14. KAPITEL

Charlotte flog Wochen später nach Abschluss der Dreharbeiten nicht gleich nach Kalifornien, sondern nach New York zu einem Finanzberater, den ihr der Filmproduzent empfohlen hatte.

Sie hatte noch nicht viel zu investieren. Jedenfalls an den Maßstäben des Produzenten gemessen. Nach ihren Maßstäben war es allerdings ein kleines Vermögen. Irgendwann in den letzten Wochen hatten sich ihre Lebensprioritäten herauskristallisiert. Zwischen Melanies schrecklichem Selbstmordversuch und Michaels Liebeserklärung war ihr bewusst geworden, wie wankelmütig das Schicksal und wie wertvoll die Liebe war. Sie wollte Beständigkeit in ihrem Leben und war entschlossen, danach zu streben.

Ihr Besuch beim Bessemer Trust dauerte zwei Stunden, in denen sie sich ein beachtliches Aktienpaket zulegte. Ein Teil davon waren hoch riskante Anlagen, die ihr Kapital in kürzester Zeit verdoppeln … oder vernichten konnten. Kenneth Clark hatte sich beeindruckt gezeigt von ihrem Geschäftssinn und Durchblick im Finanzwesen. Immerhin war sie eine exzellente Buchhalterin gewesen. Dass sie jetzt ihr eigenes Geld investierte, schärfte nur ihre Fähigkeiten.

Bei der Rückkehr nach Kalifornien machte sie auf dem eingeschlagenen Weg weiter. Ihr erster Termin führte sie zu Mrs. Delaney, der älteren Witwe, der das gemietete Haus gehörte, in dem sie wohnten. Sie war eine frustrierte, gereizte alte Dame, die sich ungerecht von der Welt behandelt fühlte. Charlotte gelang es jedoch, sie schnell für sich einzunehmen. Sie half ihr, die Rosen zu wässern, und warf ihren beiden übergewichtigen Scotchterriern Stöckchen zum Apportieren.

Mrs. Delaney hatte selten Besuch, lud niemals ein und sah außer ihrer Haushälterin kaum einen Menschen. Charlotte hatte Geduld mit ihr und dachte dabei an ihre Mutter. Sie gab ihr Zeit, ihren Frust abzulassen und endlos über ihre schäbigen Verwandten herzuziehen. Schließlich lenkte sie die Unterhaltung vorsichtig auf angenehmere Themen: die Hunde, den Garten und Mrs. Delaneys Sammlung an japanischem Porzellan. Wenn man ihr die Gelegenheit dazu gab, konnte die alte Dame diese Themen durchaus angeregt diskutieren.

Nachdem sie Tee getrunken hatten, stimmte sie schließlich zu, Charlotte das kleine Haus am Hang zu verkaufen.

„Du hast was?“ Melanie legte in einer Geste größter Verblüffung beide Hände an die Wangen.

„Ich habe das Haus gekauft“, erwiderte Charlotte gespielt lässig und stellte ihre Tasche auf den Tisch im Flur. Sie warf der völlig perplexen Melanie einen Seitenblick zu, brach plötzlich in Lachen aus und umarmte sie glücklich. Sie nahmen sich bei den Händen und tanzten und sangen wie die Kinder.

„Wie hast du es angestellt, die alte Streitaxt zum Verkauf zu bewegen?“

„Abgesehen von ihrer Bärbeißigkeit ist sie eigentlich sehr nett. Sie erinnerte mich sehr an meine Mutter. Ein schweres Leben und viele Enttäuschungen können einen Menschen bitter machen. Das Haus war ihr eigentlich gleichgültig. Sie hat es nur aus Gewohnheit behalten. Geld hat sie genug. Sie ist nur einsam. Vielleicht sollten wir sie gelegentlich zum Tee oder auf eine Partie Canasta einladen. Sie spielt gern Karten, genau wie meine Mutter.“

Ein Anflug von Heimweh versetzte ihr einen kleinen Stich. Jeden Monat hatte sie Helena einen großen Scheck und einen langen Brief geschickt und ihr alles berichtet, was in ihrem Leben geschah. Sie hatte von ihren Träumen, Hoffnungen und Erfolgen geschrieben und ihre Mutter gebeten, zu ihr nach Kalifornien zu ziehen und nie mehr zu arbeiten.

