4. KAPITEL
Michael Mondragon lenkte sein gemietetes Mustang Kabrio am Weihnachtsabend auf die Interstate 5, legte den Arm über die Lehne des Beifahrersitzes und pfiff die Weihnachtslieder aus dem Radio mit. Er musste zugeben, dass das Fest am schönsten bei der Familie war. Er würde rechtzeitig zu Mamas Weihnachtsessen zu Hause sein.
Als er vorbei an den grauen Tentakeln von Los Angeles in die grünen Hügel hinauffuhr, spürte er die Anspannung der langen Reise von sich abfallen. Chicago schien endlos weit entfernt zu sein. Nach einer Stunde bog er von der Haupt- in eine kleine Seitenstraße ab. Leute mit Geld und Verstand hielten sich an die Hauptstraßen, die zu schicken Erholungsgebieten und tollen Campingplätzen führten. Nur die Abenteuerlustigen wanden sich über schmale Nebenstrecken, durch kleine Ortschaften, vorbei an Farmen und durch Wälder mit Föhren, Zedern und Pinien. Er kannte die Namen aller Bäume und Büsche, das war schließlich Familientradition.
In Serpentinen führte die Straße hinab in das üppige Grün des vertrauten Tales, das er sein Zuhause nannte. Es hatte kürzlich geregnet. Die Straße war glatt, und dunkles Geröll verlieh einem ganzen Berghang einen bläulichen Schimmer. Der Wind, der sein Gesicht peitschte, roch nach Regen und feuchter Erde. Auf derselben Straße war er vor Jahren mit dem Lieferwagen der Mondragon-Baumschule zu den Gärten in den Vororten der Städte gefahren.
Erinnerungen kamen ihm auf den vertrauten Wegen seiner Jugend. An einem bevorzugten Aussichtspunkt hielt er an und schaltete den Motor aus. Die Abenddämmerung kam, Vogelrufe erschollen, und das fruchtbare Tal vor ihm verströmte seinen süßlichen Duft.
Die Vegetation reckte sich dem Himmel entgegen, als wolle sie die Abendwolken streicheln. „Engelsflügel“ hatte er die Wolken als Kind genannt und immer das Gefühl gehabt, zu dieser besonderen Stunde an diesem besonderen Platz dem Himmel sehr nahe zu sein.
Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch das dichte Haar. Neue Erinnerungen tauchten auf. Hier hatte er in einem Mondragon-Lieferwagen seine ersten Liebeserfahrungen gemacht. Hier hatte er die Entscheidung getroffen, sich der Familie zu widersetzen und das Harvard-Stipendium anzunehmen. Hier hatte er geschworen, dass er eines Tages die Gegend verlassen und nie mehr zurückkehren würde.
Dann war er gegangen. Sein Leben in Chicago war mehr als ein paar tausend Meilen von seiner amerikanisch-mexikanischen Familie entfernt, es war Welten entfernt. Und da lag die Ironie. Wie kam es, dass er ungeachtet seines fernen und andersartigen Lebens sofort in alte Verhaltensmuster zurückfiel, sobald er keimkehrte? Es war, als folge er dem schlechten Drehbuch eines miesen Stückes. Sobald er die Pforten des Mondragon-Anwesens passierte, war er nicht mehr Mr. Michael Mondragon, der sein Harvard-Studium magna cum laude abgeschlossen und sich einen hart umkämpften Posten in einer der besten Architekturbüros von Chicago erobert hatte, der mehr in einem Jahr verdiente als sein Vater in zehn. Nein, in wenigen Minuten war er wieder der arme kleine Miguel, der grübelnde Außenseiter, der es gewagt hatte, den Schoß der Familie zu verlassen.
Entschlossen legte er die große manikürte Hand auf den Ganghebel. Er hatte zu hart gearbeitet und zu viel erreicht, um noch irgendwelche Rollen zu spielen. Er würde Vater, Mutter, Schwester und Bruder zeigen, wer er war. Beim letzten Blick auf die untergehende Sonne verzog er das Gesicht zu einem bittersüßen Lächeln.
Genauso gut konnte er versuchen, die Engelsflügel zu fangen.
Auf dem Familienbesitz waren die Hinweise auf den Verfall des Geschäftes unübersehbar. Die Außengebäude waren in schlechtem Zustand, der Pflanzenvorrat war mager, und den Restbeständen fehlte die Kraft und Üppigkeit, die Mondragon-Pflanzen berühmt gemacht hatten. Stirnrunzelnd fuhr er an den Hängen mit Viburnum, Euonymus und Immergrünen vorbei auf das kleine Stuckhaus mit dem roten Dach und dem großen Vorhof zu. Der 89er Chevy Pick-up seines Vaters parkte neben einigen neueren amerikanischen Wagen.
