23. KAPITEL
Der Sturm tobte peitschend durch die Berge und lud eine wahre Sintflut auf dem voll gesogenen Boden ab. Geschwindigkeit und Intensität des Sturmes waren Besorgnis erregend. Der Fluss stieg weiter, und der Wetterdienst gab bereits die ersten Evakuierungsempfehlungen. Das Lenkrad fest umklammernd, fuhr Michael wieder in die Berge hinauf. Er hoffte, dass seine Familie die Warnungen beherzigt hatte und weggefahren war. Doch er ahnte, dass sein Vater nicht gehen würde. Der Narr riskierte eher sein Leben, als sein Land zu verlassen.
Er musste sich aufs Fahren konzentrieren, durch Aquaplaning verloren die Räder immer wieder die Bodenhaftung. Er fragte sich, ob er es bis nach Hause schaffte. Laut Radio war weiter im Norden der Damm des Prajaro gebrochen, sodass eine zweieinhalb Meter hohe Schlammlawine zu Tal schoss.
Seine Abfahrt war mit einer gelben Barrikade versperrt. Polizisten erklärten den Menschen über Lautsprecher in Englisch und Spanisch, dass eine Weiterfahrt unmöglich sei. Sie sollten umkehren und höher gelegene Gebiete aufsuchen. Michael trat das Gaspedal durch und preschte an ihnen vorbei. Im Rückspiegel sah er die Polizisten nur abwinken, als hätte jeder Verrückte, der jetzt noch ins Tal fuhr, verdient, dort zu sterben.
Vernunft gebot ihm umzukehren. Jenseits des Highway sah er den angeschwollenen Fluss mit unglaublicher Strömung bereits über die Ufer treten. Aber diesmal nützte ihm seine Vernunft nichts. Er musste weiter.
Die klickenden Scheibenwischer kamen kaum gegen die Wassermassen an. Donner krachte über ihm wie eine Warnung, endlich stehen zu bleiben. Blinzelnd über das Lenkrad vorgebeugt, versuchte Michael genauer zu erkennen, wo er war. Eine lange Schlange von Fahrzeugen kroch auf der Gegenfahrbahn aus dem Tal heraus. Er musste zwei Hunden ausweichen, die neben einem Lieferwagen voller Menschen herliefen. Kinder winkten den Hunden aus dem Fenster zu und schrien ihre Namen. So weit sind wir also schon, dass wir uns zwischen Mensch und Tier entscheiden müssen, dachte er und brachte den Wagen wieder in die Spur.
Während er an der Autoschlange entlangfuhr, winkte man ihm zu, hupte und schrie: „Kehr um!“
Er ignorierte es und fuhr weiter. Diesmal analysierte oder plante er nicht. Seine Familie war in Gefahr, also folgte er seinen Instinkten, fest entschlossen sie zu retten.
Als er das Haus erreichte, waren die Fenster mit Holz und Plastikplanen verschlossen, und Manuels Lieferwagen parkte draußen. Michael schlug die Wagentür zu und rannte ins Haus. Obwohl ihm Wasser den Rücken hinunter und in die Augen rann, sah er Maria Elena und Cisco vor dem Fernseher den Wetterbericht verfolgen. Als er eintrat, sprangen sie auf und umarmten ihn stürmisch.