Helena antwortete nicht, und die Schecks kamen uneingelöst zurück.

„Wenn du etwas haben willst, Charlotte Godfrey, bekommst du es auch“, stellte Melanie fest, die Hände auf die Hüften gestemmt. „Ich habe es gleich in deinen Sternen gelesen. Du bist ein Löwe durch und durch.“ Sie verschwieg, dass sie auch schwierige Zeiten für sie vorausgesehen hatte. Negative Prophezeiungen behielt sie immer für sich.

„Dann höre mein Brüllen.“ Sie kicherte. „Hier, ich habe noch etwas mitgebracht.“ Sie reichte Melanie ein Päckchen. „Für dich.“

„Was ist das?“ fragte sie nachdenklich, brachte den Packen Broschüren zum Tisch und ging ihn gedankenverloren durch. „Kochschule? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich noch mal die Schulbank drücke? In meinem Alter? Sei nicht albern. Schule ist etwas für junge Leute. Man würde mich auslachen.“

„Ist das dieselbe Melanie Ward, für die Alter nie ein Thema war?“

„Nein, es ist nicht dieselbe Melanie Ward. Und das weißt du genau. Mein Körper ist strapaziert von der Plackerei, jung und knackig zu bleiben. Das Alter ist sehr wohl ein Thema.“

„Nein, das stimmt nicht. Du hast es mir bewiesen. Und es ist bestimmt kein Thema, wenn es darum geht, wieder die Schulbank zu drücken. Viele Männer und Frauen in den Vierzigern tun das. Heutzutage ist es normal, die berufliche Laufbahn zu ändern. Wie ich das sehe, hast du erst einen Beruf ausgeübt. Es wird Zeit für einen zweiten.“

„Ich kann nicht“, widersprach Melanie und wich zurück. „Du kennst mich. Ich bin ein Strohkopf, nur Körper und kein Hirn.“

„Auch das stimmt nicht. Du hast nur eine negative Einstellung. Du siehst, dass die Flasche halb leer ist, anstatt zu würdigen, dass sie noch halb voll ist. Eine positive Einstellung tut der Seele gut!“

„Und wenn ich nun keine geborene Optimistin bin wie du? Für mich ist die Flasche eben halb leer und dann wieder halb voll. Und oft auch knochentrocken.“

„Oder sie fließt über. Optimisten werden gemacht, nicht geboren. Die Umstände kann man oft nicht ändern, aber die Art und Weise, wie man darauf reagiert. Depressive Leute machen dich nur traurig, also umgib dich mit fröhlichen Menschen.“

„Na ja, schließlich bist du meine Mitbewohnerin. Ich dachte, das wäre fröhlich genug für ein Leben. Du und deine Listen mit guten Vorsätzen“, fügte sie hinzu und blätterte die Broschüren durch.

„Genau“, bestätigte Charlotte. „Deshalb liebe ich Silvester, weil ich mir dann Listen mit guten Vorsätzen machen kann. Probier es doch einfach, Melanie. Weißt du was? Heute, am 9. November, an dem Tag, an dem wir das Haus gekauft haben, ist unser privater Silvesterabend.“

„Wir?“

„Natürlich wir. Lass uns eine Liste aufstellen, was wir für das Haus und für uns machen wollen. Dekorieren, Schränke ausmisten, endlich mit dem neuen Fitnessprogramm anfangen.“ Sie sah Melanie schelmisch lächelnd an. „Wieder zur Schule gehen.“

„Ganz schön gerissen, meine Süße.“

Charlotte lachte, froh dass Melanie trotz ihrer Vorbehalte das Spiel mitmachte. Sie ging in die Küche und öffnete eine Flasche Chardonnay. Von dort beobachtete sie, wie Melanie sich in die Broschüren vertiefte.

