1. KAPITEL
April 1996
Da die Welt angeblich eine Bühne war, wurde es wieder Zeit für sie, ihre Rolle zu spielen.
Charlotte saß im grünen Raum des Fernsehstudios, während sich draußen die Titelmelodie der Talkshow mit dem Applaus des Publikums mischte. Sie hatte Vicki Ray dieses Interview versprochen, und es gab kein Zurück mehr. Lieber diese Stunde durchstehen, als monatelang eine schlechte Presse erdulden. Sie hatte in letzter Zeit genug schlechte Presse gehabt. Ihr Plan stand fest. Freddy hatte gewohnt zwanghaft alle Details geklärt. Wie hatte er noch gesagt? „Interview, Trauung, Operation. Zack, zack, genau in der Reihenfolge.“
Ihre Schläfen hämmerten im Rhythmus des Pulsschlags. Wie heiß es hier war! Sie legte eine zitternde Hand an die fiebrige Stirn. Ihre Lippen waren wie ausgedörrt. Sie presste die Finger zusammen, um sie am Zittern zu hindern. Bitte, lass die Symptome nicht schlimmer werden, flehte sie im Stillen. Vielleicht nahm sie besser noch eine Tablette. Sie suchte in ihrer Handtasche danach. Nur für alle Fälle.
Drei kurze Klopfzeichen an der Tür.
„Charlotte?“ Freddy Walen trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Obwohl nicht groß gewachsen, füllte er mit seiner dominanten Präsenz den Raum und ließ Charlotte innerlich schrumpfen, während er sie mit forschendem Blick besitzergreifend musterte.
„Gut … gut“, sagte er offenbar zufrieden und strich sich über den ordentlich gestutzten Oberlippenbart. Kein Schmuck am schlanken Schwanenhals, das lange blonde Haar fiel locker auf die Schultern und die großen blauen Augen strahlten. Dieses Aussehen bezeichnete Freddy als das „Strahlen eines Stars“. Er hatte ihr beigebracht, das Publikum erwarte von Charlotte Godfrey unterkühlte Eleganz. Und sie enttäuschte es nicht.
„Was nimmst du da?“ fragte er.
„Eine Schmerztablette, um das Interview zu überstehen.“ Sie starrte auf die weiße Pille in ihrer Hand und hob besorgt den Blick. „Freddy, sag das Interview ab. Es geht mir nicht gut. Die Symptome kehren zurück. Meine Hände zittern, und noch eine Tablette zu nehmen ist keine Lösung.“
„Es wird schon gehen“, erwiderte er brüsk und tätschelte ihr die Schulter. „Kopf hoch. Wir können jetzt nicht mehr absagen. Außerdem brauchen wir dieses Interview, um Gerüchte zu zerstreuen. Danach haben wir Ruhe vor der Presse und können nach Südamerika abreisen, damit du wieder in Ordnung kommst. Zieh die Show durch, und wir sind weg hier. Versprochen. Nimm jetzt die Pille.“
Charlotte schenkte sich ein Glas Wasser ein. „Ich traue Vicki Ray nicht. Sie ist hart. Gewitzt. Was, wenn sie etwas vermutet?“
„Vergiss es. Vicki hat keine Ahnung. Andernfalls würde ich es wissen.
„Miss Godfrey?“ Von jenseits der Tür kam die hohe, angestrengte Stimme eines Inspizienten. „Sind Sie fertig? Es ist wirklich Zeit.“
Sie verstand seine Panik und hatte Mitleid. Hinauszögern war ohnehin sinnlos. „Ja!“ rief sie und schluckte rasch ihre Medizin. „Natürlich. Sofort.“
„Denk dran.“ Freddy nahm sie bei den Schultern. „Es ist nur eine weitere Rolle. Halte dich an das Drehbuch, Baby, und du wirst großartig sein.“
Charlotte schüttelte seine Hände ab. „Sei nicht albern, Freddy. Bei Vicki Ray gibt es kein Drehbuch.“ Sie öffnete die Tür und sah sich einem jungen Mann mit Panik im Blick gegenüber, der sie im Eiltempo den Flur entlanggeleitete, vorbei an Mitarbeitern, die sie verehrend anlächelten. In den letzten Jahren war sie gegen diese Verzückung immun geworden. Diese Leute wussten nichts von ihr und kannten den Menschen hinter der Glamourerscheinung nicht. Freundlich nickend ging sie rasch vorbei.
Sie erreichten die Bühne, als Vicki Ray ihren Gast ankündigte, indem sie einige ihrer Filmrollen nannte und ihren kometenhaften Aufstieg betonte. Charlotte hörte aufmerksam zu und schlüpfte in die Rolle der Beschriebenen: ein Star von legendärer Schönheit, vor der Kamera ein Phänomen, im Privatleben ein Einsiedler. Die neue Garbo.
Es gab eine kurze Pause, einen Moment, die Hand an die Stirn zu legen und sich zu sammeln. Charlotte atmete tief durch, zwang sich, die Hände still zu halten, und setzte jenes geheimnisvoll sinnliche Lächeln auf, das ihr Markenzeichen war.