Das Haus sah noch so aus wie früher. Mamas hellgelbe Tür war mit Pinien und Efeuranken geschmückt. Hinter Mamas Spitzengardinen strahlten die Lichter, und Papa spielte Mariachi-Musik.
Sein Herz schlug schneller vor Erwartung – nein, sogar vor Freude. Er hatte kaum den Wagen geparkt, als die Eingangstür aufging. Sein Vater kam heraus, die Arme ausgebreitet, ein breites Lächeln auf dem wettergegerbten Gesicht. Michael war kindlich erfreut, dass sie offenbar auf ihn gewartet hatten.
„Er ist zu Hause!“ verkündete Luis, und seine Stimme hallte über den Hof. „Alle herauskommen, Miguel ist endlich da!“
Die hohen Willkommensrufe seiner Mutter und seiner Schwester Rosa ertönten. Dann kamen Rosas Kinder heraus, zögerlicher gefolgt von seinem Bruder Bobby.
Während Michael einen nach dem anderen umarmte, nahm er die schweren Aromen mexikanischer Weihnacht in ihrer Kleidung und ihren Haaren wahr: dunkle Schokolade, Vanille und Orangen.
Im Haus fühlte er sich versucht, einen Rundgang zu machen, in Schlafräume und Schränke zu schauen und zu sehen, ob er noch ein Zimmer hatte. Er war nervös und fühlte sich fehl am Platze. Die Familie sammelte sich jedoch freundlich schwatzend um ihn und redete von vergangenen Erlebnissen, die in der Erinnerung erst richtig schön wurden. Seit seinem letzten Besuch zu Hause waren immerhin etliche Jahre vergangen. Rasch nahm er die sanften vertrauten Klänge des Spanischen wieder auf, der Sprache seiner Familie. Die Zunge machte ihm bei einigen Vokalen und Konsonanten jedoch noch Schwierigkeiten, während er antwortete.
„Der kleine Francisco spricht besser Spanisch als sein Onkel“, neckte seine Mutter. Er lächelte nur. Das war ein alter Streit, der begonnen hatte, als er in der ersten Klasse und als einziger Mexikaner in seinem Jahrgang eines Abends beim Familiendinner verkündet hatte, er werde nur noch Englisch sprechen, wie die Nonnen es ihm aufgetragen hatten. Seine Mutter hatte gekränkt und verwirrt sofort aufgehört mit Spanisch und war seiner Aufforderung gefolgt. „Wenn die Nonnen es sagen …“
Sein Vater hatte für ihn typisch reagiert. Er war zornig explodiert und hatte Michael auf sein Zimmer geschickt, wo er sowieso lieber war. Das war der Beginn der Loslösung von seiner Familie gewesen. Der erste Schritt zu immer größerer Distanz.
Heute Abend lag jedoch keine Kritik in Luis Mondragons Blick. Er strahlte seinen jüngsten Sohn geradezu an.
„Rosa“, rief er seiner Tochter zu, „kümmere dich um deine Kinder. Ich möchte einen Moment allein mit Miguel reden.“ Damit führte er ihn in die große Wohnküche. Er schloss die Tür und seufzte theatralisch. „Wenn ich könnte zügeln die Energie von den Kindern, ich könnte leben ewig. Aber so …“ Er zog die Schultern hoch und streckte hilflos die Hände vor, „begnüge ich mich mit einem kleinen Glas Bier.“
„Ah, Mama“, sagte Michael, nahm ihr die Flasche ab und schnupperte in die Luft. Der vertraute Geruch mexikanischer Gerichte mischte sich mit Kinderlachen und Gesprächsfetzen auf Spanisch. Das wirkte beruhigend. Er war zu Hause, und es machte nichts, dass er seiner Familie nur wenig zu sagen hatte. „Das riecht himmlisch.“
Marta schwieg, errötete jedoch erfreut und beugte sich wieder über die großen Töpfe auf dem Herd. Michael und sein Vater lehnten sich gegen den Holztresen, jeder eine Flasche in der Hand, und begannen die befangene Unterhaltung, die jeder langen Trennung folgte.
„Also“, sagte Luis, und es klang eher wie ein Räuspern, „wie geht es dir?“
„Gut … gut“, versicherte Michael langsam und hoffte, es klang nicht zögerlich. Er trank von seinem Bier und bekräftigte: „Wirklich gut.“
„Was machst du in Chicago?“
Er zuckte die Achseln. „Dasselbe wie immer. Bürgermeister Daley möchte, dass wir mehr Bäume pflanzen, also wenn wir mit einem Bau fertig sind, pflanzen wir mehr Bäume.“ Vater und Sohn sahen sich an und lachten.