„He!“ rief sie und deutete mit dem Finger auf ein Bild. „Der Typ sieht ziemlich alt aus.“

Charlotte kam mit zwei vollen Gläsern zurück und blickte Melanie über die Schulter. „Fünfzig, und keinen Tag jünger.“ Sie gab Melanie ein Glas.

„Soll ich?“

„Mach nur. Schau dir die Sache einfach mal an. Mir zuliebe.“

Melanie zog die Stirn kraus und trank einen Schluck Wein. „Selbst wenn ich es machen wollte, woher soll ich das Geld dafür nehmen?“

„Ich gebe dir ein Darlehen.“

„O nein!“ Melanie verdrehte die Augen. „So fangen wir gar nicht erst an.“

„Das ist keine große Sache. Für meinen nächsten Film bekomme ich eine obszön hohe Gage. Wer will sagen, ob das gerechtfertigt ist? Warum soll ich mit dem ganzen Geld nicht etwas anfangen, das mir Vergnügen bereitet und meiner besten Freundin hilft? Außerdem halte ich das für eine gute Investition. Seit Jahren esse ich das, was du kochst, und ich glaube fest an dein Talent. Du hast eine Zukunft als Küchenchef, darauf wette ich, und darauf setze ich mein Geld.“

„Ich weiß nicht, Charlotte. Das ist ein riskantes Spiel.“

„Du kennst mich. Ich bin sehr vorsichtig mit meinem Geld. Ich habe noch nie unklug investiert, und ich werde nicht gerade jetzt damit anfangen.“

„Ich danke dir für deine Hilfe, und ich muss gestehen, die Sache interessiert mich. Es wäre dumm, mir nicht zu überlegen, wie es weitergehen soll. Aber ich werde es dir nie zurückzahlen können. Wenn ich das doch nur vor Jahren schon in Angriff genommen hätte, als ich noch Geld besaß. Aber damals habe ich mein Geld verschwendet, verdammt.“

„Halb leere Flasche …“

Melanie lachte.

„Ernsthaft“, erwiderte Charlotte, „dir Geld zu leihen, ist kein Aufwand für mich. Wenn du die Ausbildung abgeschlossen hast, können wir darüber reden, wie du mir das Geld zurückzahlst.“ Sie nippte an ihrem Wein. „Ich hoffe, du machst dann was Aufregendes, ein Restaurant eröffnen oder einen Partyservice. Etwas, worauf ich die Schulden verbuchen kann.“

Melanie verzog ihren Puppenmund, und ihre Augen strahlten begeistert, was Charlotte Hoffnung gab. „Solange ich zur Schule gehe, könnte ich die Hausarbeit übernehmen, einkaufen und kochen. Großer Gott, ich glaube ja nicht, was ich da sage. Ich und putzen, ich mag gar nicht an meine Nägel denken. Aber ich kann es, du hast mir beigebracht, wie man eine Kloschüssel reinigt. Vielleicht kann ich dir noch andere Arbeiten abnehmen. Bügeln oder so.“

„Bevor du zur Hausunke mutierst, lass uns einen Darlehensvertrag austüfteln, der dich nicht zu meiner persönlichen Sklavin macht.“ Ernster fügte sie hinzu: „Ich möchte unsere Freundschaft nicht zerstören.“

„Nein, ich auch nicht.“

„In den nächsten Monaten werde ich viel zu Filmaufnahmen und Publicityzwecken unterwegs sein. Und ich möchte das Haus nicht gern unbeaufsichtigt lassen. Wie wäre es, wenn du den Job des Hausverwalters übernimmst?“