Der Hinweis, zu applaudieren, leuchtete auf. Im blendenden Scheinwerferlicht betrat sie die Bühne – Suchscheinwerfer eines Gefängnisses, die ihr jeden Fluchtweg versperrten. Mit geschulter Grazie ging sie zu dem einzelnen weißen Sessel. Unter dem gleißenden Licht fühlte sie sich wie eine Laborratte auf dem Seziertisch. Sie sah auf das Meer von Gesichtern und erkannte im Blick vieler Frauen den vertrauten Neid und bei den Männern Begehren. So war es immer, und sie fühlte sich einsamer denn je.
Entschlossen verdrängte sie die Gefühle der Charlotte Godowski und schlüpfte in die Rolle der Charlotte Godfrey, die sie so grandios beherrschte. Die Verwandlung war ein nützlicher Trick, doch schien ihr dabei jedes Mal ein wenig mehr ihrer Persönlichkeit abhanden zu kommen. Dennoch blieb es eine Notwendigkeit, sich von der Welt abzugrenzen. Sie gestattete niemandem, ihren Panzer zu durchdringen. Auch Freddy nicht. Schon gar nicht Freddy. Nur Michael … Beim Gedanken an ihn bekam ihr Panzer Risse.
Das Interview begann locker. In der ersten Hälfte der Show zeigte Vicki einige Filmausschnitte. Charlotte würzte sie mit Anekdoten, besonders über ihre attraktiven Co-Stars. Das Publikum nahm es begierig auf und ahnte nichts von ihrem inneren Kampf. Sie wirkte entspannt, löste die ineinander verschlungenen Finger und schlug die Beine nicht mehr übereinander. Gelegentlich lachte sie sogar über eine alberne Frage aus dem Publikum, vor allem, wenn es um ihr hinlänglich publiziertes Liebesleben ging.
„Wasser!“ flehte sie in der Pause. In wundersamer Schnelligkeit brachte man ihr Perrier mit Zitrone, und sie trank gierig. Ihre Lippen fühlten sich geborsten an, sie schmorte geradezu in der zunehmenden Glut ihres Fiebers.
Sobald das Leuchtsignal den Fortgang der Show anzeigte, betupfte sie sich mit einem Spitzentaschentuch die Stirn und nahm sich zusammen. In letzter Sekunde suchte sie Blickkontakt zum Kameramann und zwinkerte ihm zu. Er grinste errötend zurück. Freddy hatte sie einige Tricks des Metiers gelehrt, vor allem, wie man sich schmeichelhafte Kameraeinstellungen sicherte. Dieses Interview war leichter durchzustehen, wenn sie die Initiative ergriff.
„Noch einmal, willkommen“, begann Vicki. „Wir sprachen gerade über Ihre bevorstehende Eheschließung.“ An die Kamera gewandt, fügte sie hinzu: „Für alle, die es nicht wissen, Freddy Walen ist nicht nur ihr Verlobter, sondern auch ihr Agent.“
„Was soll ich sagen“, erwiderte Charlotte und machte eine kleine hilflose Handbewegung. „Er ist wunderbar. Unterstützend. Er ist immer für mich da.“ Sie blickte kurz in die Kulissen. Dort stand Freddy, breitbeinig, die Hände gefaltet. Der Kapitän des Schiffes in stürmischer See.
Er lächelte ihr zu. Freddy sah blendend aus in dem dunkelgrauen Dreiteiler, der gut zu seinem grau melierten Haar passte. Offenbar hatte er ihren Worten aufmerksam gelauscht, denn seine blauen Augen strahlten vor Zufriedenheit über ihre Antwort. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie ihm keine Liebeserklärung gemacht hatte.
„Walen hat Sie entdeckt, nicht wahr? Einige behaupten sogar, er hätte Ihre Karriere aufgebaut.“
Charlotte rückte sich in ihrem Sessel zurecht. „Er glaubte an mein Talent, und jeder gute Agent berät seinen Klienten. Das ist seine Aufgabe.“
Vicki lächelte. „In Ihrem Fall sagt man allerdings, Freddy Walen sei besessen von Ihrer Karriere – und von Ihnen.“
Charlotte besaß die Geistesgegenwart zu lachen. „Sagt man das?“
„Vermutlich ist es für einen Mann nur natürlich, von Ihnen besessen zu sein“, fügte Vicki großzügig hinzu. Zustimmendes Raunen und Kichern im Publikum. Charlotte zuckte humorvoll die Schultern.
„Sollte ich besser sagen, für ziemlich viele Männer?“ fügte Vicki mit boshaftem Aufblitzen der Augen hinzu. Der Kameramann blinzelte.
Charlotte wusste, aus welcher Ecke das kam, und konnte Vicki die Anspielung nicht verübeln. Freddy hatte ihr Image sorgfältig aufgebaut. Er gab ihre natürliche Schüchternheit als die Zurückgezogenheit des Stars aus, arrangierte zahllose Verabredungen mit ihren Co-Stars und ließ bei der Presse durchsickern, dass sie Affären habe. Das war nichts Neues, sondern ein uralter Publicity-Trick. Aber Presse und Publikum glaubten ihn immer wieder gern.
