Da sie jedoch kein kleines Mädchen mehr war, wurde es Zeit, sich von Abhängigkeiten zu lösen und reife Entscheidungen zu treffen.

Sie straffte sich und wischte die Tränen fort. Dann drehte sie sich zu Michael um. Er hatte sie beobachtet und kam wieder näher. Für einen flüchtigen Moment fühlte sie sich in die Zeit bei den Mondragons zurückversetzt, wo sie stets dasselbe Glücksgefühl empfunden hatte wie jetzt, wenn er auf sie zugekommen war.

„Warum bist du hier?“ fragte sie und sah ihm in die Augen. „Die Wahrheit.“

Er verstand den Grund dieser Frage. „Weil ich dich liebe.“

„Auch ohne dieses Gesicht?“

Er legte ihr die Hände auf die Schultern. „Ich sagte, ich liebe dich. Dein Gesicht hat mich vielleicht fasziniert, aber verliebt habe ich mich in die Person. Auch wenn sich dein Gesicht verändert, verändern sich meine Gefühle nicht, das weiß ich.“

Sie nahm das erfreut zur Kenntnis, verbarg es jedoch, indem sie nur verhalten nickte.

„Glaube ihm nicht“, sagte Freddy und kam wieder näher, rotgesichtig und offenbar in Sorge, alles zu verlieren.

Sie spürte Michaels Anspannung. „Warte“, bat sie Freddy und wandte sich wieder an Michael. „Es gibt eine Möglichkeit, zu testen, ob sich deine Gefühle für mich mit meinem Aussehen verändern.“ Sie holte ein Foto aus ihrer Handtasche, das sie immer bei sich trug, um nicht zu vergessen, wer sie war und woher sie kam. „Das hier“, sagte sie und hielt es hoch wie ein Banner, „ist ein Foto von mir vor der Operation.“ Gespannt brachte sie es Michael. „Sieh es dir gut an. Ich nehme es dir nicht übel, wenn du weggehst.“ Sie reichte ihm die Aufnahme. „Könntest du dieses Mädchen lieben?“

Michael nahm das Foto nicht, sondern lächelte nur. „Ich sagte schon, das tue ich bereits.“

„Nein, ich meine das Mädchen auf dem Foto.“

„Ich habe das Foto bereits gesehen, in der Wohnung deiner Mutter.“

Verblüfft legte sie eine Hand an den Mund und wünschte von Herzen, ihm glauben zu können.

„Ich wusste, dass ich dieses Mädchen schon gesehen hatte, aber ich wusste nicht, wo. Bis ich dich heute auf der Bühne erlebte unter Vicki Rays Befragung. Du hattest diesen trotzigen Ausdruck in den Augen, diese Entschlossenheit standzuhalten. Plötzlich fiel mir ein, wo ich das schon mal gesehen hatte. Bei dem Mädchen im Fahrstuhl, in jener kalten Nacht. Ich erinnerte mich an die Augen, nicht an das Gesicht. Ich fragte dich, ob du Hilfe brauchst, und du sagtest Nein.“

„Ich brauchte deine Hilfe. Ich hätte Ja sagen sollen.“

„Dann sag jetzt Ja“, bat er. „Ich habe das Mädchen einmal im Stich gelassen, das wird nicht wieder vorkommen.“

„Lass sehen.“ Freddy drängte sich vor und nahm Charlotte das Foto ab. Ungläubig wanderte sein Blick zwischen ihr und dem Foto hin und her. „Ziehst du mich auf? Und da fragst du noch, ob wir nach Brasilien fliegen sollen? Ein Blick auf das Bild sollte genügen. Harmon, Sie sind ein verdammtes Genie.“

„Halt den Mund!“ fuhr Helena ihn an. „Meine Charlotte war immer schön. Das habe ich damals gesagt, und ich sage es heute. Sie hat eine schöne Seele.“

Plötzlich brach das Chaos los, und alle redeten auf Charlotte ein, was sie jetzt tun solle. Instinktiv sah sie Hilfe suchend zu Michael, doch der überließ ihr die Entscheidung.

„Zurück!“ befahl sie und streckte abwehrend die Hände vor, als sich der Kreis immer enger um sie schloss. Wie auf Kommando schwiegen alle.

„Ich will nicht hören, was ich eurer Meinung nach tun sollte. Es geht um mich, mein Gesicht und mein Leben. Geht jetzt. Alle. Ich brauche Zeit für mich. Ich muss diese Entscheidung allein treffen.“

Verblüfftes Schweigen, niemand regte sich. Freddy ballte die Hände. Helena nickte und sagte mit ihrem starken polnischen Akzent: „Ihr habt es gehört. Raus!“

„Nein!“ trotzte Freddy. „Sei dir über eines klar. Wenn du deine Schönheit verlierst, verlierst du alles. Deine Karriere ist beendet.“

„Besser ihre Karriere als ihr Leben“, konterte Michael.

„Michael, bitte, lass mich das machen“, sagte sie und wandte sich an Freddy. „Ich habe auf der Bühne gesagt, dass ich alles für die Schönheit tun würde. Das war falsch, ich würde alles für die Liebe tun.“

Freddys Gesicht war von Wut verzerrt. „Du willst alles wegwerfen? Alles, wofür wir gearbeitet haben? Wofür? Um wieder ein Niemand zu sein? Damit du heiraten und Kinder kriegen kannst und alt und abgearbeitet wirst wie deine Mutter?“ Er presste die Lippen zusammen. Einen Moment sah es so aus, als wolle er weinen. Doch dann explodierte er zornig und wies vorwurfsvoll mit dem Finger auf sie. „Als wir diese Sache anfingen, hast du geschworen zu tun, was ich sage!“

„Du hattest kein Recht, um diesen Schwur zu bitten, und ich hätte ihn nicht leisten dürfen. Tut mir Leid. Ich bin für mich selbst verantwortlich.“

„Ich habe dich zu dem gemacht, was du bist!“ schrie er und schwang zornig eine Faust. „Du schuldest mir etwas, du gehörst mir!“

Michael trat drohend vor.

Charlotte fröstelte, als ihr das Ausmaß von Freddys Besessenheit bewusst wurde. Es schreckte sie ab wie eine bösartige Krankheit, und zugleich fühlte sie sich wie befreit.

„Ich habe mich dir nicht geschenkt, Freddy, also gehöre ich dir auch nicht.“

„Stattdessen schenkst du dich diesem Verlierer?“

„Ich denke, es ist Zeit für dich zu gehen“, sagte sie in einem endgültigen Ton.

„Wenn ich gehe, geht der mit mir!“ Er blickte Michael wütend an.

„Ich bat dich zu gehen“, wiederholte Charlotte.

„Wenn ich jetzt gehe, dann für immer.“

Sie holte tief Luft und kappte das Band endgültig. „Wie du wünschst, Freddy.“ Vater würde sie ihn niemals nennen.

Hochrot im Gesicht, bewegte er die Lippen, doch es kam kein Ton heraus. Sie wussten beide, dass es nichts mehr zu sagen gab. Plötzlich wirkte er sehr alt und genauso ausgelaugt wie Helena. Als er sich umdrehte und verschwand, musste sie daran denken, dass er auch aus dem Leben ihrer Mutter einfach verschwunden war.

Die Tür schloss sich, und Charlotte sackte erleichtert zusammen. Das war hart gewesen. Vorsichtig rieb sie sich die müden Augen. Sie musste ihre Gedanken ordnen und eine schwierige Entscheidung treffen. Sie hob den Blick, sah in Michaels Gesicht, und plötzlich war die Entscheidung leicht.