Melanie warf begeistert die Arme hoch. „Klar, warum nicht?“

„Also“, Charlotte streckte eine Hand aus. „heißt das, du gehst zur Kochschule?“

Melanie nahm die Hand. „Wenn Gott eine Tür schließt, öffnet er ein Fenster, sagte meine Großmutter immer.“ Sie gaben sich die Hände und umarmten sich. Melanie lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Und ich habe dich immer für geizig gehalten, dabei bist du einer der großzügigsten Menschen, die ich kenne.“

„Ich bin nur vorsichtig mit meinem Geld, damit ich es für wichtige Dinge ausgeben kann.“

Charlotte setzte sich aufs Sofa und lehnte sich in die Kissen. Ihr ganzer Körper schmerzte. Jetzt, da sie zu Hause war, verlangte jeder Muskel nach Erholung.

„Du siehst müde aus“, stellte Melanie fest und setzte sich neben sie.

„Ich bin müde.“

„Nimmst du deine Vitamine?“

„Ich gelobe Besserung.“

„Du machst mich verrückt. Was soll man da tun? Das nächste Mal packe ich sie dir höchstpersönlich ein. Und wenn du mit einem Beutel voller Vitamine zurückkommst, werde ich ungemütlich.“

„Sei nachsichtig, ich hatte so viel zu tun …“

„Umso mehr Grund, auf die Gesundheit zu achten. Charlotte, du siehst nicht gut aus. Ich mache mir Sorgen um dich. Du verlierst Gewicht.“

„Nur ein paar Pfund.“

„Mindestens fünf. Hast du wieder Kopfschmerzen?“

„Mm“, bestätigte sie leise. „Sie treten häufiger auf. Migräne, sagt der Doktor. Ich bin mir da nicht so sicher. Meine Gelenke schmerzen auch. An bestimmten Stellen, Handgelenke, Zehen- und Hüftknochen.“ Besonders tat ihr die Stelle weh, wo Melanie sie im Wasser geschlagen hatte, aber das behielt sie für sich.

„Jetzt weiß ich, warum du so gut mit Mrs. Delaney ausgekommen bist. Ihr zwei alten Tanten habt euch eure Wehwehchen geklagt.“

„Haben wir“, bestätigte sie schmunzelnd. Sie streckte sich auf dem Sofa aus, schüttelte die Schuhe ab und deckte sich mit der verschlissenen alten Decke zu, die ihre Mutter vor Jahren für sie gestrickt hatte. „Kannst du die Lichter ein bisschen dimmen, Mel, bitte? Ich brauche ein paar Minuten Ruhe, bevor Michael kommt. Ich will ihn nach der langen Trennung nicht wie ein klapperiges altes Weib begrüßen.“

Melanie betrachtete die auf dem Sofa liegende Charlotte mit geübtem Auge. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid mit einem fabelhaften Schnitt. Prada vermutlich. Die Goldkette und die passenden Ohrringe waren geflochten und hatten den sanften Schimmer von achtzehn Karat. Arme und Hände waren nackt. Am schlanken Handgelenk trug sie lediglich eine schlichte schwarze Movado-Uhr mit einem dünnen Lederarmband. Ein Geschenk von Michael. Melanie seufzte und ahnte, dass Charlotte Godfrey auch mit vierzig noch auf ihre unnachahmliche Art gut aussehen würde. Um diese zeitlose Schönheit beneidete sie sie am meisten.

Charlottes charakterliche Qualitäten machten es jedoch schier unmöglich, ihr etwas zu missgönnen. Und verglichen mit ihren Kindheitsproblemen schämte sie sich der eigenen Probleme geradezu. Charlotte war weise über ihr Alter hinaus und hatte den Mut gefunden, ihr Leben grundlegend zu verändern. Da konnte sie wenigstens den Versuch wagen, etwas Neues anzufangen.

Melanie ging hinüber und zog Charlotte die Decke bis unters Kinn. Wie blass sie war, fast bleich. Freddy übte zu viel Druck aus, aber sie setzte sich auch selbst unter Druck. Charlotte Godowski … Charlotte Godfrey … sie blieb ihr ein Rätsel. Sie hatte Schönheit und Erfolg, was trieb sie nur so hart an?

