16. KAPITEL

Michael brachte sie in der Blockhütte unter. Charlotte fand das Haus mit den zwei Schlafzimmern bezaubernd und hörte erstaunt, dass er es selbst gebaut hatte. Mittelpunkt des großen Wohnraumes war ein massiver Kamin. Abgesehen von einem neuen Doppelbett, einem großen Eichentisch und einigen aus Ästen gezimmerten Stühlen gab es kein Mobiliar.

Gleich nach der Ankunft steckte Michael sie ins Bett, damit sie sich ausruhte. Sie fühlte sich geborgen wie in einem Kokon, murmelte noch etwas, wie schön das Haus sei, und war bereits eingeschlummert.

Sie schlief drei Tage in dem großen Himmelbett, während Michael auf einer Liege im Nebenraum nächtigte.

Später erinnerte sie sich vage, Wasser und kräftige Hühnerbrühe getrunken zu haben, die Michael ihr auf einem Tablett servierte, und ins Bad gewankt zu sein.

Am Morgen des vierten Tages erwachte sie zum Geräusch eines Sprengers, der in Intervallen den frisch gesäten Rasen vor dem Haus wässerte. Aus der Ferne hörte sie das Brummen eines Traktors, Vogelgezwitscher und gelegentliches Rufen. Ihre Knochen fühlten sich bleiern an, und ihr Mund war trocken.

„Du bist wach“, stellte Michael in der Tür stehend fest. „Möchtest du ausprobieren, ob dich deine Beine tragen?“

„Ich bin noch sehr müde.“

„Dann bleib im Bett. Du kannst es dir leisten, du hast nichts zu tun.“

Faulenzen war ihr jedoch fremd. „Ich glaube, ich stehe auf.“ Das tat sie, wenn auch auf wackeligen Beinen. Nach einem Bad in einer Wanne mit Löwenfüßen und Michaels Rücken- und Kopfmassage hüllte sie sich in einen blauen Bademantel.

Michael brachte ihr ein Glas Wasser mit Zitrone. „Du musst viel trinken, um Toxine auszuspülen. Bobby hat mir einen ganzen Maßnahmenkatalog und Vitamine für dich gegeben.“ Er verschwieg, dass er die Schmerztabletten in ihrer Kulturtasche gefunden hatte. Darüber würden sie später reden, wenn sie kräftiger war.

„Du verwöhnst mich. Ich sollte dir helfen.“

„Nein, Querida, ruh dich aus. Ich sorge für dich. Trink das Wasser. Ich mache uns etwas zu essen.“

Weitere zwei Tage tat sie nichts und ließ sich rundum verwöhnen. Sie schlief so gut wie nie. Michael sah mehrmals täglich nach ihr, obwohl er in der Gärtnerei eine Menge zu tun hatte. Bobby kam vorbei, um mit ihr zu plaudern. Am Abend kochte Michael für sie und las ihr später etwas vor, während sie in seinen Armen lag. Am fünften Tag fühlte sie sich fit genug, um wieder hinauszugehen, eigentlich sogar gut genug, sich ein wenig zu langweilen.

Da überbrachte Michael ihr die Einladung seiner Eltern zum Sonntagsdinner. Er erklärte, es sei Familientradition, sich jeden Sonntag bei seinen Eltern zum Essen zu treffen.

„Süß“, erwiderte sie und schlürfte ihren Tee. „Hast du viele Mädchen mit zum Essen gebracht?“

„Nein, eigentlich keine. Ich habe Mädchen … Frauen auf einen Drink mit nach Hause gebracht oder einfach, um Hallo zu sagen. Aber eigentlich war es mir immer lieber, Familie und Freunde zu trennen. Das waren …“, er zuckte die Achseln und blickte auf seine Hände, „… verschiedene Welten.“

Eine unerwartete Antwort. Sie hatte damit gerechnet, dass er bei seinem guten Aussehen ganze Ladungen von Freundinnen heimgeschleppt hätte. Ihrem Besuch gab das allerdings eine besondere Bedeutung.