„Tío Miguel, sie sagen, wir sollen das Haus verlassen, sofort!“
„Ja, ich weiß. Das werden wir auch. Habt ihr gepackt?“
„Ja“, erwiderte Cisco und gab sich männlich, trotz der Angst in seinem Blick. „Mama hat unsere Sachen und etwas zu essen in den Lieferwagen geladen.“
„Gut, wo ist eure Mama?“
„In der Gärtnerei. Sie bringen die Pflanzen auf den Hügel.“
„Okay, hört zu. Ich brauche eure Hilfe. Maria Elena, du holst den Erste-Hilfe-Kasten, Taschenlampen, Batterien und ein tragbares Radio, wenn ihr eins habt. Hör dir die Verkehrsnachrichten an. Sie raten uns, höher gelegene Straßen zu benutzen. Cisco, du gehst nach unten, schaltest die Elektrik aus und drehst alle Gas- und Wasserleitungen ab. Du weißt, wie man das macht?“
Er hob stolz den Kopf. „Natürlich weiß ich das.“
„Gut, dann mach es. Und sieh nach, ob Mama für den Notfall Trinkwasser im Keller hat. Falls er überflutet ist, bleib draußen, hörst du? Okay dann, ich bin gleich zurück.“
Cisco nickte, erleichtert, etwas tun zu können. Michael holte sich eine dicke Regenjacke und Gummistiefel und machte sich auf die Suche nach seinem Vater.
Der trotzte auf der Ladefläche eines Gärtnerei-Lieferwagens dem Regen und gab Rosa und Manuel wild gestikulierend Anweisungen, die Sommerblumen zu verladen.
„Was zum Henker machst du da?“ schrie Michael ihn an und sprang auf die Ladefläche. Er musste brüllen, um den Sturm zu übertönen. „Es wird gefährlich. Wir müssen verschwinden!“
„Es ist nicht gefährlich!“ brüllte Luis zurück. „Wie sollte mir ein bisschen Wasser gefährlich werden?“
„Du törichter Alter. Nicht um dich mache ich mir Sorgen, sondern um die Kinder!“
Luis wischte sich das Wasser vom Gesicht.
„Sie haben uns zur sofortigen Evakuierung aufgefordert!“ rief Michael Rosa und Manuel zu, die die Arme voller Begonien hatten. Für Geplänkel blieb jetzt keine Zeit. Sie mussten mitkommen, wenn sie überleben wollten. „Der Fluss steigt. Wenn er über die Ufer tritt, kommen wir hier nicht mehr raus. Dann stehen wir bis zum Hals im Wasser!“
„Ich gehe nicht weg!“ schrie Luis zornig zurück. Der Blitz erhellte seine grimmig entschlossene Miene. In seinen Augen blitzte Wahnsinn auf.
„Dann bleib!“ schrie Michael. „Aber ihr …“ Er deutete auf Rosa und Manuel. „Ihr müsst euch um die Kinder kümmern. Fahrt los und nehmt die empfohlene Route. Macht schon!“
„Ich lasse Papa nicht allein!“ schrie Rosa und übertönte den Sturm. Sie stellte die Pflanzen in den Lieferwagen, und der Schlamm hinterließ dunkle Streifen auf ihrem gelben Regenmantel. Sie machte dasselbe entschlossene, trotzige Gesicht wie Luis. „Ich habe unser Land nie verlassen. Fahr du. Du hast Übung im Abhauen!“ Ihre Augen sprühten Funken. Sie bebte schier vor Abneigung gegen ihren Bruder, die sich in diesem Moment der Verzweiflung Bahn brach. Ihr Zorn war beängstigend.
„Siehst du, Papa“, schrie sie, „ich bin es, deine Tochter, die dir beisteht, die tut, was du verlangst. Nicht deine Söhne. Sieh mich an, Papa!“ Sie schlug sich gegen die Brust, und der Regen spülte ihre Tränen ab. „Ich! Nicht deine Söhne!“
Luis kletterte von der Ladefläche und breitete die Arme aus. Rosa warf sich hinein.
Michael sprang ebenfalls hinunter und ging an den beiden vorbei auf Manuel zu. Der sah ihm voller Misstrauen entgegen.
„Manuel“, begann Michael leise und eindringlich, „jetzt ist nicht der Moment, den Schwiegersohn herauszukehren, sondern den Vater. Führ dich nicht auf wie er.“ Er deutete auf Luis. „Rosa wird nicht gehen, das weißt du. Lass deine Kinder nicht im Stich. Du musst Cisco und Maria Elena in Sicherheit bringen. Es ist noch nicht zu spät. Rette deine Kinder, Manuel!“
„Ich brauche ihn hier!“ schrie Luis zornig.