Charlotte starrte in Michaels Armen in die rötlich blauen Flammen des Kaminfeuers. Das erste Kaminfeuer im eigenen Haus. Vor Stunden hatte sie lachend mit Michael und Melanie auf den Hauskauf angestoßen. Danach hatte Melanie sich entschuldigt, weil sie unbedingt einen bestimmten Film sehen wollte, und war mit dem deutlichen Hinweis gegangen, sie werde keinesfalls vor Mitternacht zurück sein.

Die nächsten Stunden hatte Charlotte in leidenschaftlichen Umarmungen mit Michael vor dem Kamin verbracht.

Erhitzt hielten sie sich umschlungen und teilten ihre Träume für die Zukunft in der Gewissheit, eine besonders innige Beziehung zu haben. In eine Decke gewickelt lagen sie auf dem Schaffell. Michael hatte die Beine um sie geschlungen, sein Kinn ruhte auf ihrem Kopf. Seine Beinbehaarung kitzelte ihren Schenkel, sie hörte seine tiefe Stimme unter ihrem Ohr und nahm den eigenen Geruch auf seinen Lippen wahr, wenn er sie küsste.

„Michael, glaubst du, dass wir immer so glücklich sein werden?“

„Natürlich. Ich wüsste nicht, was uns hindern sollte.“

„Diese Trennungen sind nicht leicht für uns. Für den nächsten Film muss ich einige Monate nach Frankreich.“

Er brummte missbilligend. „Im Winter haben wir nicht viel zu tun. Ich könnte dich am Drehort besuchen.“

„Nur wenn du versprichst, nicht bei den Liebesszenen zuzusehen.“

Er brummelte etwas auf Spanisch, schlang die Arme fester um sie und drückte das Gesicht in ihre Halsbeuge. Sie streichelte ihn tröstend und spürte seine Bartstoppeln an ihrer zarten Haut.

„Michael, was hast du mit den Skizzen für das Haus gemacht? Du weißt schon, die du gleich zu Anfang bei der Anlage des Gartens gezeichnet hast.“

Sie spürte ihn lächeln. „Die habe ich immer noch. Entwürfe werfe ich nie weg. Lass mich raten. Da du nun Hausbesitzerin bist, schweben dir Veränderungen vor.“

Jetzt musste sie lächeln. „Eher ein Umbau. Du nanntest das Haus eine Hütte, die du in ein Schmuckstück verwandeln könntest. Etwas, das zum Garten passt.“ Sie drehte sich in seinen Armen. „Ich möchte diese Umbauten jetzt machen lassen, Michael. Deine Skizzen haben mir schon damals gefallen, und ich hätte sie sofort umgesetzt, wenn es möglich gewesen wäre. Manchmal, wenn ich im Garten stehe und auf das Haus gucke, sehe ich deinen Entwurf vor mir. Mit einigen Änderungen natürlich.“

„Dass du Änderungen möchtest, hätte ich mir denken können.“

„Klar.“ Ein Lächeln umspielte ihren Mund. „Ich möchte ein Bad mit einem großen Spiegel, damit ich mich jeden Tag ansehen kann und nicht irgendwann Angst vor meinem Spiegelbild bekomme. Ich möchte einen Schminkplatz, wie ich ihn in Magazinen gesehen habe. Und einen für Melanie. Das sind nur Kleinigkeiten, und die möchte ich sofort haben.“

„Wie kommt’s? In den nächsten Monaten bist du doch kaum zu Hause.“

Da ihn das traurig zu machen schien, nahm sie tröstend sein Gesicht zwischen beide Hände. „Umso mehr Grund, warum ich ein richtiges Zuhause brauche. Eine Basis. Ich dachte früher, Filme drehen wäre etwas Glamouröses: aufregende Drehorte, tolle Hotels, schicke Partys. Aber die meiste Zeit haust man in Wohnwagen, ernährt sich von Schnellgerichten, steht im Morgengrauen auf und fällt spätnachts todmüde ins Bett. Dann musst du noch neue Texte lernen und zwischendurch Publicity-Arbeit und Werbeinterviews machen.“