„Freut mich zu hören, dass du immer noch etwas pflanzt.“
Sie bemühten sich sehr, das Gespräch freundlich, unverfänglich zu halten, und die gelegentlichen Scherze, die Marta beim Umrühren einwarf, halfen. Michael spürte jedoch deutlich, dass sein Vater etwas Spezielles auf dem Herzen hatte, sich aber zurückhielt, um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Luis Mondragon war ein großer, breitschultriger Mann mit einer entsprechenden Stimme. Sein Versuch, sich in belangloser Plauderei zu üben, wirkte sehr unbeholfen. Michael beschloss, es ihm leichter zu machen. „Die Baumschule sieht mitgenommen aus“, kam er auf den Punkt.
Luis war überrascht und dann erleichtert. Er senkte den mächtigen Kopf zwei Mal. „Ja, ja, genau!“ bekräftigte er mit seiner lauten Stimme und streckte zustimmend die Arme aus. „Die Dürre im letzten Jahr, eijei! Wir haben viel verloren … und was ist übrig …“, er hob die Hände zum Himmel, „kann kaum überleben. Verflixte Dürre. Rasen versengt wie Hölle. Leute rufen an und sagen, nicht schneiden. Wenn wir nicht schneiden, sie nicht zahlen. Kümmert sie das? Nein! Sie nur sagen, nicht schneiden.“ Er schüttelte den Kopf. „So viel ist vertrocknet.“
„Ich hörte, wie schlimm es war. Tut mir Leid, dass es euch so hart getroffen hat.“
Luis zuckte die Achseln. „Wille von Gott, no?“
„Vielleicht.“ Michael trank von seinem Bier und vermied eine religiöse Debatte. Im Haus der Mondragons waren alle Winkelzüge des Schicksals Teil des göttlichen Plans, die man zu erdulden hatte. „Wie macht sich Manuel?“ Michael kannte seinen Schwager nicht besonders gut. Aber der Mann musste ein Heiliger sein, wenn er mit seiner aufbrausenden Schwester Rosa leben konnte.
Sein Vater hob gleichgültig die Schultern. „Ist okay, wenn er schneidet Rasen. Die Männer, sie mögen ihn, aber …“ Luis rieb sich das Kinn. „Es ist nicht nur die Dürre. Er kann nicht entwerfen Skizzen für Gartenplan, wie Leute heute wollen. Sie wollen Besonderes, weißt du. Und wenn du kannst zeichnen die Skizzen, du verkaufst auch Pflanzen. Manchmal wir machen Entwürfe umsonst, damit wir bekommen Auftrag.“
„Ich weiß, was du meinst, Papa. Das ist heute üblich. Warum hast du nicht jemand angestellt? Einen Gartenarchitekten oder so?“
„Warum ich sollte anstellen jemand, wenn mein Sohn kann besser machen als jemand sonst?“
Michael seufzte tief. „Vielleicht weil ich Architekt in Chicago bin, Papa. Ich baue Wolkenkratzer. Ich buddele nicht mehr in der Erde.“
„Madre de Dios. Wie kannst du ertragen, arbeiten weit weg von Boden? Warum du willst spielen mit Betonblöcken in Chicago, wenn du kannst haben all diese feine Erde in Kalifornien? Dieses wertvolle Land. Ich frage dich.“
Michael hörte das Flehen hinter den protzigen Worten, und es tat ihm weh. Sein Vater war ein stolzer Mann, der als Waise von seinen Verwandten in Mexiko mit Härte aufgezogen worden war. Mit zweiundzwanzig hatte er seine Familie nach Kalifornien gebracht. Ein unverheirateter Onkel war gestorben und hatte ihm, seinem einzigen Neffen, in Kalifornien ein kleines Stück Land hinterlassen. Sobald er das fruchtbare Tal sah, hatte Luis Mondragon ein Ziel im Leben gehabt. Alle lukrativen Kaufangebote ausschlagend, hatte er das Land für die Zukunft bewahrt. Ein riskanter Schritt für einen armen Mexikaner mit drei hungrigen Kindern.