„Vielleicht sollte ich noch warten, bis es mir besser geht“, versuchte sie es hinauszuzögern.

„Charlotte, wir haben schon viel Zeit verschwendet. Ich bin dreißig. Ich will nicht weiter so tun, als wären wir nur locker befreundet. Ich bin zu alt für solche Spielchen, und sie entsprechen nicht meinem Naturell. Ich weiß, was ich will, und ich will es jetzt. Ich war deinetwegen geduldig, aber jetzt sage ich, zur Hölle damit. Deine Karriere wird es überleben, aber ich vielleicht nicht, wenn ich mich weiter verstellen muss. Du trägst meinen Verlobungsring.“ Er nahm ihre beringte Hand und küsste sie. „Ich will allen sagen, dass du zu mir gehörst.“

„Nun, wenn du es so darlegst“, begann sie schmunzelnd, „sollten wir vielleicht bei deinen Eltern anfangen.“

Er zog sie lächelnd an sich.

„Wissen deine Eltern, dass ich hier lebe?“

„Natürlich.“

Sie musste daran denken, wie ihre Mutter es verdammen würde, wenn eine junge Frau vor der Ehe mit einem Mann zusammen lebte. Wenigstens sind wir verlobt, dachte sie. „Was macht eine Gringa wie ich ihrer zukünftigen Schwiegermutter für ein Geschenk?“

„Ein Enkelkind“, erwiderte er und küsste sie innig.

Am Sonntag kleidete Charlotte sich besonders sorgfältig. Auf dem Bett stapelten sich bereits die Sachen, die keine Gnade gefunden hatten: alle kurzen, eng anliegenden Kleider und solche mit tiefem Ausschnitt. Kräftige Farben waren vielleicht zu auffallend, und strenge Schnitte erschienen in ländlicher Umgebung eher unangebracht. Händeringend stand sie im Slip vor ihrem Bett und dachte plötzlich an ihren kleinen Schrank in Chicago, in dem nur ein gutes Kleid für alle Anlässe gehangen hatte. Das Mädchen von damals war Welten von ihr entfernt.

Michael umarmte sie von hinten und küsste ihr den Nacken.

„Ich verstehe nicht, warum du so viel Aufwand treibst. Es ist nur die Familie.“

„Du bist wirklich keine Hilfe“, beklagte sie sich und lehnte sich an ihn. „Du duschst dir einfach den Tagesschmutz ab und steigst in deine Uniform aus weißem Hemd und schwarzer Hose.“

„Ich mag weiße Hemden.“

„Wie leicht ihr Männer es habt. Solange ihr sauber seid und euch die Nägel schneidet, sind wir schon mit euch zufrieden.“ Sie drehte sich halb um und sah sein weißes Hemd und die schwarze Hose. „Aha, schon fertig. Wie ich sehe, hast du die Dockers gegen Armani getauscht.“

„Nun ja, schließlich ist es ein besonderer Anlass“, erwiderte er schief lächelnd.

Schließlich entschied sie sich für ein schlichtes Chanelkleid, das sie bei einem ihrer Pressetermine getragen hatte. Ihre letzte Kostümbildnerin hatte behauptet, mit Chanel träfe man immer den richtigen Ton. Da Estelle zwei Oscars für ihre Entwürfe eingeheimst hatte, durfte man ihrem Urteil wohl trauen.

Obwohl Michael warnte, seine Familie seien einfache Leute, die sich nicht so förmlich kleideten, war sie zu sehr darauf aus, einen guten Eindruck zu machen, um ihm zu glauben. Ihre zukünftige Familie kennen zu lernen verlangte nach einem Oscar-reifen Auftritt. Um den Hals legte sie eine kleine Perlenkette, damit es nicht zu aufdringlich wirkte, dazu trug sie goldgefasste Perlenohrstecker und an den Händen lediglich den Diamantring.