„Geh!“ drängte Michael. „Ich übernehme hier deinen Platz.
Manuel presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und gab Michael die Hand. Nach einem kräftigen Händedruck lief er zum Haus.
Luis reckte das Gesicht zum Himmel und lachte dem Donner entgegen. „Diese Frau, sie ist der Mann in der Familie. Sie ist macho, no?“
„Macho“, entgegnete Michael angewidert und erkannte die dunkle, gefährliche Seite des Machismo. „Was ist ein echter Mann? Lässt ein echter Mann seinen Sohn im Stich? Setzt ein echter Mann seine Kinder Gefahren aus? Wenn du deine Kinder nicht beschützt, was für ein Mann bist du dann?“
„Ich bin ein Mann, der für das kämpft, was ihm gehört!“ blaffte Luis. „Dieses Land bedeutet mir alles. Verstehst du mich? Alles! Ich werde es nicht verlassen.“ In wilder Wut stapelte er weiter Container auf die Ladefläche, und der Regen klatschte ihm ins Gesicht.
„Ich auch nicht.“ Rosa verschwand in der Gärtnerei, um mehr Pflanzen zu holen.
Michael fluchte leise. Wenigstens brachte Manuel die Kinder in Sicherheit.
„Vater, wir sollten fahren!“
„Fahr du! Du bist ein Nichts. Du hast keine Kultur, keine Sprache, keine Familie. Fahr du!“
Zähneknirschend dachte er an das Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte. „Ich helfe dir bei dem Nötigsten, dann fahren wir alle.“
Luis sah ihn wortlos, aber triumphierend an.
Gegen vier ließen sie die restlichen Pflanzen der Gärtnerei zurück. Sie hatten das meiste auf höher gelegenes Land gebracht. Draußen auf dem Feld verwüstete der Sturm den Obstgarten. Die Flut löste die Wurzeln und zerrte die Pflanzen aus dem Boden. In der Dämmerung schwammen die Container im Wasser, eine bunte Flotille aus Sommerblumen, Büschen und Bodendeckern.
Michael, Luis und Rosa stapften durch das kniehohe Wasser, dann den Hügel hinauf durch Erde, so weich wie Schokoladenpudding, zum Haus, das auf einer kleinen Anhöhe lag. Auf der Veranda schüttelten sie die Stiefel ab und drängten sich, während draußen der Sturm raste, keuchend vor Erschöpfung in das dunkle stille Haus.
„Wir haben keinen Strom“, sagte Rosa und betätigte den Schalter.
„Ich habe Cisco gesagt, ihn abzuschalten.“
„Nun, dann schalten wir ihn wieder ein. Es ist eiskalt hier drin. Wir sterben an Unterkühlung.“
„Wasser leitet Strom. Wenn wir einen Kurzschluss verursachen und in Wasser treten, werden wir gebraten. Sicher sind wir nur, wenn wir den Strom ausgeschaltet lassen.“
„Ich trage Gummistiefel.“
„Das reicht nicht.“
„Miguel hat Recht“, grollte Luis leise. „Lass den Strom aus. Wo ist eine gottverdammte Taschenlampe?“
Michael tastete sich zum Esszimmertisch vor und fand etwas, das sich nach Taschenlampe anfühlte. Seine Finger waren steif vor Kälte und Nässe, doch er betätigte den Knopf, und Licht durchdrang die Dunkelheit. Dank Maria Elena und Cisco standen Trinkwasser, Konserven, ein Erste-Hilfe-Kasten, Notlaternen, Kerzen und Streichhölzer auf dem Tisch.