Sobald er etwas Geld gespart hatte, war Luis mit seiner Familie in die Vororte gezogen und hatte eine kleine Firma für Gartenarbeiten gegründet. An sieben Tagen die Woche arbeitete er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang wie ein Ochse im Geschirr. Er hasste die Vororte, doch Marta hatte darauf bestanden, dass ihre Kinder mit denen der Gringos in dieselben Schulen gingen und von denselben Nonnen unterrichtet wurden. Außerdem, was hätte er anderes tun sollen? In den Vororten war das Geld. Den Leuten gefielen sein Witz und seine Kräfte, und das Geschäft blühte. Sobald die Söhne größer waren, halfen sie für ein Taschengeld Rasen mähen und Hecken schneiden.
Ihr Vater war knauserig mit Geld, aber großzügig mit seinem Wissen. Er lehrte Roberto und Miguel alles über Boden und Pflanzen und sämtliche Familiengeheimnisse, wie man kräftige Pflanzen zog. Jeder verdiente Cent wurde wieder in das Land gesteckt. Anfänglich verkaufte er in der eigenen Gärtnerei nur einige ausgesuchte Pflanzen, die seine Kunden verlangten. Augenzwinkernd und mit ansteckendem Lachen überredete er seine Kundschaft jedoch mehr und mehr, auch Ungewöhnliches zu versuchen. Pflanze für Pflanze schuf Luis den guten Ruf der Mondragon-Gärtnerei.
Michael war klar, dass es seinem alten Herrn das Herz brechen musste, ein Lebenswerk durch Hitze, Dürre und Konkurrenz zerstört zu sehen. Bei genauer Betrachtung schien die Dürre auch im attraktiven Gesicht seines Vaters tiefe Spuren hinterlassen zu haben. „Was soll ich tun, Papa?“ fragte er schlicht.
Luis sah ihn forschend an und entspannte sich zufrieden lächelnd. „Ach, Miguel, du bist wahrer Sohn. Ich sehe so viel von mir in dir.“
Michael entzog sich der Umarmung und rebellierte gegen den Vergleich. Er war ganz und gar nicht wie sein Vater. „Papa …“
„Siehst du, Marta“, unterbrach Luis ihn und drückte ihn fest, „ich habe dir gesagt: Mein Sohn hilft mir. Ich habe einen guten Sohn.“
Michael sah seine Mutter über den Kopf des Vaters hinweg an.
„Nein, Luis“, widersprach sie ruhig, „du hast zwei gute Söhne.“
Das Essen war vorbereitet, und die Familie versammelte sich um den langen dunklen Holztisch, während Marta stolz die Lieblingsgerichte auftrug. Ceviche, geröstete Schweinshaxe in Adobe-Sauce, Maispudding und grüner Reis. Das Dessert bestand aus nicht weniger als vier Kuchen mit frischen Erdbeeren und Sahne.
„Setz dich jetzt, Marta!“ kommandierte Luis. „Genug! Du rennst herum wie Kaninchen. Ich werde müde von Zugucken. Setz dich. Es ist Zeit zu essen.“
Nach einem prüfenden Blick, ob Salzstreuer, Butter oder Salsa fehlten, nahm Marta zögernd ihren Platz neben Luis ein.
Während Luis das Gebet sprach, schweifte Michaels Blick über die am Tisch versammelten Gesichter. Seine Familie spiegelte Mexikos reiche und wechselvolle Geschichte wider. Sein Vater war immer noch ein viriler, gut aussehender Mann, groß mit dichtem, grau meliertem Haar und buschigen Brauen. Seine Mutter Marta hatte so helle und zarte Haut wie die Madonnen auf den Bildern, die sie so liebte. Ihr angegrautes blondes Haar war zu einem Knoten geschlungen, was ihr zartes Patriziergesicht und ihre spanische Abstammung betonte.
Sein Bruder Bobby ähnelte ihr am meisten. Blond und hellhäutig, war er von zarter Statur. Sein keckes Lächeln schnitt Grübchen in ein ohnehin blendend geschnittenes Gesicht. Seine Schwester Rosa war ebenfalls blond, doch zu ihrem Leidwesen groß und breitschultrig wie er und sein Vater. Sie war eine kraftvolle Frau, die schwere Maschinen heben und Männerarbeit verrichten konnte. Luis hatte sich oft bei Marta beschwert, sie habe die Gene bei Bobby und Rosa vertauscht.
Michael war in dem Bewusstsein aufgewachsen, von allen Familienangehörigen der mit dem indianischsten Aussehen zu sein. Ungewöhnlich groß wie sein Vater, mit dichtem Haar, war seine Haut recht dunkel, und die Gesichtszüge wirkten gemeißelt wie die einer Maya-Statue. Von allen Mondragon-Sprösslingen hatte nur er von den Kindern in der Schule Unfreundlichkeiten zu hören bekommen.