Nach einer Pause fuhr sie fort: „Ach Michael, wenn ich allein in der Welt herumgondele, brauche ich die Vorstellung von einem schönen, gemütlichen Zuhause. Und Mel wird es gut tun, daran teilzuhaben und in die Planungen einbezogen zu sein.“

„Sicher hat sie jede Menge Ideen für die Küche.“ Er erwärmte sich für ihr Vorhaben.

„Ja, Melanie soll sich die Küche nach ihren Wünschen einrichten. Das ist ideal. Sie wird sich nicht so einsam fühlen, wenn sie sich während meiner Abwesenheit mit etwas beschäftigen muss.“ Sie sah Michael bittend an. „Du behältst sie im Auge, während ich fort bin, ja?“

„Ja, natürlich. Typisch, dass du dir Sorgen um andere machst. Wer behält dich im Auge?“

„Freddy. Das ist sein Job. Er sitzt mir dauernd auf der Pelle, ich soll richtig essen, meine Übungen machen und mich ausruhen.“

Michael zog die Stirn kraus. „Ich verabscheue den Kerl, und ich traue ihm nicht. Für ihn bist du die Gans, die goldene Eier legt, nicht etwa eine Freundin.“

Sie legte ihm die Finger auf die Lippen. „Schsch. Ich brauche euch beide. Deshalb bitte ich dich um dasselbe wie ihn. Lass ihn in Ruhe. Er ist mein Agent, und er ist gut in seiner Arbeit. Ich komme nicht ohne ihn aus.“ Tief durchatmend fügte sie hinzu: „Meine Karriere bedeutet mir viel. Ich bin ihr verpflichtet und deshalb auch ihm. Sie kommt gerade erst in Fahrt, und ich möchte nicht, dass mir etwas dazwischen funkt.“

„Oder jemand?“

„Warum sagst du das? Ich liebe dich. Ich sehe keinen Grund, warum meine Karriere unserer Liebe im Weg stehen sollte. Du musst nur Verständnis für meinen Beruf aufbringen. Du darfst nicht eifersüchtig sein, Michael.“

Er wandte sich ab, nahm sein Champagnerglas und trank es auf einen Zug leer. „Eine Karriere ist vielleicht nicht alles im Leben.“

Sie sah ihn an, doch seine dunklen Augen waren starr auf das Feuer gerichtet. „Was meinst du?“

Er erzählte ihr schließlich von Bobby und seinem Kampf gegen Aids. Und dann mit stockender Stimme von seiner Entscheidung, so lange in Kalifornien zu bleiben, bis Bobbys Gesundheit sich entweder stabilisiert oder er ihn in den Tod begleitet hatte. „Meine Karriere ist mir nicht mehr so wichtig, wie sie einmal war“, erklärte er. „Wenn ich bei deinen Zielsetzungen unterschwellig heraushöre, dass du unsere Beziehung deiner Karriere opfern würdest, mache ich mir natürlich Sorgen. Bedeute ich dir denn so wenig?“

„Nein, natürlich nicht, Michael. Das sage ich doch gar nicht. Es ist nicht dasselbe.“

„Natürlich ist es das.“

„Nein. Du bist Architekt. Deine Ausbildung ist abgeschlossen. Du kannst überall und zu jeder Zeit tätig werden. In meinem Beruf ist das anders. Ich muss es jetzt schaffen oder meine Chancen für immer aufgeben. Dies ist mein Augenblick.“