Auf den Eingangsstufen zum farbenfroh gestrichenen Farmhaus der Mondragons wusste sie bereits, dass sie sich zu fein gemacht hatte. Am Fenstertisch saßen zwei Männer in Baumwollhosen und hellblauen, am Kragen offenen Hemden beim Kartenspiel. Auf dem Boden streckten sich zwei Kinder in Shorts und Baumwoll-T-Shirts aus und spielten Monopoly.

Es war nur eine Frau im Raum, groß, starkknochig und selbstsicher, die einem der Männer im Befehlston etwas zurief. Vermutlich war der Jüngere der beiden ihr Mann. Sie trug einen weiten, langen roten Baumwollrock und dazu ein gelbes Hemd, das die vielen Sommersprossen auf ihrer hellen Haut betonte. Ihr langes hellbraunes Haar war offen. Als einzigen Schmuck trug sie große Goldkreolen an den Ohren und einen breiten goldenen Ehering an einer großen Hand.

Charlotte krümmte die Zehen in ihren teuren Ferragamo Pumps und wünschte, es wären Sandaletten. Sie wollte schon Perlenkette und Ohrstecker in der Tasche verschwinden lassen, als Bobby sie lächelnd entdeckte.

„Sie sind da!“ rief er und sprang auf. Dann eilte er mit ausgebreiteten Armen auf Charlotte zu. „Endlich. Die Truppen wurden bereits ungeduldig.“ Er deutete mit dem Kopf auf die Kinder, die mit großen dunklen Augen aufsahen. „Ich habe ihnen schon erklärt, dass eine Schauspielerin immer einen großen Auftritt braucht.“

Charlotte errötete leicht und schüttelte ihm zur Begrüßung die Hand. Während Bobby sie mitten ins Zimmer zog, sah sie Hilfe suchend zu Michael. Der wirkte entspannt im Kreise seiner Familie, sogar amüsiert über Bobbys Auftritt. Von ihm habe ich keine Hilfe zu erwarten, dachte sie ängstlich, während sich der Kreis neugierig um sie schloss. Sie spürte, dass Michael es kaum erwarten konnte, die entscheidende Ankündigung zu machen.

Die beiden Männer am Tisch legten die Karten beiseite und erhoben sich, als Michael Charlotte zu ihnen führte. „Papa, Manuel, das ist Charlotte Godfrey. Die Charlotte Godfrey.“

Luis, der auf Augenhöhe mit ihr war, nahm höflich lächelnd ihre Hand. Sein Lächeln erreichte jedoch nicht die Augen. Er betrachtete sie so abschätzend, wie Freddy es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte. Charlotte erwiderte den Blick des Mannes mit dem eisgrauen Haar und wusste, dass er sich für sein Abschätzen nicht entschuldigen würde.

„Sie sind also berühmte Schauspielerin“, stellte er laut und mit starkem Akzent in einem Ton fest, als hätte sie Aussatz.

„Ich bin Schauspielerin“, bestätigte sie und hielt seinem Blick stand.

Der jüngere Mann war untersetzter. Er trug sein Hemd halb offen und die Ärmel aufgerollt. Ein gutes Stück kleiner als sie, war er offenkundig überwältigt von ihrer Schönheit oder ihrem Ruhm und bekam nur eine gemurmelte Begrüßung heraus.

„Ich bin Maria Elena“, sagte das kleine Mädchen und drängte sich selbstsicher vor.

Charlotte wandte sich ihr lächelnd zu, dankbar für die kindliche Herzlichkeit. Wie viel einfacher war es doch, mit Kindern umzugehen.

„Maria Elena, was für ein hübscher Name. Er kommt mir wie ein Lied über die Lippen.“

Die Kleine freute sich. „Ich bin Tío Miguels Nichte.“ Sie sprach forsch und in der typischen Haltung eines kessen Kindes, das gern im Mittelpunkt steht. „Wenn ich groß bin, will ich auch Schauspielerin werden. Oder Tänzerin. Oh, und das ist Francisco. Wir nennen ihn Cisco.“

Charlotte blickte zu dem Jungen, der noch neben dem Monopolybrett kniete. Er war etwa zehn, und das Mädchen nicht viel jünger. Ihm war bereits die Unsicherheit der nahen Pubertät anzumerken, an die sie sich selbst gut erinnerte.