„Wir kommen nicht jeden Weihnachten zusammen“, begann Luis, und seine dunklen Augen strahlten, als er sich am Tisch erhob und das Weinglas zum Prosit hochhielt. „Wir sind zusammen – wie es eine Familie sein sollte.“ Sein Blick wanderte über die Anwesenden und blieb auf Michael haften. „A la familia!“
„Auf die Familie“, wiederholte Michael auf Englisch und fing Bobbys amüsierten Blick auf.
„Du siehst gut aus“, sagte Bobby und musterte Michaels dunkles Jackett, das weiße Hemd und die Seidenkrawatte. Bobby hatte immer Wert auf sein Äußeres gelegt und Michael in der Jugend gnadenlos für seinen nachlässigen Kleidungsstil gerügt. „Armani, was? Wo sind die abgetragenen Jeans, die unpassenden Socken und Gott … erinnerst du dich an die Lederjacke?“
„Natürlich.“ Er lächelte wehmütig. „Ich wünschte, ich hätte sie noch.“
Als Junge hatte er immer ein Hemd getragen, auch im Sommer, damit seine ohnehin dunkle Haut nicht noch dunkler wurde. Er erinnerte sich, wie sehr er darin geschwitzt hatte, während die blasshäutigen Jungs in luftigen T-Shirts herumgelaufen waren. Er hatte jeden verdienten Cent beiseite gelegt, um sich die Lederjacke zu kaufen, und sie war seine zweite Haut geworden. „Meine Güte, wie ich diese Jacke geliebt habe.“
„Mag sein, aber was du da trägst, ist auch nicht übel. Los gringos in Chicago haben dich endlich gelehrt, wie man sich kleidet?“
Michael lächelte, ohne den Köder zu schlucken. In Wahrheit machte er sich nicht viel aus Kleidung. Alles, was gut geschnitten und schwarz war, stellte ihn zufrieden. Ihm fiel jedoch auf, wie blass und dünn Bobby war und wie lose seine Kleidung an ihm hing. „Fühlst du dich wohl, großer Bruder?“ fragte er besorgt und lehnte sich zu ihm hinüber.
Ein Schatten schien über Bobbys Gesicht zu huschen und verschwand. „Die Grippe“, erklärte er lächelnd und sah zu seiner Mutter hinüber. „Sie hat die Runde gemacht.“
„Sí, es ist schrecklich“, bestätigte Marta. „Jeder kriegt sie. Einer von diese fürchterliche neue Erreger. Aus China.“ Sie bekreuzigte sich. „Sei vorsichtig, Miguel, dass du dich nicht ansteckst.“
„Ha!“ lachte Bobby plötzlich auf.
Luis starrte ihn an, den Löffel vor den fest verschlossenen Lippen. Bobby wurde ernst und zog sich in sich zurück.
Nach viel Kuchen und Kaffee versammelte sich die Familie wie jedes Jahr um den Baum, wo besondere Geschenke der Eltern an die Kinder verteilt wurden.
„Bobby, du bist der Älteste. Du hilfst Weihnachtsmann“, entschied Luis.
„Mit Vergnügen, Papa“, erwiderte Bobby.
Michael sah voller Zuneigung, wie sein älterer Bruder sich eine rote Nikolausmütze aufsetzte und mit lustigem „Ho-ho-ho“ die Geschenke verteilte. Obwohl Bobby ein bemitleidenswert dünner Nikolaus war, spielte er die Rolle für seine Nichten und Neffen mit Begeisterung, und die Kinder quiekten vor Vergnügen.
„Genug!“ bellte Luis. „Albere nicht herum.“
Bobby straffte die Schultern, lächelte und neigte den Kopf. „Gott segne uns alle“, sagte er voller Sarkasmuns, der überspielen sollte, wie gekränkt er war. „Sogar dich, du alter Miesepeter.“
Luis rückte sich brummelnd in seinem Sessel zurecht.
Bobby machte begeistert weiter, schüttelte die Päckchen und ließ die Kinder raten, was sie enthielten. Alle außer Luis lachten und klatschten, als die Kinder ihre Schätze auspackten. Luis saß mit Gönnermiene da und blickte wie ein König auf seine Untertanen.
Als die Kinder später mit ihren Geschenken spielten, warfen die Erwachsenen verstohlene Blicke auf die verbliebenen Päckchen, gespannt wie in Kindertagen.