„Jetzt gibt es nur noch Freddy“, erwiderte sie freundlich, und das Publikum reagierte mit herzlichem Applaus. Sie stellte sich Freddy mit stolz geschwellter Brust in den Kulissen vor. Er liebte das Rampenlicht.
„Ihre Schönheit ist von der Art, die Legenden entstehen lässt. Aber für manche ist sie auch ein Fluch. Denken wir an Helena von Troja oder an Marilyn Monroe.“
Charlotte machte eine Pause. Wieder mal die Schönheit … Ist das alles, was sie an mir sehen? Erkennt niemand etwas anderes von Wert an mir?
„Ich glaube nicht, dass Marilyns Schönheit ein Fluch war“, erwiderte sie vorsichtig. „Der Fluch war, dass niemand etwas anderes sah als ihre Schönheit und man sie nicht ernst nahm.“
„Sie beziehen sich auf den alten Mythos: Sie ist schön, also muss sie dumm sein.“
„Eine Frau hat es schwer, wenn nur ihre Schönheit gesehen wird. Ich weiß das.“
„Könnte man dasselbe nicht von einer hässlichen Frau sagen?“
Das versetzte Charlotte einen Stich, und sie blickte auf ihre im Schoß gefalteten Hände. „Ich bin sicher“, begann sie zögernd, „dass jede hässliche Frau davon träumt, jemand möge ihre inneren Werte erkennen und einen Ausgleich durch Liebe schaffen. Ist das nicht der Kern aller Märchen?“
„Aber das Leben ist kein Märchen.“
„Leider“, bestätigte sie ohne Bitterkeit. „Die Realität lehrt uns, dass Männer als Beweis ihrer Macht und zur Hebung des Selbstwertgefühls schöne Frauen bevorzugen. Eine hässliche Frau kann kaum darauf hoffen, dass ihre Wünsche und Träume in Erfüllung gehen.“
„Aber vergeht mit der Zeit nicht auch die Schönheit? Was bleibt dann?“
Charlotte schluckte trocken. „Verzweiflung.“
„Also ist Schönheit doch ein Fluch?“
„Ich …“ Sie dachte wieder an Michael und seufzte resigniert. „Ja, vielleicht ist es das. Genau wie Hässlichkeit.“
„Ich weiß nicht, ob ich das glauben soll. Ich meine, sind Frauen nicht gerade dabei, sich zu verändern? Wir reden von den Stärken der Frauen, ihrer Intelligenz, ihrer Güte. Machen diese Attribute nicht die eigentliche Schönheit eines Menschen aus?“
Charlotte wollte zustimmen, von Herzen sogar. Sie dachte an die Zeit, als sie daran geglaubt und ihre ganze Hoffnung darauf gesetzt hatte. Doch Michael hatte diesen Glauben zerstört. Sie hatte erfahren, dass niemand sie wegen ihrer Intelligenz oder ihrer Güte lieben würde. Ohne ihre Schönheit war kein Mann bereit, diesen Qualitäten eine Chance zu geben.
„Plus ça change, plus c’est la même chose.“
„Stehen Sie hinter dieser Haltung?“ fragte Vicki Ray tadelnd. Trotz des scharfen Tons erkannte Charlotte in ihrem Blick die stumme Panik einer Frau, die nichts gegen den unvermeidlichen Verlust des guten Aussehens und des damit nahenden Endes ihrer Karriere als Talkshow-Moderatorin tun konnte. „Glauben Sie, dass Frauen von heute alles tun sollten, so attraktiv wie möglich zu sein?“
Charlottes Lider flatterten kaum merklich, als sie an ihre persönliche Geschichte dachte, ehe sie die Frage beantwortete. Alles tun für Schönheit? „Ja, das glaube ich“, sagte sie entschieden, und jede Silbe klang wie eine Totenglocke in ihren Ohren. „Ja, absolut.“
Sie hörte das missbilligende Raunen im Publikum. Etliche Frauen hoben jetzt wild gestikulierend die Hände. Vicki eilte erfreut hin und reichte ihnen das Mikrofon.
„Und was haben Sie getan, um so großartig auszusehen?“ wollte eine der Zuschauerinnen wissen.
Charlotte atmete langsam aus und lächelte. Sie wollte antworten, dass sie ihre Seele dem Teufel verkauft hatte, aber nein, das konnte sie nicht tun.
„Ich habe gar nichts gemacht“, log sie geheuchelt lässig. Mit einem zarten Hinweis auf die Wahrheit fügte sie jedoch hinzu: „Vergessen Sie nicht, dass eine Legion von Experten stundenlang daran arbeitet, mich so gut aussehen zu lassen.“ Die Frau lachte und schien Charlotte ihre Schönheit zu verzeihen.