„Hallo, Cisco.“

„Hi.“ Er sah auf das Spiel.

Charlotte gab ihr Bestes, nicht zu zeigen, wie nervös sie war. Sie wollte gern von Michaels Familie akzeptiert, ja gemocht werden. Als sie seine Schwester Rosa kennen lernte, merkte sie jedoch, dass es schwer werden würde.

Rosa nickte brüsk, als sie ihr vorgestellt wurde, was fast schon einer Abfuhr gleichkam. Sobald Rosa sich unbeobachtet glaubte, musterte sie jedoch unverhohlen neidvoll Charlottes Kleid und Schmuck, zog den Bauch ein und nestelte an ihren Kreolen herum. Charlotte seufzte nur. Neid von Frauen war ihr nicht fremd. Erst als sie Michaels Mutter kennen lernte, keimte wieder Hoffnung in ihr.

Marta, wie sie bat genannt zu werden, als Charlotte sie mit Mrs. Mondragon ansprach, trug aus der Küche ein Tablett mit warmen Tortillas und Salsa herein. Die zierliche Frau zeigte nicht den Funken Abneigung, sondern wischte sich die Hände an der weißen Schürze ab und verbreitete mit ihrem Lächeln und der ausgestreckten Hand nichts als echte mütterliche Wärme. Charlotte nahm die kleine, abgearbeitete Hand, musste sofort an ihre eigene Mutter denken und fühlte sich dieser Frau verbunden.

Marta war klein und zierlich und trug dunkle zurückhaltende Kleidung. Ihr braunes, mit Grau durchzogenes Haar war zu einem klassischen Knoten geschlungen. Die glatte Haut zeigte Charakterfalten, und in den dunklen Augen schimmerte eine stille Intelligenz.

Marta umgab die Aura des dienstbaren Geistes, allerdings nicht im negativen Sinn. Eher wie bei einem Menschen, der die Bedeutung von Höflichkeit verinnerlicht hatte, der ein leeres Glas auffüllte, jemandem einen Platz anbot oder einfach nur freundlich war. Sie hatte begriffen, dass die Wurzel aller Höflichkeit die schlichte Fürsorge für den Mitmenschen war.

Der entscheidende Unterschied zwischen ihrer Mutter und Marta bestand darin, dass Helenas Dienstbarkeit eher den Geruch der Unterwürfigkeit hatte. Sie war ein Angstbeißer, der blindwütig attackierte, sobald er sich in die Enge getrieben fühlte.

Marta hingegen, flankiert von ihrem kraftvollen, bulligen Ehemann, den sie zweifellos verehrte, ihren zwei gut aussehenden Söhnen, der Tochter und den Enkelkindern, strotzte vor Selbstsicherheit. Sie konnte es sich leisten, Liebe und Herzlichkeit auszuteilen.

„Ich möchte euch etwas sagen“, erklärte Michael der versammelten Familie. „Ich habe noch nie eine Frau mit nach Hause gebracht, um sie euch offiziell vorzustellen. Bisher war mir keine wichtig genug, sie zu bitten, sich euren prüfenden Blicken zu stellen.“

Höfliches Gelächter. Alle waren gespannt und ahnten, wohin diese scherzhafte Einleitung führte. Charlotte blickte auf ihre Schuhspitzen und spürte ihre Wangen warm werden.

„Ich habe Charlotte gebeten, meine Frau zu werden, und darf mit Vergnügen verkünden, dass sie eingewilligt hat.“

Einen Moment Stille, dann Bobbys freudiger Ausruf. „Endlich! Endlich geht ihr an die Öffentlichkeit. Wird aber auch Zeit. Ich dachte schon, ich würde den Ring nie an deinem Finger sehen, Charlotte.“ Er blinzelte ihr zu. Offenbar hatte Michael ihm anvertraut, dass sie den Ring an der Kette um den Hals trug. „Mein Bruder ist deiner nicht würdig, aber da du dumm genug bist, in diese Familie einzuheiraten, komm her und lass dich von deinem Schwager anständig mexikanisch umarmen.“

Er umarmte sie stürmisch, tätschelte ihr den Rücken und schwang sie leicht hin und her. Bobbys Herzlichkeit versetzte sie geradezu in ein Hochgefühl. Die Kinder warteten ungeduldig tänzelnd, um ebenfalls umarmt zu werden. Zuerst Maria Elena, dann Cisco. Über deren Köpfe hinweg bemerkte sie jedoch die skeptischen und erstaunten Blicke, die Luis und Marta tauschten.