Ehrfürchtiges Schweigen senkte sich über den Raum, als Bobby sein Geschenk öffnete und die Taschenuhr des Großonkels vorfand, desselben verehrten Onkels, der Luis das erstklassige kalifornische Land vererbt hatte. Rosa und Manuel waren gleichermaßen überrascht von einem Porzellanservice, das sich seit Generationen in Martas Familienbesitz befand. Alle machten große Augen. Das waren nicht die üblichen Geschenke wie Kameras oder neue Pullover. Heute Abend hatten die Eltern die wenigen Familienschätze weitergegeben, die sie besaßen. Jetzt richteten sich alle Blicke auf Michael. Bobby suchte unter dem Weihnachtsbaum, doch da war nichts mehr. Michael runzelte leicht die Stirn.
„Der arme Tío Miguel bekommt kein Geschenk“, sagte Maria Elena und schlang ihm tröstend die kleinen Arme um die Schultern.
„Ich fürchte, ich war ein böser Junge“, scherzte er und umarmte sie. Er lächelte zwar, war jedoch enttäuscht.
Da erhob sich Luis mit großer Geste und ging zum Kamin. Er nahm einen Umschlag vom Sims und überreichte ihn Michael nach kurzer dramatischer Pause mit sichtbarem Stolz.
Michael sah seinen Vater forschend an und suchte nach Hinweisen, was der Umschlag enthielt. Dann blickte er zu Bobby, Rosa und Manuel. Deren Mienen waren neugierig und vorsichtig abwartend. Offenbar wusste niemand etwas.
Zum Dank nickend nahm Michael den Umschlag entgegen, öffnete ihn und las die Urkunden, die er enthielt. Aus seinem Gesicht wich alle Farbe. „Das ist eine Schenkungsurkunde!“
„Ich bin ein Mann, der hält sein Wort. Ich bat ihn, zu kommen nach Kalifornien und zu helfen. Er kam!“ sagte Luis an alle gewandt. „Er hat bewiesen, dass er ist ein Sohn, jetzt er wird beweisen, dass er ist ein Mondragon. Er wird wieder herstellen Familienehre in diesem Tal. Michael wird zeichnen die Entwürfe. Wir fangen wieder an, als Familie. Ich weiß es, und es bringt meinem alten Herzen große Freude, das zu sehen.“
Er kam näher und legte seinem inzwischen sitzenden Sohn eine Hand auf die Schulter, wie ein König das Schwert auf die Schulter eines Ritters legt. „Ich verspreche dir das Land, das Geschäft, alles. Ich übertrage dir Zukunft von unsere Name Mondragon.“
Michael spürte die Bürde wie eine tatsächliche Last auf den Schultern. Mit dieser Urkunde gingen unausgesprochene und unerwünschte Forderungen einher – eine Verpflichtung zu Loyalität und Kontinuität. Die Pflicht zu heiraten, sich auf dem Land anzusiedeln und für Erben zu sorgen. Und er sah im Blick seines Vaters, dass Luis entschlossen war, die Erfüllung jeder einzelnen Verpflichtung einzufordern.
„Vater, wie kannst du so etwas tun?“ begehrte Rosa auf. Sie brach als Erste das Schweigen, und ihre Bitterkeit war unüberhörbar. „Manuel und ich, wir haben all die Jahre für dich geschuftet. Jahre, in denen Miguel fort war. Für uns war immer klar …“
„Was war klar, Querida?“ fragte Luis warnend. Langsam drehte er sich zu seiner Tochter um, den Rücken zu Manuel. Er lächelte, doch seine Augen blitzten. „Du gehörst immer zum Geschäft. Aber dein Name nicht ist Mondragon. Dein Sohn heißt nicht Mondragon. Das war immer klar.“
Manuel errötete und presste die Kiefer zusammen, die Lippen ein schmaler Strich. Wortlos stand er auf und verließ das Zimmer.
„Was ist mit dir, Roberto?“ wandte sie sich ihrem älteren Bruder zu.