„Waren Sie immer so schön?“ fragte Vicki und verengte leicht die Augen. Sie schwang das Mikro von rechts nach links wie eine Keule. „Zeit zu beichten!“
Charlotte hielt sich an den Armlehnen fest. „Nun ja …“
„Erwachen Sie nie mit Tränensäcken unter den Augen und einem Pickel auf der Nase?“ Das Publikum lachte.
Charlotte legte die Hände gegeneinander und blickte zur Decke. Sie war soeben einer Kugel ausgewichen. Sollte sie ihnen sagen, dass sie jeden Morgen mit entsetzlichen Schmerzen erwachte und mit dem Wissen, dass diese wunderbare Fassade unter der Oberfläche bröckelte?
„Ich unterscheide mich nicht von anderen Menschen“, antwortete sie und wünschte, es wäre so.
„Waren Sie ein hübsches kleines Mädchen?“
Die Frage schmerzte und brachte sie leicht aus dem Gleichgewicht. Ihr wurde schwindelig, als sie vor ihrem geistigen Auge das kleine Mädchen mit den traurigen Augen, der dürren, schlaksigen Gestalt und dem komischen Gesicht sah. Die Erinnerung an die Einsamkeit ihrer Kindheit drückte ihr wie ein bleiernes Gewicht aufs Herz. Sie dachte daran, wie sie durch die wohlhabenderen Viertel spaziert war und darauf gewartet hatte, dass ihre Mutter mit Putzen fertig wurde. Das Warten hatte ihr nichts ausgemacht. Diese Häuser lagen weit weg von ihrer lauten kleinen Wohnung, und sie sah gern durch die Fenster auf Menschen in schöner Umgebung. Sie mussten glücklich sein, in all dem Luxus leben zu dürfen.
„Miss Godfrey?“ drängte Vicki.
Charlotte schreckte auf. „Wie bitte? O ja, ich versuchte mich zu erinnern“, entschuldigte sie sich, um Konzentration bemüht. Herrgott, diese zusätzliche Tablette zeigte Wirkung. Ihr Hirn war wie benebelt. „Ich … ich erinnere mich nicht sehr gut an meine Kindheit. Zumindest weiß ich nicht mehr, wie ich aussah.“ Die Lügen ließen ihren Kopf noch heftiger schmerzen. Wie lange musste sie das noch durchhalten?
„An was erinnern Sie sich denn?“ bohrte Vicki weiter.
Charlotte seufzte tief. „An triviale Dinge.“ Sie rieb sich die Schläfen. „Ich war beispielsweise ein Bücherwurm. Besonders Charles Dickens habe ich verschlungen. Ich wünschte mir immer einen Garten, und natürlich erinnere ich mich an die Spiele.“ Sie schluckte wieder mit trockener Kehle und erinnerte sich, wie oft sie das Opfer grausamer Spiele geworden war.
„Mit den Gerüchten, die eine Berühmtheit umgeben, ist immer schwer zu leben“, fuhr Vicki fort und wechselte das Thema. „Aber um Sie scheinen sich besonders viele Gerüchte zu ranken. Sie waren auf den Titelseiten fast aller Magazine und scheinen ein Liebling der Klatschpresse zu sein.“
„Ich weiß nicht, warum. Ich führe ein ziemlich langweiliges Leben.“
„Vielleicht weil sich die Menschen gerade vom Unbekannten angezogen fühlen. Ihre Sucht nach Privatsphäre ist so legendär wie Ihre Schönheit.“
„Ist das so? Ich bin eben gern allein. Was hoffen die Leute zu entdecken? Wenn ich nicht arbeite, jäte ich im Garten Unkraut.“
Vicki lächelte flüchtig. „Nun, ist es nicht beispielsweise so, dass man Sie aus Ihrem letzten Film entließ? Am Set kursierten Gerüchte, Sie seien voll gepumpt mit Drogen gewesen, hätten sogar einen Zusammenbruch gehabt.“
Charlotte atmete tief durch. Ohne hinzuschauen wusste sie, dass Freddys Lächeln verflogen war und er vorgebeugt gespannt auf ihre Antwort wartete, bereit einzuschreiten. Sie entschied sich für die Wahrheit.
„Ich war krank“, gestand sie. Vickis Brauen gingen hoch in Erwartung der großen Beichte. „Ich hatte eine schreckliche Grippe verschleppt.“ Vickis Lächeln schwand, und Charlotte wusste, dass sie ihr das nicht abnahm. „Die Rolle bedeutete mir viel, und meine Mutter brachte mir bei, Krankheit sei eine Schwäche, die man durchstehen müsse. Leider entwickelte sich die Grippe zu einer Lungenentzündung.“ Sie zuckte leicht die Achseln. „Man sagte mir, es sei ernst. Und ich muss zugeben, ich hatte Angst.“
„Sie verschwanden.“ Vickis Blick wurde hart.
„Ja.“ Wieder tauchte eine flüchtige Erinnerung an Michael auf. Seine Berührungen, sein Blick, seine Liebe waren für sie gewesen, was Sonne, Erde und Luft für den Garten waren.