„Ein Radio!“ rief Rosa aus, als sie es auf dem Tisch entdeckte. „Dem Himmel sei Dank. Ich mache den Wetterbericht an.“
Zitternd versammelten sich die drei um den Apparat und lauschten. Der Tag hatte Rekordniederschläge gebracht, doppelt so hoch wie das bisherige Maximum. Der Damm war gebrochen und schickte meterhohe Schlamm- und Wassermassen über die Straßen Richtung Stadt. Alle Bewohner waren evakuiert worden. Wer sich noch in der Region befand, wurde aufgefordert, den höchsten Punkt aufzusuchen und sich auf das Schlimmste einzustellen. Einige Sekunden sprach keiner ein Wort.
„Wir sollten besser machen, dass wir hier wegkommen!“ drängte Rosa mit schriller, ängstlicher Stimme.
„Geht nicht.“ Michael hielt sie zurück, als sie zur Tür gehen wollte. „Die Straßen sind reißende Ströme. Da draußen ist die Hölle los. Die Hauptverkehrsadern sind unterbrochen. Wir sitzen hier in der Falle. Irgendwie müssen wir versuchen, das zu überstehen.“
„Das geht nicht? Es gab bereits Tote! Dieses Unwetter ist schlimmer als die früheren. Diesmal erreicht das Wasser garantiert das Haus. Ich werde hier nicht herumsitzen und auf den Tod warten! Ich rufe Hilfe.“ Rosa lief zum Telefon, nahm den Hörer ab und lauschte. Ihr Gesicht wurde aschfahl. „Die Leitung ist tot.“
Michael sah, dass sie in Panik geriet, und nahm sie in die Arme. „Wir überstehen das, Rosa. Wir haben genügend Vorräte, und wir liegen erhöht. Vielleicht werden wir nass, aber wir überleben das.“ Er sprach betont ruhig, glaubte seinem leeren Trost jedoch selbst nicht. Er wusste, dass sie in großen Schwierigkeiten steckten. Als er merkte, dass sie ruhiger wurde, ließ er sie los und lächelte ihr aufmunternd zu. Zu seiner Freude erwiderte sie sein Lächeln. „Versuchen wir uns wenigstens abzutrocknen. Uns steht eine lange Nacht bevor.“
Rosa nickte steif. „Ich hole ein paar von Papas Sachen. In Mamas oder Bobbys passen wir wohl beide nicht.“ Sie lachte erstickt und ging mit gesenktem Kopf zum Schlafzimmer.
„Zur Hölle mit diesem verrückten kalifornischen Wetter!“ fluchte Luis und zog seinen Regenmantel aus. Darunter war er nass bis auf die Haut. „In einem Jahr wir verdorren, im anderen wir schwimmen weg. Und dazwischen gibt es Erdbeben und Feuersbrünste. Gottverdammtes kalifornisches Scheißwetter!“
Michael ging zur Tür, öffnete sie und leuchtete in den Regen hinaus. Was er sah, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Das Wasser kam bereits ihre Auffahrt hinauf, und zwar schnell.
„Papa, das Wasser erreicht gleich das Haus. Komm!“ Er schloss die Tür und eilte zu den Vorräten. „Schnapp dir das Zeug und bring es nach oben.“
„Du glaubst doch nicht, dass das Wasser so hoch steigt.“ Rosa kam zurück, den Arm voller Jeans und Flanellhemden.
„Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wir bringen das Zeug besser nach oben.“
Sie nickte mit ängstlichem Blick.
Diesmal tat Rosa, was man ihr sagte, und verschwand mit dem Licht die Treppe hinauf. Michael fiel auf, dass sie zum ersten Mal seit drei Jahren als Team arbeiteten. Es brauchte eine Naturkatastrophe, um das zu erreichen. Aber darüber wollte er jetzt nicht grübeln.
Luis warf in seinem Büro Papiere und Fotos in eine Einkaufstasche. Michael rannte in die Küche und stopfte Vorräte in eine Plastiktüte. Das Wasser strömte jetzt unter den Türen durch ins Haus und stand bereits zwei Inches hoch im Flur.