Luis trat vor, nahm ihre Hand zwischen seine großen, schwieligen Hände und gab ihr einen festen Kuss auf die Wange. „Willkommen in der Familie“, sagte er. Es waren die richtigen Worte, aber mit wenig Begeisterung gesprochen.

Charlotte zwang sich zu einem strahlenden Lächeln. „Danke.“

Marta beugte sich zu ihrem Sohn hinüber und fragte Michael leise etwas auf Spanisch, er antwortete ebenso leise. Möglicherweise wollte seine Mutter wissen, ob sie schwanger war. Dann kam Marta zögernd heran, küsste sie ebenfalls auf die Wange und wiederholte Luis’ Willkommensgruß. Trotz ihres Lächelns lag Besorgnis in ihrem Blick. Manuel kam näher, spitzte die trockenen Lippen und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Rosa blies empört die Wangen auf und verließ den Raum.

Charlotte ließ sich nicht anmerken, wie sehr der reservierte Empfang sie verletzte, und sagte sich, dass es nur natürlich war, wenn sie zögerlich auf jemanden reagierten, den Michael gerade erst mitgebracht hatte.

Die Spannung löste sich, sobald das Dinner serviert war. Charlotte saß zu ihrer Erleichterung zwischen Michael und Bobby, der offenbar zu den Menschen gehörte, die sich unbehaglich fühlten, nur schweigend dazusitzen. In Hollywood war ihr dieser Typus häufiger begegnet. Bobby gab sich Mühe, witzige Geschichten über ihre neue Familie zu erzählen, und brachte alle zum Lachen. Michael beugte sich häufiger zu ihr hinüber, tätschelte ihr das Bein oder zwinkerte ihr aufmunternd zu.

Als Ehrengast stand sie im Mittelpunkt, und alle Fragen und Erzählungen waren an sie gerichtet. Sie antwortete stets höflich und diplomatisch.

„Wann ist die Hochzeit?“ fragte Luis in seiner schroffen Art.

„Ich weiß nicht. Wir müssen noch …“

„Bald“, entschied Michael.

Charlotte sah ihn nur schweigend an.

„Heiratet ihr in der Kirche?“ fragte Marta.

Michael zuckte die Achseln. „Mir ist es egal, wo …“

„Sicher“, unterbrach Charlotte ihn. Sie fing Martas Blick auf und erkannte deren Zustimmung.

„Dann sind Sie Katholikin?“ fragte Luis.

„Ja, die Polen sind strenge Katholiken.“

„Das ist gut. Wenigstens ist sie Katholikin.“ Er nickte Marta zu, wie um zu sagen, vielleicht ist dann doch noch nicht alles verloren.

Marta nickte ebenfalls.

Charlotte zog fragend die Brauen hoch.

Michael verdrehte die Augen.

Charlotte begann sich leicht die Schläfen zu massieren und bemerkte, dass Michael es mit Sorge verfolgte. Da ihr die Finger zitterten, legte sie die Hände rasch auf den Schoß zurück.

„Sie wohnen also in der Blockhütte“, stellte Marta fest. „Vielleicht wäre es bequemer für Sie, hier einzuziehen, bei uns. Wir haben ein freies Gästezimmer. Natürlich ist Michael Ihr novio, aber …“ Offenkundig wäre es Marta lieber, wenn sie ins Farmhaus zöge. „Ich denke Michael und Bobby könnten in der Blockhütte wohnen, no?“

„Nein!“ widersprach Michael entschieden. „Es ist sehr bequem für sie im Blockhaus, Mama.“ Er sah kurz zu Charlotte, die in ihrem Essen herumstocherte.