Bobby erbleichte, hob aber das Glas an die Lippen und zuckte weltmännisch die Achseln. „Es ist Papas Land, und er kann damit machen, was er will. Und … Papa will es eben Michael vermachen.“
„Du bist der Älteste! Es sollte dir gehören!“
Ein schmerzlicher Ausdruck glitt über Bobbys Gesicht. „Ich male Wandgemälde, Rosa. Was soll ich mit einer Gartenbaufirma?“
„Genug jetzt!“ sagte Michael, stellte sich in die Mitte des enger werdenden Kreises und merkte nicht, dass er soeben geklungen hatte wie Luis. Er brachte Rosa mit einem strengen Blick zum Schweigen, wandte sich an seinen Vater und hielt ihm die Urkunde hin. „Papa, das ist eine große Ehre.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Eine zu große Ehre.“
„Du bist fuerte, no?“ erwiderte Luis und schob die Papiere zurück. „Stark. In Herz und Charakter.“ Er schlug seinem Sohn auf den Rücken, und es wurmte Michael, dass er sich über den Stolz des Vaters freute. „Du wirst mir nicht zeigen kalte Schulter. Du wirst helfen deine Familie, no?“
„Helfen, ja. Du brauchst mich, das ist richtig. Und ich tue, was ich kann, aber ich habe nichts als Gegenleistung gefordert.“
„Gefordert? Miguel, ich dir geben alles. Die Gartenbaufirma, die Gärtnerei, die Quelle, alles. Ich dir gebe Freiheit. Dein eigenes Land dich macht zu freie Mann. Niemand sagt dir, was du sollst tun, niemand dich macht klein. Ein Mann mit deine Fähigkeiten kann es bringen zu Reichtum.“
Das war übertrieben, aber in gewisser Weise auch richtig. Das Land war inzwischen sehr wertvoll. Und das Quellwasser konnte für gutes Geld verkauft werden. Die Größe des Geschenks machte ihn demütig. Doch der Preis war zu hoch!
„Gracias, Papa. Wirklich. Aber ich brauche Zeit, darüber nachzudenken.“
„Nachdenken? Nachdenken?“ Luis riss die Augen auf, gekränkt, dass sein wertvolles Geschenk zurückgewiesen wurde. Er ließ die Hand hinabsausen wie eine Machete. „Immer du musst nachdenken. Manchmal du denkst so viel, du hörst nicht auf deine Herz. Es wird zu Stein.“
Vater und Sohn starrten sich über die vertraute Kluft hinweg an. So war es immer zwischen ihnen: hitziges Temperament gegen kühlen Verstand. Die blinkenden Lichter am Weihnachtsbaum zauberten grüne und rote Reflexe auf Luis’ grau meliertes Haar. Er wirkte wie ein Stier, der soeben den Todesstoß erhalten hatte.
„Papa“, begann Michael.
Doch der winkte brüsk ab und sah Marta streng an. Die stand mit gesenktem Kopf da, die Hände vor der Schürze gefaltet. Mit einem Heben der breiten Schultern wandte Luis sich plötzlich ab und stürmte aus dem Raum.
„Hältst du das für fair, kleiner Bruder?“ brach Rosa giftig das beklommene Schweigen. „Bist du hergekommen, alles einzuheimsen?“
„Rosa!“ tadelte Marta entsetzt.
Michael sah sie nur ruhig an, traurig und gekränkt durch ihre offene Feindschaft. Die arme Rosa. Sie war verletzt und zornig, weil sie vom Vater übergangen wurde. Sie konnte in der traditionellen weiblichen Rolle ihres Kulturkreises trotz entsprechender Erziehung nie glücklich werden. Rosa war zu forsch und zu klug dafür. Sie verdiente eine bessere Behandlung als die hier. Aber er ebenfalls.
„Zunächst einmal“, begann er mit tiefer, mühsam beherrschter Stimme, „bin ich nur heimgekommen, weil unser Vater mich darum gebeten hat. Zum zweiten will ich das alles gar nicht haben.“ Er machte eine zornige Geste mit der Hand. „Und wenn du zuhören anstatt keifen würdest, hättest du mitbekommen, dass ich das Angebot abgelehnt habe. Und zum dritten, und jetzt hör gut zu, hermana, wenn du nur die halbe Energie darauf verwenden würdest, deinen Mann aufzubauen, anstatt ihn klein zu machen, wäre er vielleicht in der Lage, das Geschäft zu übernehmen.“
Nach kurzer Pause fuhr er fort: „Wie die Dinge liegen, hat Papa jedoch Recht. Ich bin der Einzige in der Familie, der die Gärtnerei wieder flottmachen kann. Falls du deine spitze Zunge lange genug im Zaum halten kannst, darüber nachzudenken, wirst du zugeben, dass es stimmt. Ich bin nicht hergekommen, irgendwem etwas wegzunehmen. Ich bin hier, um meiner Familie zu helfen. Und das werde ich tun. Aber sobald das erledigt ist, bin ich wieder weg. Offensichtlich hat sich nichts geändert. In euren Augen bin ich immer noch der pobre negrito, der kein Anrecht auf irgendetwas hat. Eines habe ich jedoch in der Welt da draußen gelernt: Ich habe Anrecht auf alles, wofür ich hart gearbeitet habe.“
Er sah ihre Verblüffung. Da sie schwiegen, folgte er seinem Vater hinaus auf die Veranda.