„Das Leben ist eine Aneinanderreihung von Augenblicken. Bilde dir nicht ein, dies wäre der einzige. Glaube mir, der Mensch denkt, und Gott lenkt.“ Er nahm ihre Hände in seine. „Wichtig ist unsere Beziehung: die Liebe, die Ehrlichkeit, das völlige Vertrauen. Das erlebt man nicht alle Tage. Das muss beschützt und behütet werden wie eine junge Pflanze.“

„Da bin ich deiner Meinung. Aber meine Karriere bedeutet mir viel. Warum sollte ich deiner Meinung nach eine Wahl treffen müssen?“

„Ich habe geglaubt, meine Position in der Architekturfirma in Chicago bedeute mir alles. Doch was ich dafür aufgegeben hatte, merkte ich erst, als ich heimkam. Mein Bruder war mir fremd geworden. Er wandte sich nicht mal an mich, als er herausfand, dass er sterbenskrank war. Was glaubst du, wie ich mich dabei gefühlt habe? Was bedeutet Karriere angesichts einer solchen Tragödie? Ich hatte ihn im Stich gelassen, als er mich am meisten brauchte.“ Er presste die Augen zusammen, und Charlotte umarmte ihn.

„Am schlimmsten ist, dass er unseren Eltern eine Lüge vorlebt“, fuhr er fort. „Mein Vater und meine Mutter wollen seine Homosexualität nicht wahrhaben. Sie verschließen die Augen vor seiner Krankheit – genau wie ich es getan habe. Er kann sich nicht überwinden, offen mit ihnen zu reden, weil er Ablehnung fürchtet. Er schweigt, obwohl ihn die Krankheit vielleicht umbringt. Ich weiß als Einziger davon.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hasse solche Lebenslügen. Wir sind eine Familie, wir sollten ehrlich miteinander umgehen.“

Mit heftigem Herzklopfen ermahnte sie sich, Michael endlich die Wahrheit zu sagen. Jetzt oder nie.

„Michael, du hasst Bobby nicht etwa dafür, dass er es dir gesagt hat? Weil er dir damit Sorgen und Probleme bereitet?“

„Bobby hassen? Natürlich nicht. Er war ehrlich zu mir, damit kann ich leben. Ich hasse meine Eltern, weil sie Bobby das antun. Weil sie ihn zu der Lüge zwingen.“

Sie öffnete den Mund, ihm alles zu erzählen. „Michael, ich …“

„Was?“ Er hob ihr Kinn an und sah ihr in die Augen.

Sie zögerte. „Ich liebe dich.“

Er sah sie liebevoll an. „Warte hier“, bat er, stand auf und ging zu seiner am Boden liegenden Kleidung.

Charlotte beobachtete ihn. Er war wunderbar, und sie liebten sich so sehr. Warum konnte sie es ihm dann nicht sagen?

Er suchte in den Jacketttaschen und zog ein Schmuckkästchen heraus. Er klappte den Deckel auf, entnahm ihm einen Ring und kehrte zu ihr zurück.

„So hatte ich es eigentlich nicht geplant“, begann er, sobald sie wieder in seinen Armen lag, und hielt den Ring an ihre Hand. „Damals in Maine, als ich dich fast verloren hätte, wurde mir klar, dass du mein Leben bist. Wirst du meinen Ring tragen, Charlotte? Willst du mein Leben teilen?“

Charlotte starrte den Marquis-Diamanten, der zwischen seinen Fingern glitzerte, verblüfft an. Sie hatte nicht erwartet, dass diese Entscheidung so rasch auf sie zukam. Es ging zu schnell. Er wusste noch nicht einmal genau, wer sie war. Er hatte das Recht, es zu erfahren, ehe sie ihre Entscheidung traf. Aber wie konnte sie jetzt das Risiko einer Beichte eingehen und Gefahr laufen, ihn vielleicht zu verlieren?

Entscheidend ist unsere Beziehung, Charlotte. Die Liebe, die Ehrlichkeit, das völlige Vertrauen. So etwas erlebt man nicht alle Tage.