„Rosa blieb im Haus ihrer Eltern bis zu dem Tag, als wir sie Manuel übergaben“, erklärte Luis. „Auf den Stufen der Kirche!“ Er sah Rosa lobend an in offenkundigem Stolz auf ihre Tugend, als sei das ein Familienjuwel.

Rosa lächelte und warf Charlotte einen herausfordernden Blick zu.

Charlotte schluckte nur trocken, unfähig, sich zu verteidigen. Sie konnte unmöglich hervorheben, dass sie ein sehr anständiges Mädchen und Michael ihr erster Freund und Liebhaber war. Sie streifte ihn mit einem Seitenblick. Die Meinung seiner Eltern schien ihn nicht zu kümmern. Er sah sie aufmunternd mit einem Blick an, der besagte, sie solle sich nichts daraus machen.

„Wie bist du Schauspielerin geworden?“ fragte Maria Elena. „Ich will auch Schauspielerin werden, wenn ich groß bin.“

„Schsch, sie möchte nicht darüber reden“, wies Rosa ihre Tochter scharf zurecht. „Siehst du nicht, dass sie müde ist?“

„Es macht mir nichts aus“, widersprach Charlotte und lächelte das Kind an, dankbar für den Themenwechsel. Sie fühlte sich benommen, wollte aber das kleine Mädchen, das sie anhimmelte, nicht enttäuschen. In ihrem Metier geschah es nicht selten, dass Leute, die einen gewissen Ruhm erlangt hatten, all jene nicht mehr beachteten, die sie für unwichtig hielten. In ihren Augen war das ein schlimmer Charakterfehler.

„Es ging alles sehr schnell“, erklärte sie. „Ich wollte schon als Kind Schauspielerin werden, genau wie du. Als ich erwachsen war, kam ich nach Kalifornien und hatte sehr viel Glück. Und ich habe hart gearbeitet. Ich denke, das ist das Geheimnis, Maria Elena, sich etwas sehr wünschen und hart dafür arbeiten. Ich hoffe, du hast auch Glück.“

„Ich möchte nicht, dass meine Tochter Schauspielerin wird“, wandte Rosa ein. „Mir schwebt etwas Besseres für sie vor.“

Bobby führte soeben sein Wasserglas an den Mund, verharrte in der Bewegung und warf Rosa einen warnenden Blick zu.

„Meine Mutter wollte das auch nicht“, erwiderte Charlotte lächelnd. „Und das ist dabei herausgekommen.“

„Wo ist Ihre Mutter?“ fragte Luis gebieterisch, als verlange er eine Antwort.

„Sie lebt in Chicago.“

„Ah, Chicago. Und Ihr Vater, was macht der?“

„Er starb, als ich noch ein Kind war. Ich habe ihn nicht gekannt.“

Maria Elena seufzte mitfühlend.

„Ich hoffe, Ihre Mutter kennen zu lernen“, erklärte Marta ruhig. „Wo wird Hochzeit sein, hier oder in Chicago?“

„Eindeutig hier.“ Charlotte blickte auf ihre Hände. „Meine Mutter wird wahrscheinlich nicht zur Hochzeit kommen.“

Michael wandte sich ihr verblüfft zu.

„Sie wird nicht zur Hochzeit ihrer Tochter kommen?“ polterte Luis. So etwas war für ihn unvorstellbar.

Charlotte errötete und wollte keine neue Runde von Lügen einläuten, nicht bei ihrer zukünftigen Familie. „Meine Mutter ist mir böse, weil ich nach Kalifornien gegangen bin“, erklärte sie. „Sie war nicht einverstanden.“

„Sie ist nicht einverstanden mit meinem Miguel?“ donnerte Luis.

„O nein!“ korrigierte Charlotte rasch. Ihr wurde klar, dass er annahm, sie hätten sich bereits in Chicago kennen gelernt. In gewisser Weise stimmte das ja auch, aber das mochte sie jetzt nicht erläutern. „Meine Mutter ist Michael nie begegnet. Ich bin sicher, er würde ihr gefallen.“

Luis nickte beschwichtigt.