Luis lehnte, einen Fuß vor den anderen gesetzt, am Geländer und blickte auf die dunkle fruchtbare Erde seiner geliebten Gärtnerei. Michael ahnte, dass sein Vater sich zurückgewiesen fühlte, weil er das Land zurückgewiesen hatte. Stimmt das etwa? fragte er sich und schaute über den Besitz. Gilt meine Ablehnung eher dem Vater als dem Land?
„Ich gebe dir ein Jahr“, sagte er halblaut. „Aus Liebe zu dir und Mutter.“
„Ein Jahr reicht nicht. In der Zeit können wir nichts aufbauen. Zwei. Ich brauche zwei Jahre. In der Zeit können wir viel schaffen.“
Michael presste die Kiefer zusammen. Zwei Jahre Urlaub von seinem Job konnte ihn alles kosten, wofür er gearbeitet hatte. Allerdings hatte sein Vater Recht. Zwei Jahre würden ausreichen für einen Neubeginn.
„Einverstanden“, erwiderte er. „Wenn du mir versprichst, dass du mich nicht dauernd zum Bleiben überreden wirst.“ Er drückte seinem Vater die Papiere wieder in die Hand. „Wenn die Zeit abgelaufen ist, reden wir noch mal miteinander.“
Luis sah ihn an, als erwarte er einen Haken bei der Sache. Michaels Mienenspiel schien ihn jedoch zufrieden zu stellen. Er nickte und nahm die Papiere zurück.
„Wann fängst du an?“
„Im März. Rechtzeitig für die Frühlingsaufträge.“
„Nicht früh genug. Ich beginne in zwei Wochen.“
„Schick mir die Unterlagen, ich mache die Entwürfe von Chicago aus.“
Luis lachte laut auf und legte seinem Sohn besitzergreifend einen Arm um die Schultern. „Wie ich kann untergehen?“ sagte er bewegt. „Ich kenne meine Erde, sie ist wie eine schöne, mollige Frau, fruchtbar und gut duftend. Du pflanzt den Samen, und sie tut das Ihre dazu. Und ich kenne meinen Sohn. Du kehrst nie Rücken deine Familie.“
Die Himmelfahrts-Kirche in Chicago war schön beleuchtet und hallte von den fröhlichen Gesängen der Gemeinde in der Mitternachtsmesse. Obwohl es überfüllt war, saßen Charlotte und Helena auf den reservierten Plätzen neben dem Altar. Ein Bonus, weil sie den ganzen Tag emsig gewesen waren, die Kirche zu schmücken. Stolz ließ Charlotte den Blick über das frische weiße, mit grüner Stickerei gesäumte Leinen und den im Licht glänzenden Blumenschmuck wandern. „Wunderschön“, seufzte sie.
Pater Frank zwinkerte ihnen vom Altar zustimmend zu.
Die ganze Zeit kreisten Charlottes Gedanken um Schönheit. Dr. Harmon hatte seine letzten Entwürfe vorgelegt, und sie war geradezu erschüttert gewesen von dem wunderschönen neuen Gesicht. „Ich kann nicht glauben, dass ich das sein werde“, hatte sie atemlos gesagt und auf die Bilder gestarrt.
„Glauben Sie es nur. Ich werde es machen.“
„Aber die Nase. Sie haben sie verändert. Das ist nicht meine.“
„Es wird Ihre sein.“
„Ich weiß nicht. Meiner Mutter wird das nicht gefallen, mich so verändert zu sehen.“
„Wie gefällt es Ihnen denn, Miss Godowski?“
Sie blickte auf den wunderbaren Schwung der Kinnlinie. „Ich liebe es.“ Dann legte sie ein Blatt Papier über das Gesicht, so dass nur die Augenpartie sichtbar blieb. „Ich bin es trotzdem noch.“
„Natürlich. Und wie klug von Ihnen, auf die Augen zu schauen, denn die zeigen Ihr wahres Ich.“
Vielleicht, dachte sie, und hatte dem Entwurf zugestimmt, ohne ihrer Mutter von der veränderten Nase zu erzählen. Ihr neues Gesicht war ihr Geschenk an sich selbst. Ihr Geschenk an ihre Mutter war ihr neuer Job. Dr. Harmon hatte ihr freundlicherweise die Stelle als Buchhalterin in seiner Praxis angeboten, zu einem anständigen Gehalt. Endlich musste Mutter sich keine Gedanken mehr um das Einkommen machen. Nach der Messe heute Nacht wollte sie ihr die Neuigkeit mitteilen.
Als der Chor das Lied „Joy to the World“ anstimmte, sang Charlotte aus vollem Herzen mit. Ihre Welt war voller Freude und Hoffnung.