„Papa, besitzt du ein Gummiboot?“
Rosa blieb auf der Treppe stehen und blickte entsetzt auf die hereinströmende Flut. „O mein Gott …“
„Ich habe ein aufblasbares in Garage“, erwiderte Luis und watete, Einkaufstasche über der Schulter, in den Wohnraum.
„Wir können es jetzt nicht mehr holen, vergiss es. Geh nach oben, Papa.“
„Ich glaube, Cisco hat eines von diesen Boogie Boards in seinem Zimmer“, rief Rosa.
„Hole es und bleib oben. Beeil dich! Papa, komm schon!“
„Wer gibt hier Anweisungen?“ empörte sich Luis und entriss Michael seinen Arm. „Ich habe Boot, und ich werde es holen.“
Ehe Michael ihn aufhalten konnte, watete Luis zur Tür und riss sie auf. Eine meterhohe Flutwelle kam ihm entgegen.
„Papa!“ schrie Rosa auf, als das Wasser hereinspülte, Luis von den Beinen riss und ihn wild durch den Raum wirbelte. Michael kraulte auf ihn zu, doch das wütende Wasser warf sie beide gegen die Wand. Während er sich durch die brusthohen dunklen Fluten arbeitete, stieß ihm etwas Hartes gegen Schulter und Rippen. Ein Ast, ein Möbelstück, ein Tier? Er wusste es nicht. Er schwamm auf die Stimme seines Vaters zu und packte Luis bei der Hand.
Oben von der Treppe rief Rosa: „Wo seid ihr? Ich kann euch nicht sehen.“
„Schnapp dir seine Hand!“ schrie Michael und schob Luis auf den schmalen Lichtstrahl zu. „Zieh ihn hoch!“
Zum ersten Mal im Leben war Rosa dankbar für ihre Größe und Kraft. Sie beugte sich weit hinunter, nahm die Hand ihres Vaters und zog ihn aus dem Wasser hinauf in die erste Etage. Michael kletterte ihm nach.
Erschöpft und betäubt von Kälte und Müdigkeit ließ sich Michael zitternd und keuchend zwischen Schwester und Vater auf den Boden sinken und legte den Kopf gegen die Flurwand.
„Tut mir Leid“, japste Luis. „Lo siento.“
Michael legte die Arme um Rosa und Luis. So kauerten sie lange Zeit beisammen und zogen Trost aus der gegenseitigen Nähe. Draußen tobte der Sturm und rüttelte am Dach. Unten wirbelte das dunkle Wasser durch ihr Haus. Michael roch den säuerlichen Gestank von Abwasser. Schulter und Wange schmerzten ihn, wo er gegen etwas Hartes geprallt war.
„Wir sehen besser mal nach, was los ist“, sagte er nach einer Weile, sobald er sich ein wenig erholt hatte. Er schaltete die Lampe ein und leuchtete die Treppe hinunter. Das Wasser stieg Stufe für Stufe. Rosa umklammerte ängstlich seinen Arm. Luis fluchte auf Spanisch. Michael schaltete das Licht wieder aus, legte den Kopf gegen die Wand und kniff die Augen zusammen.
„Werden wir sterben?“ fragte Rosa schrill.