Sie hob eine zitternde Hand ans Gesicht, doch ein warnender Blick von Freddy mahnte sie, nichts zu verraten. Mit einer geschickten Drehung der Hand legte sie die schlanken Finger unter das Kinn.
Vicki wartete mit der Geduld des Profis.
„Ich bin nicht wirklich verschwunden“, erklärte Charlotte. „Das klingt so geheimnisvoll. Ich habe lediglich einige Zeit allein auf dem Land verbracht, um meine Gesundheit wieder herzustellen.“
„Wie Camille? Sie bekamen einen Oscar für diese Rolle.“
Charlotte lachte leicht, entschlossen, die Kontrolle über das Interview zurückzuerlangen. „Ja, vermutlich. Das Leben imitiert die Kunst … und umgekehrt.“ Sie lächelte überzeugend. „Ich habe aus Gesundheitsgründen darum gebeten, mich aus meinem letzten Film zu entlassen“, betonte sie. „Die Tabletten, die ich nahm, waren mir verschrieben worden. Es ist allgemein bekannt, dass ich mich sonst strikt auf Vitamine und Kräuter verlasse.“ Sie hob eine Hand. „Ich schwöre, ich kann keine Vitaminpille mehr schlucken, ohne als drogensüchtig zu gelten.“
Vicki lächelte verschlagen, und Charlotte wurde klar, dass ihre Gastgeberin die Samthandschuhe auszog. Sie fühlte sich betrogen, in die Falle gelockt. Zum pochenden Schmerz in den Schläfen kamen die ersten Schüttelfröste. Sie ballte die Hände auf dem Schoß, dass sich die Fingernägel halbmondförmig in die Handflächen bohrten. Wie sollte sie das durchstehen? Sie hatte Freddy gewarnt. Lieber Gott, flehte sie im Stillen, lass mich nicht vor laufender Kamera umkippen!
„Können Sie etwas zu den Gerüchten über einen Zusammenbruch sagen?“
Charlotte lächelte mit eiserner Disziplin. „Ich dachte, das hätte ich soeben getan.“
„Oh, natürlich können Sie so tun, als hätte Sie der Bruch mit Brad Sommers nicht mitgenommen.“
Diesmal war Charlottes Erheiterung echt. Freddys Pressearbeit tat ihre Wirkung. „Vicki, wirklich, machen Sie halblang. Brad und ich, wir sind Freunde“, log sie.
„Wenn nicht Brad, dann …“ Vicki überflog rasch ihre Notizen. „Was ist dann mit Michael Mondragon?“ Sie hob triumphierend den Blick. „Es gibt Gerüchte, dass Sie hinter Ihren efeubewachsenen Mauern tatsächlich eine heiße Liebesaffäre mit Ihrem Gärtner verbargen.“
Charlotte lehnte sich erschüttert zurück. Woher wusste Vicki von Michael? Wie konnte sie es wagen, ihn einen Gärtner zu nennen? Übelkeit zwang sie, trocken zu schlucken. Für die Kamera sah das aus, als habe die Frage sie überwältigt. Schuldig durch Schweigen.
Ihr flehender Blick glitt in die Kulissen zu Freddy. Bitte schreite ein, sagten ihre Augen. Du hast das hier eingefädelt. Oder willst du mich vorführen?
Ihr Freund, der Kameramann, gehorchte und schwenkte kurz auf Freddy, der die Arme jetzt vor der Brust verschränkt hatte. Sein Lächeln war hart, die Augen funkelten zornig. Freddy schwieg jedoch und machte eine abwinkende Geste zur Kamera. Vicki gab dem Kameramann ein Zeichen, und sofort war sie wieder im Bild.
„Michael wer?“ fragte Charlotte schließlich und richtete sich auf, zornig auf Vicki, weil sie in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt hatte, zornig auf Freddy, weil er die Information hatte durchsickern lassen, und zornig auf sich, weil sie nicht den Mut aufbrachte, von der Bühne zu gehen. „Ich und mein Gärtner? Also wirklich, das ist doch wohl die Höhe!“ Sie konnte nicht anders, sie bedeckte die Augen mit der Hand. Ihr Zittern wurde heftiger, sie fühlte sich schwach und schwindelig. Armer Michael. Falls er das gehört hatte, musste er tief verletzt sein.