„Sie war nicht damit einverstanden, dass ich Schauspielerin wurde.“ Sie warf der aufmerksam lauschenden Rosa lächelnd einen Blick zu. „Sie hielt es für falsch, dass ich allein nach Kalifornien zog. Sie hat mir das nie verziehen und verweigert jeden Kontakt mit mir.“

„Virgencita!“ rief Marta entsetzt aus, die Hände an den Wangen. Es war klar, dass sie ihr Kind niemals so im Stich lassen würde, auch wenn sie zu höflich war, das jetzt zu betonen.

Seltsamerweise schien ihre kleine Tragödie das Eis bei den Mondragons zu brechen. Charlotte kam sich plötzlich wie ein ausgesetzter Welpe vor, der von einer freundlichen Familie aufgenommen wird.

Den Rest der Mahlzeit überstand sie einigermaßen gut. Sie reichte Platten weiter, trank Wasser und hantierte mit dem Stiel ihres Weinglases. Nach dem Dinner begann sie jedoch zu spüren, unter welcher Anspannung sie stand.

Die Familie erhob sich schließlich, Stühle wurden gerückt, und man verfiel in die nach dem Essen üblichen Rituale.

Luis beorderte Manuel an den Spieltisch zurück, und der trottete gehorsam hin. Zu Luis’ Freude gesellten sich Michael und Bobby dazu. Die Kinder widmeten sich wieder ihrem Monopoly, während ihre Mutter sich demonstrativ mit einem Magazin auf das Sofa setzte, den Rücken zum Esszimmer.

„Rosa, geh und hilf deiner Mutter in der Küche!“ kommandierte Luis grob.

„Warum sollte ich? Weil ich eine Frau bin? Ich will nicht. Du hast zwei kraftvolle Söhne. Und Cisco.“ Sie wandte sich an ihren Sohn. „Glaubst du, weil du ein Junge bist, musst du kein Geschirr abwaschen?“

Cisco reckte trotzig das Kinn vor. „Muss ich nicht. Du kannst mich nicht zwingen!“

„Was sagst du da?“ Rosa sprang hitzig auf.

Cisco zuckte sichtbar zusammen, blieb aber standhaft.

„Er hat Recht“, polterte Luis. „Das ist nicht unsere Tradition. Geh, Rosa. Sei gutes Vorbild für deine Tochter.“

„Ich bin ein Vorbild für meine Tochter!“

Charlotte sah, wie Bobby und Michael Blicke tauschten. Interessant, dachte sie.

„Rede nicht so mit Vater“, mischte sich Manuel ein. Seine dunkle Haut rötete sich, und er warf Rosa einen warnenden Blick zu.

Seine Warnung schien sie nicht zu beeindrucken. „Es ist nichts, was er nicht schon gehört hätte.“

„Genug!“ bellte Luis. Die Kinder zuckten zusammen. „Du bist beschämend für Familie.“ Charlotte merkte, dass er ungeduldig in ihre Richtung blickte. Rosa, so dickköpfig wie ihr Vater, zuckte nur gleichmütig die Achseln und setzte sich wieder. Doch ihre Augen sprühten Funken. Die Schultern gestrafft, blätterte sie weiter ihr Magazin durch.

„Warum bittest du unseren Gast nicht, den Abwasch zu machen? Sie ist auch eine Frau.“ Sie drehte den Kopf und warf Charlotte einen abschätzenden Blick zu. „Oder sind die Filmstarhände zu zart für Küchenarbeit?“

„Rosa!“ tadelte Michael scharf. „Hast du überhaupt keine Manieren? Charlotte ist unser Gast. Gäste, ob Mann oder Frau, brauchen keinen Finger zu rühren!“

Charlotte hatte durchaus Verständnis für Rosas Haltung, doch das hier war nicht ihr Kampf. Ihr erschien es richtiger, das Angemessene zu tun, und Marta mit dem Berg Geschirr allein zu lassen, nachdem sie schon das köstliche Mahl zubereitet hatte, war einfach ungerecht.