„Nicht wenn ich es verhindern kann. Ich habe diesem Land meine Zeit geopfert, mein Leben bekommt es nicht.“ Er wischte sich mit einer Hand übers Gesicht und strich sich die feuchten Haare zurück. „Wenigstens sind die Kinder in Sicherheit. Gottlob hatte Manuel diesmal so viel Verstand, sich dir zu widersetzen und die Kinder zu schützen.“ Er sah seine Schwester an. „Hättest du sie vor diesen Fluten vielleicht bewahren können?“
Die Vorstellung, ihre Kinder gefährdet zu haben, entsetzte sie, doch sofort begann sie sich zu rechtfertigen. „Was geht dich das an? Steck deine Nase nicht in Dinge, von denen du nichts verstehst!“
„Ich verstehe sehr wohl!“ gab er wütend zurück. „Seit ich hier bin, machst du mir Vorhaltungen. Du hast einen Minderwertigkeitskomplex von gigantischen Ausmaßen. Ich kann einstecken, was du austeilst, aber ich sehe nicht tatenlos zu, wie du deine Wut an deinen Kindern auslässt! Ich weiß, wie du mit Cisco umgehst. Ich hätte längst etwas unternehmen müssen. Denk an deine Kinder, Rosa. Die Sucht nach Papas Anerkennung ist dir wichtiger als sie. Wenn du ein Problem mit mir hast, trag es gefälligst mit mir aus!“
„Ich habe allerdings ein Problem mit dir. Du kommst heim, und plötzlich bist du El Patron. Der große Mann, der das Sagen hat. Nur weil du ein Mann bist, ein Sohn, bekommst du alles.“
Er schob leicht trotzig das Kinn vor und ähnelte in dieser Geste seinem Neffen. „Ich tue nur meinen Job.“
„Halt den Mund, Rosa!“ donnerte Luis. „Das ist jetzt nicht Zeitpunkt dafür.“
„Wieder sagst du mir, was ich tun soll. Es ist genau der richtige Zeitpunkt. Wir sind hier notgedrungen zusammen. Vielleicht sterben wir. Ich will, dass ihr mir einmal zuhört.“
„Selbst jetzt redest du mit deinem Vater wie …“
Michael schnitt ihm das Wort ab. „Lass sie ausreden, Papa.“
Sie stutzte, verblüfft über seine Unterstützung. „Miguel hat Recht“, sagte sie ruhiger. „Ich bin wütend auf ihn, aber eigentlich geht es um das Verhältnis zwischen uns, Papa. Ich war dir nie gut genug. Immer ging es nur um Miguel und Roberto, die guten Söhne. Bei mir hieß es nur: ‚Rosa schrei nicht, kämpfe nicht, sei nicht wie ein Mann. Hör auf deine Mutter.‘ Heute sagtest du, ich sei macho, als sei das das größte Kompliment!“ Sie wischte sich zornig die Augen. „Sogar mein Körper passte dir nicht, zu groß und zu kräftig. So hätte Roberto aussehen sollen. Ein Leben lang hatte ich das Gefühl, nicht viel wert zu sein. Dass Frauen überhaupt nicht viel wert sind.“
„Ich habe dir immer gesagt, eine Frau ist ihr Gewicht in Gold wert, aber du benimmst dich nicht wie eine Frau!“ beschwerte sich Luis.
„Aber das tue ich doch! Nur sind deine Vorstellungen von Frauen- und Männerrollen total verschroben und von gestern. Ich wäre furchtbar gern aufs College gegangen wie meine Brüder. Aber du sagtest Nein, was braucht eine Frau schon zu lernen, außer eine Familie zu versorgen?“ Sie rang trocken schluckend um Fassung. „Ich habe getan, was du wolltest, Papa. Ich habe geheiratet und dir Enkel geschenkt. Ich habe für dich im Geschäft gearbeitet, als deine Söhne dich verließen. Trotzdem genügte das nicht. Als sie heimkehrten, nahmst du mir wieder alles weg.“
Den Kopf gesenkt, schlug sie mit der Faust auf den Boden. „Weißt du, wie ich mich dabei fühle? Der Zorn frisst sich in meine Seele. Er macht mich blind. Ich versuche ihn zu beherrschen, aber manchmal verliere ich die Kontrolle und explodiere.“
„Und Cisco bekommt es zu spüren“, warf Michael leise ein.