„Eben wegen solcher Gerüchte halte ich mein Privatleben geheim.“ Sie hob den Blick. Zorn gab ihr Kraft. Sie merkte nicht, dass ihre Hände die Armlehnen umklammerten. „Nach der Hochzeit werden Freddy und ich eine lange Reise antreten, damit sich meine Gesundheit wieder stabilisiert. Wenn ich zurückkomme, werde ich so gut wie neu sein und bereit für neue Aufgaben.“
Vicki zog sich ins Publikum zurück. Eine Frau mit einem lieben Gesicht, offenbar ein Fan, hielt sie auf. „Gibt es einen neuen Film, auf den wir uns freuen dürfen?“
Charlotte dankte der älteren Dame insgeheim. „Aber natürlich“, erwiderte sie mit einem strahlenden Lächeln. „Ich freue mich sehr auf mein neues Projekt. Ich wollte schon immer die Hauptrolle in Tess of the D’Urbervilles spielen.“
„Wieder eine fordernde Rolle“, meinte Vicki. „Angeblich verwandeln Sie sich in den Charakter, den Sie gerade spielen. Aber Sie werden nicht sterben wie die arme Tess, hoffe ich.“
Während das Publikum kicherte, hielt Charlotte kurz den Atem an. Ahnte Vicki etwas? Hatte Dr. Harmon Recht und Freddy Unrecht? Wem sollte sie glauben? Ihr Zustand verschlechterte sich eindeutig. Sie überstand kaum noch einen Tag ohne Kollaps.
Trotz Schwindels und verschwommener Sicht konzentrierte sie sich mit ganzer Kraft auf die Antwort. „Liebe Güte, das will ich doch nicht hoffen!“ Sie lächelte unbefangen in die Kamera. „Ich hoffe, Sie gehen alle in die Kinos, um meinen neuen Film anzuschauen.“
Vicki schien zufrieden, und das Publikum zeigte seine Zustimmung durch Applaus. Freddy nickte aus den Kulissen mit väterlichem Wohlwollen. Alle lächelten. Charlotte lehnte sich zurück und sah auf ihre Uhr. Es war vorüber. Sie hatte das Interview überstanden, ohne sich zu verraten. Ein paar heikle Momente lang hatte sie befürchtet, Vicki sei auf Sensation aus und versuche ihr wie einem schuldigen Zeugen vor Gericht ein Geständnis zu entlocken. Was für ein tolles Fernsehereignis das gewesen wäre – und das Ende einer Karriere.
Egal, dachte sie und ignorierte ihren Magenkrampf. In wenigen Minuten konnte sie heimfahren, sich in ihrem großen Himmelbett unter der Daunendecke zusammenrollen, noch ein paar Kräuterpillen nehmen und beten, dass es ihr bald besser ging.
„Wir haben nur noch Zeit für eine Frage.“
Im Publikum erhob sich ein Mann. Es lag etwas Vertrautes in der großen breitschultrigen Gestalt und dem zurückgekämmten schwarzen Haar. Geblendet durch die Lichter versuchte Charlotte nervös, den Mann genauer zu erkennen. Er kam näher, die Treppe herunter bis zum Bühnenrand. Mit jedem seiner Schritte atmete sie heftiger und verzweifelter.
Vicki, die eine Sensation ahnte, sah den Mann sich kühn der Bühne nähern. Sie öffnete den Mund, etwas zu sagen, doch entweder Instinkt oder eine plötzliche Erinnerung ließen sie schweigen. Mit einer raschen Handbewegung gebot sie dem Sicherheitsdienst Einhalt und ließ zu, dass sich Spannung im Publikum ausbreitete. Während die Kamera schwenkte, sanken die erhobenen Hände ringsum, und alle Augen richteten sich auf den gut aussehenden Mann am Bühnenrand, der die versteinerte Schauspielerin durchdringend ansah. Stille im Saal.
„Charlotte Godfrey“, sagte er mit klarer, vorwurfsvoller Stimme. „Du bist eine Betrügerin.“
Ein Raunen ging durch die Menge, und von weit her hörte Charlotte Freddys Aufforderung, diesen Irren zu entfernen.
Sprachlos starrte Charlotte in die undurchdringlichen dunklen Augen. Sie fand keine Worte, sie hatte kein Skript. Sie blieb stumm aus Verwirrung, aber mehr noch, weil sie überwältigt wurde von dem Schmerz, den dieser Mann ihr zugefügt hatte. Denn sie liebte niemanden mehr als Michael Mondragon.
Vicki beendete mit wenigen Worten rasch die Show und versprach einem verblüfften Publikum, sie werde für einen zweiten Interview-Termin sorgen.
Freddy musste gewaltsam zurückgehalten werden, doch Charlotte hörte trotz des allgemeinen Tumults sein wüstes Schimpfen. Mit letzter Kraft erhob sie sich würdevoll, stützte sich kurz am Sessel ab, drehte sich um und ging aus dem Scheinwerferlicht, weg von Freddy und vor allem weg von Michael Mondragon. Er rief ihr etwas nach. Es klang wie ein Befehl. Sie ignorierte ihn und ging schneller, lief fast, zurück in die Einsamkeit des grünen Raumes.
„Lassen Sie niemand ein“, befahl sie dem Wachmann. Der nickte und straffte die Schultern, als sie an ihm vorbeiging und die Tür hinter sich schloss.
Was mache ich nur? fragte sie sich immer wieder und ging auf und ab, die Hände am fiebrigen Gesicht.