Zu helfen war eine Frage des Anstandes und nicht mangelnder Emanzipation.

„Michael, ich würde gern helfen“, wandte sie beschwichtigend ein, ging zu Marta an den Tisch und nahm ihr eine große Platte ab. „Darf ich?“

Marta lächelte ihr warmherzig zu. „Sí, wenn Sie wollen?“

Charlotte begann eine Unterhaltung, während sie den ersten Geschirrstapel in die Küche trugen. Dass Marta, wenn auch manchmal etwas mühsam, Englisch mit ihr sprach, schmeichelte ihr. Offenbar entwickelten sie einen Draht zueinander. Auch wenn sie nur über die Verwendung der verschiedenen Sorten mexikanischen Pfeffers redeten, worin Marta eine Autorität war, diente es dem Kennenlernen.

Rosa warf ihr allerdings feindselige Blicke zu, da sie sich offenbar von ihr verraten fühlte und ihre Position in der Familie gefährdet sah. Luis verfolgte das Ganze mit einem kleinen, zufriedenen Lächeln.

Zu Charlottes Freude stand Michael auf, kam an den Esstisch und half abräumen, wobei er sich in die Unterhaltung über Pfeffer einmischte.

Es war eine Geste der Liebe.

In der Nacht, als sie in der Hütte in seinen Armen lag, fragte Michael sie nach ihrer Mutter.

„Was ist das mit deiner Mutter? Du hast mir nie gesagt, dass sie gegen deinen Umzug nach Kalifornien war.“

„Nein, habe ich nicht“, bestätigte sie und versuchte dem Thema auszuweichen.

„Ich wusste auch nicht, dass deine Mutter nicht mehr mit dir spricht.“

„Es war mir peinlich.“

„Es mir zu sagen? Ich dachte, wir würden uns alles erzählen. Genau das liebe ich so an unserer Beziehung, dass wir total ehrlich zueinander sind.“

Sie schluckte trocken. „Manchmal ist die Wahrheit schwer zu ertragen. Sie tut einfach weh. Ist das denn so wichtig?“ Auf einen Ellbogen gestützt, wandte sie ihm ihr Gesicht zu.

„Ob was wichtig ist, Querida? Dass du mir alles erzählst? Natürlich ist das wichtig. Ich möchte nicht, dass es Geheimnisse zwischen uns gibt.“

„Und wenn … ich meine, gibt es nicht Dinge in unserer Vergangenheit, die wir nicht teilen möchten? Ich möchte nichts von deinen früheren Freundinnen wissen. Und du bist sicher auch nicht erpicht darauf, mir bis ins letzte Detail davon zu erzählen, oder?“

Er dachte darüber nach und schüttelte langsam den Kopf. „Es ist ein Unterschied, ob man Teile der Vergangenheit nur Stück für Stück preisgibt, oder ob man etwas Wichtiges verschweigt. Ich werde gern beim gemeinsamen Älterwerden auf langen Spaziergängen immer mal wieder etwas Neues aus deiner Kindheit hören, was ich meinen Erinnerungen hinzufügen kann. Aber Geheimnisse?“

Er musste daran denken, dass er und Bobby mit ihrem Vater nicht offen über alles reden konnten, und wie schlecht ihre Beziehung dadurch geworden war. „Geben wir uns ein Versprechen. Wir werden uns immer die Wahrheit sagen, gleichgültig, wie schmerzlich sie ist. Das ist mir sehr wichtig.“

Wie hätte sie es ihm jetzt sagen können? Er würde sie hassen. Nein, er hatte Unrecht. Es gab ein paar Geheimnisse, die man bewahren musste. Was nützte es ihm, wenn er von ihrer Operation erfuhr oder von der bedauernswerten Charlotte Godowski. Er liebte sie so, wie sie war … wie sie jetzt war, als Charlotte Godfrey. Nein, ihr Geheimnis musste gewahrt bleiben.