Ertappt wandte Rosa den Kopf ab und zuckte die Achseln. „Nur ein paar Klapse. Nichts, was du und ich nicht auch von Papa bekommen hätten.“
„Möchtest du, dass Cisco als Mann auch seine Kinder schlägt?“
Luis brummte: „Also ist mal wieder alles meine Schuld. Immer bin ich an allem schuld.“
„Nein“, widersprach sie mit erstickter Stimme. „Nein, diesmal ist es meine Schuld. Wenn ich daran denke, wie ich meine Kinder in Gefahr gebracht habe …“ Die hünenhafte Rosa sackte weinend zusammen.
„Cisco ist dir sehr ähnlich“, tröstete Michael leise. „Du solltest stolz auf ihn sein.“
Sie vergrub ihr Gesicht in der Armbeuge. „Ich liebe ihn.“
„Rosa, deine Wunden sind offenbar tief. Deine Wut auf Papa und mich frisst dich auf. Du brauchst professionelle Hilfe.“
Rosa tastete im Dunkeln nach Michaels Hand. Sie drückte ihm die Hand, und die Geste sprach von Einsicht, Zustimmung, Scham und Reue. Michael erwiderte den Druck und sandte ihr eine stumme Botschaft von Zuneigung und Unterstützung.
Allmählich ließ das Heulen des Windes und das Prasseln des Regens nach. Ein Blick aus dem Flurfenster zeigte Michael, dass der Regen aufgehört hatte und die schwarzen Wolken weiterzogen. Der Himmel war noch dunkel, aber das Schlimmste war offenbar vorüber. Bald würde man nach ihnen suchen.
„Wir haben es geschafft“, sagte er mit vor Müdigkeit rauer Stimme. „Und wir leben noch.“
„Die Mondragons haben es gemeinsam überstanden“, bekräftigte Rosa triumphierend.
Luis hob den Kopf und sah Michael im schwachen Licht an. „Nein, wir sind nicht alle zusammen. Mi hijo, mein Roberto ist nicht hier und meine Frau auch nicht.“ Luis wirkte niedergeschlagen und reuig. „Du hattest Recht, Manuel und Rosa zu sagen, sie sollten Kinder schützen“, fuhr er mit leiser, brüchiger Stimme fort. „Ich habe dich und Rosa durch Starrsinn in Gefahr gebracht.“ Die Stimme versagte ihm, und er schüttelte den Kopf. „Was für ein Vater bringt Familie in Gefahr, lässt seine Kinder im Stich. Bricht seiner Tochter das Herz? Was für ein Mann tut das?“
Eine Woche später war das Wasser gesunken, die Polizeibarrikaden wurden weggeräumt, und die Familien durften auf ihr Land zurück. Michael, Luis und Marta fuhren in einem Wagen, Manuel und Rosa in einem anderen. Sie kamen nur langsam auf den schlammbedeckten Straßen voran, eine traurige Karawane im Sonnenschein, der die verwüstete Erde zu verspotten schien.
Die nächste Stadt und viele Schulen waren zerstört. Es würde Monate dauern, den Schlamm aus der Kirche zu entfernen. Die Pumpstation war zusammengebrochen, und ungereinigtes Abwasser hatte jeden Fluss im Bezirk verseucht. Die Behörden rieten zur Desinfektion des gesamten Hausrates, zum Waschen der Teppiche und Kleidung. Alles Wasser, das mit Augen und Mund in Berührung kam, sollte abgekocht werden.
In die Gärtnerei zurückzukehren war schwer. Die Arbeit eines Lebens war in einer Nacht zerstört worden. Wortlos gingen sie durch Haus und Felder und versuchten zu entscheiden, was noch zu retten war. Alles war von einer dicken grauen Schlammschicht bedeckt, die zum Himmel stank.
Marta stand mit tränenfeuchtem Gesicht in der Haustür. Alles, woran ihr Herz hing, die alte Uhr ihrer Mutter, Fotos und Möbel, war ruiniert. Das Sofa stand als schlammiger Haufen auf dem vorderen Rasen.