„Charlotte!“ rief Michael vor ihrer Tür. Er schlug dagegen, dass das Holz vibrierte. „Mach auf! Wir müssen miteinander reden. Ich lasse nicht zu, dass du dein Leben wegwirfst!“ Die Tür bebte. „Charlotte!“
Dann Freddys Stimme. Jetzt riefen beide Männer ihren Namen. Sie warf sich aufs Sofa und bedeckte die Ohren. Die zwei keiften sich an wie Hunde, die ihren Besitz verteidigen. O Gott, schlugen sie sich etwa? Sie hörte entsprechende Geräusche und entsetzte Ausrufe von Vicki.
„Haut ab!“ rief Charlotte ihnen zu. „Lasst mich einfach in Ruhe!“
Sie rollte sich auf dem Sofa zusammen und zog zitternd die Knie an. Jeder Knochen in ihrem Körper schmerzte, jeder Muskel zitterte. „Geht weg!“ jammerte sie immer wieder, von Fieber geschüttelt. Sie konnte und wollte so nicht weitermachen. Sie würde weder auf Michael noch auf Freddy hören.
Hier ging es um ihr Gesicht, um ihr Leben. Sie musste diese Entscheidung allein treffen. Sie musste nachdenken, sich erinnern, dahin zurückkehren, wo alles begonnen hatte. Sobald sie den Widerstand aufgab, schien eine schützende Dunkelheit sie zu umfangen, und im Geist sah sie das Kind, an das sie während des Interviews erinnert worden war. Und sie hörte die hohe Stimme eines kleinen Mädchens, das immer wieder sagte: „Ich mache nicht mehr mit, okay?“
September 1976
Charlotte saß am Rande des Spielplatzes. Ihr gelbes Kleid hing lose um die Knie, und ihre Füße baumelten von der Bank. Sie summte vor sich hin und sah den anderen Kindern zu, die sich lachend in die vielen albernen und aufregenden Spiele stürzten, die ihr so vertraut waren. Doch niemand forderte sie auf mitzumachen.
Plötzlich sausten zwei kleine Mädchen, die sie gut kannte, an ihr vorbei und versteckten sich hinter der Bank. Charlotte saß aufrecht vor Anspannung. Die Wangen der hübschen Mädchen waren vor Aufregung gerötet, ihre Stimmen klangen schrill in gespieltem Alarm.
„Komm hier herunter, Charlotte“, flüsterte eine. „Sie werden dich sehen und unser Versteck erraten. Beeil dich!“
Charlotte sprang freudig auf. „Ich? Ich soll mitspielen?“
„Beeil dich!“
Sie wollten tatsächlich mit ihr spielen. Rasch kletterte sie hinter die grüne Holzbank und kauerte sich zu den beiden, die Hände aufgeregt gegen die Brust gepresst. Sie stellte sich vor, ihre eigenen Wangen seien so hübsch und rosig wie ihre. Als die Jungen sie entdeckten, kamen sie auf sie zu. Die Mädchen sprangen auf und rannten quiekend davon.
Charlottes Herz schlug fröhlich, während ihre kleinen Füße über den harten Grasboden flitzten. Sie lief mit ihnen, und sie war schnell! Sie spürte den Wind im Gesicht, der ihr das Kleid gegen die Beine presste. Sie hörte Schritte hinter sich und blickte sich kess um. Sie war eine der Klügsten in der Vorschule und zweifellos eine der Schnellsten. Der Junge, der sie verfolgte, lief vor Wut rot an.
Charlotte lachte auf und sprintete noch schneller. Während sie müder wurde, spürte sie jedoch eine Veränderung im Verhalten der Jungen. Die drei rotteten sich, offenbar frustriert, gegen sie zusammen. Wo waren die Mädchen?
„He, du bist schnell“, rief einer voller Zorn.
„Wie ein Pferd“, rief ein anderer.
„Ja, sie sieht auch aus wie ein Pferd!“
„He, Charley, du Pferd!“
Die Jungen platzten schier vor Lachen, hielten sich die Seiten und stießen mit den Schultern aneinander, während sie langsamer wurden. Der spontane Spitzname wurde zum Schlachtruf. „Fangt Charley, das Pferd!“
Die kleine Charlotte Godowski lief schneller, um das Lästern nicht hören zu müssen. Es war gemein, furchtbar gemein.
Sie hieß nicht Charley, sondern Charlotte, und das war ein schöner Name. Sah sie wirklich aus wie ein Pferd? Sie konnte doch nichts für ihr Aussehen. Warum sagten die das? Der Spitzname war verletzend, und das wussten sie. Sie schleuderten ihn ihr nach wie Steine. Charlotte bekam Angst, doch sie mobilisierte letzte Kräfte und lief weiter. Als sie die Tribünenbänke sah, rannte sie darauf zu. Sie würde sich verstecken wie vorhin.
Das war dumm, wie sie sofort feststellte, denn sie war von hinten durch einen Maschendrahtzaun gefangen. Wie eine Hundemeute kamen die Jungen von drei Seiten auf sie zu.
Instinktiv entfernte sich Charlotte vom Zaun. Die Jungen rotteten sich keuchend zusammen, Bosheit im Blick.