Luis stieg auf eine Anhöhe und blickte über seinen geliebten Besitz. Die Hände hinter dem Rücken gefaltet, ließ er die Schultern hängen. Rosa und Manuel stellten sich neben ihn. Michael sah zu ihnen hinauf. Sie boten mit ihren hängenden Schultern und gesenkten Köpfen ein Bild der Verzweiflung. Auf dem schlüpfrigen Untergrund vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, folgte er ihnen auf die Anhöhe und sah nichts als ertrunkene, schlammverkrustete Pflanzen, Büsche und Bäume. Die Gärtnerei, der er vier Jahre seines Lebens geopfert hatte, war ruiniert.
Die Natur hatte ihn um die Früchte seiner vierjährigen Arbeit gebracht. Fast so, als verspotte sie ihn und seine wohl überlegten Pläne. Das Bibelzitat: Hochmut kommt vor dem Fall, schoss ihm durch den Kopf.
Luis war deprimiert und sah um zehn Jahre gealtert aus. „Missernten habe ich schon oft erlebt“, sagte er mit leiser tiefer Stimme. „Aber immer habe ich noch etwas Brauchbares gefunden. Doch diesmal …“ Er streckte seine schwieligen faltigen Hände aus und ballte sie zu Fäusten. „Warum?“ schrie er herzzerreißend zum Himmel. „Warum musstest du uns alles nehmen?“
„Wir sind bankrott“, jammerte Rosa. „Wir haben keine Pflanzen mehr. Bäume, Büsche, Blumen, alles dahin.“
„Alles dahin“, bestätigte Manuel und legte tröstend einen Arm um sie. Rosa war größer als ihr Mann, aber sie legte den Kopf an seine Schulter.
Michael war weder verzweifelt noch wütend, sondern nahm das Ganze philosophisch hin, was ihn selbst am meisten wunderte. Die Natur war eben launisch. Sie konnten die Fäuste zum Himmel schwingen und heulen, oder sie gingen achselzuckend zum Wiederaufbau über. Jammern hatte noch niemandem geholfen, also würde er anpacken.
„Das schöne Land“, klagte Luis. „Es ist ruiniert und stinkt.“
Michael ging in die Hocke und nahm eine Hand voll Erde. Er schnupperte daran und lächelte. „Schau Papa, die Erde ist fruchtbar. Riech daran. Schließ die Augen und stell dir Reihen neuer, gesunder Pflanzen vor. Stell dir den blühenden Obstgarten im Frühling vor, das Summen der Bienen, das Lachen deiner Enkel. Deine Familie zusammen: du, Mama, Rosa, Manuel, Roberto und ich.“
Sein Vater sah ihn hoffnungsvoll an, schloss die Augen und roch an der Erde in Michaels Hand. „Gar nicht übel. Vielleicht hast du Recht.“
„Es ist immer noch unser Land, und es ist gutes Land“, betonte Michael. „Wir werden die Gärtnerei wieder aufbauen und neu anfangen.“
Als er das sagte, merkte er, dass er mit dem Neuanfang nicht nur den Familienbetrieb meinte. Er dachte vielmehr an die Beziehung zu einer Frau, der von der Natur ebenfalls übel mitgespielt worden war.
Während er mit der Familie daranging, Haus und Land vom Schlamm zu befreien, fühlte er sich so leicht wie schon lange nicht mehr. Die Naturkatastrophe hatte seinen Blick für das Wesentliche geschärft. Sein Herz schien wie von einer dicken Schicht aus Zorn und Frustration befreit, unter der er eine schlichte Wahrheit entdeckte: Er liebte Charlotte. Die Erkenntnis allein genügte jedoch nicht, er musste danach handeln. Er glaubte, dass auch sie ihn noch liebte. Und wenn die Frühlingssonne dieses verwüstete Land zu neuem Leben erwachen ließ, tat sie dasselbe vielleicht für ihre Beziehung.