Sie kamen näher. Sie roch Süßigkeiten in ihrem Atem. Billys Turnschuhe waren verschmiert. Er hatte in einen Hundehaufen getreten. Der Wind trieb ihr den Gestank entgegen. Zitternd rümpfte Charlotte die Nase und blickte durch die Schlitze in den Bankreihen, zu den anderen spielenden Kindern. Deren hohen Schreie stiegen wie Vogelgezwitscher in den Himmel. Doch sie waren sehr weit weg.
Plötzlich fühlte sie sich schrecklich allein gelassen. Sie wollte zu ihrer Mutter, zu ihren Lehrern. Wo waren die anderen Mädchen? Sie mochte dieses Spiel nicht mehr, und sie wollte nicht mehr mitmachen.
„Okay“, sagte sie und streckte die Hände aus. „Jungs, ihr habt gewonnen.“ Sie lachte, doch es klang seltsam hoch.
Die Jungen sahen sich an und verlagerten nervös das Gewicht von einem Bein auf das andere. Einer ergriff das Wort, Billy. „Wenn wir dich fangen, dürfen wir dir die Hose runterziehen.“
Charlotte erbleichte und schnappte nach Luft. Von dieser Regel hatte sie noch nie gehört. Sie hätte nicht mitgemacht, wenn sie das gewusst hätte.
„Nee, nee, du Hundehaufenfuß“, wehrte sie kopfschüttelnd ab und wich mit vorgestreckten Händen zurück. Ihn so zu necken, war ein großer Fehler, wie sie an Billys wütendem Blick erkannte. „Ich habe es nicht so gemeint, Billy. Tut mir Leid. Ich mache nicht mehr mit, okay? Bitte.“
Billy übernahm die Führung, entschlossen, Stärke zu zeigen.
„Gucken wir mal, ob sie da unten auch so hässlich ist.“
Ihr stockte der Atem. Sicher hatte sie nicht richtig gehört. Sie starrte Billy verständnislos an. Hässlich? Wie konnte das sein? Ihre Mama sagte immer, sie sei hübsch. Erst gestern Abend an ihrem Bett hatte Mama für ihre Schönheit gebetet. Niemand hatte sie je hässlich genannt. Nein! Die wollten nur gemein sein.
Und doch wusste sie tief im Innern, dass es stimmte. Mit fünf Jahren musste sie sich das erste Mal im Leben ihrer Hässlichkeit stellen. Sie ließ die Arme sinken und starrte die Jungen gekränkt an.
Sobald die ihre Schwäche spürten, stürzten sie sich auf sie und zerrten sie zu Boden. In Panik trat sie nach allen Seiten aus und hörte zufrieden einige Schmerzlaute. Doch die drei waren ihr überlegen. Mit ihren klebrigen Händen hielten sie sie nieder. Sie begann zu weinen und flehte: „Nein, bitte nein!“
Mit ihren kurzen Nägeln zerkratzten sie ihr die Hüften, als sie ihr die geblümte Baumwollhose über die Schenkel herabzogen. Dann starrten sie mit offenen Mündern, erschrocken, dass sie es tatsächlich getan hatten.
Die Schulglocke läutete, und alle drei sprangen auf. Charlotte schluchzte, das Gesicht im Schmutz, und schmeckte ihre salzigen Tränen. Sie verabscheute diese Jungen und schrie im heftigsten Tadel einer Fünfjähringen: „Ihr seid böse!“
Schuldbewusst stießen die Jungen in betretenem Schweigen die Schuhspitzen in den Boden. In Augenhöhe sah Charlotte noch den verschmierten Hundedreck an Billys Schuhen. Im Aufschauen fing sie kurz seinen Blick auf, ehe Billy sich abwandte und zu den anderen Kindern rannte, die ins Schulgebäude strömten. Er hatte entsetzt ausgesehen. Der Verstand einer Fünfjährigen interpretierte das nicht als Entsetzen über die eigene Freveltat, sondern als Entsetzen über ihre Hässlichkeit – sogar da unten.
Gekränkt weinte Charlotte hemmungslos, und die Tränen liefen über ihr fliehendes Kinn in den Schmutz. Sie hasste Jungen. Sie waren gemein. Man durfte ihnen nicht trauen. Und sie mochte auch die Mädchen nicht mehr. Warum hatten die ihr nicht geholfen? Sie hätte ihnen geholfen. Das mussten sie doch wissen.
Sie richtete sich auf und entdeckte ein Gänseblümchen, das von den Jungen zertreten worden war. Behutsam richtete sie es auf und stützte die geknickte Blüte mit einem kleinen Erdhaufen. „Armes Blümchen.“
Sie ging nicht ins Schulgebäude, bis die Lehrerin sie holte und mit ihr schimpfte, weil sie das Läuten der Glocke ignoriert hatte. Sie sagte der Lehrerin, sie sei krank und wolle heim. Die Lehrerin sah ihr tränenüberströmtes Gesicht und glaubte ihr. Es war eigentlich nicht gelogen, aber Charlotte entschuldigte sich trotzdem bei Gott.