Sie liebte ihn von Herzen. Und er liebte sie, Charlotte Godfrey, und so sollte es bleiben. Er kannte keine andere. Und Charlotte Godfrey würde ehrlich mit ihm sein. Immer. „Ja“, antwortete sie mit Tränen in den Augen. „Natürlich will ich.“

Er steckte ihr den Ring an den Finger und umarmte sie.

Sie hielt ihn fest umschlungen und wünschte sich, diesen Moment nie zu vergessen. Nach einer Weile blickte sie ihm über die Schulter, streckte die Hand aus und bewunderte den Ring.

„Mrs. Michael Mondragon“, sagte sie und testete den Klang des Namens. „Charlotte Mondragon. Mrs. Mondragon …“ Sie machte eine Pause und lachte hell auf. „Mon dragon. Natürlich! Mein Drache. Warum bin ich nicht eher darauf gekommen? So werde ich dich nennen. Mein Drache. Du bist mein Drache, weißt du?“

„Wie das?“

„Du forderst mich heraus. Durch dich habe ich meine Einsamkeit besiegt.“ Ihre Stimme wurde sanft. „Du hast mich wieder an Träume glauben lassen.“

Er küsste ihr die Wange und drückte sie an sich.

„Ich dachte eher, ich hätte dein Feuer entfacht.“

Sie lachte herzlich, drehte sich in seinen Armen, streichelte ihm die Hüften und zeigte ihm, wie Recht er hatte.

Das Telefon läutete vier Mal, ehe sie Helenas Stimme hörte.

„Mama? Mama, ich bin es, Charlotte.“

Keine Antwort, aber sie hörte ein scharfes Einatmen. Sie hielt den Hörer mit beiden Händen fest und flehte, ihre Mutter möge etwas sagen.

„Mama, ich habe gute Neuigkeiten. Ich werde heiraten! Freust du dich nicht, Mama? Ich habe schließlich jemanden gefunden. Er ist wunderbar. Freundlich, fleißig. Er wird gut für mich sorgen, Mama. Wir werden in der Kirche heiraten. Und …“ Sie sprach weiter, da sie keine Antwort hörte. „Ich habe ein Haus gekauft. Ist das nicht wunderbar? Du kannst bei mir leben. Bei uns.“

Stille am anderen Ende. Tödliches Schweigen. Charlotte umklammerte den Hörer.

„Bitte sag etwas, Mutter. Bitte! Du fehlst mir so sehr.“ Ihre Augen schwammen in Tränen, und ihre Stimme brach. „Mama?“

Es klickte in der Leitung, dann kam der Summton. Charlotte legte den Hörer auf die Gabel, senkte den Kopf in die Hände und weinte.

Freddy kochte vor Wut, als Charlotte ihm den Ring zeigte und ihm von ihrer Verlobung erzählte. Diesmal war er jedoch so klug, seine Gefühle zu verbergen. Charlotte würde bald ihre erste Hauptrolle spielen, und die ersten Kritiken über ihre Arbeit in American Homestead waren sehr positiv. Man sprach bereits darüber, wie brillant sie im gerade abgeschlossenen Ein Tag im Herbst war. Sie war definitiv in aller Munde. Sie war der aufgehende Stern, und die Angebote mehrten sich.

Der größte Knüller war der neue Film, eine Neuverfilmung von Camille. Der außergewöhnliche Regisseur Joel Schaeffer hatte dieses Projekt schon länger vorbereitet. Charlotte hatte die Rolle der Marguerite bekommen und Hollywoodgrößen wie Ryder, Thurman und Stone aus dem Rennen geschlagen. Es war eine Traumrolle, ein richtiges Sahnestück. Charlotte war wie geschaffen dafür, und Schaeffer war Genie genug, es zu erkennen.

Also wollte Freddy im Augenblick nur, dass Charlotte glücklich war. Es hatte wenig Sinn, jetzt im Schmutz zu wühlen – und als solchen betrachtete er Michael Mondragon.

„Hör mir zu, Baby“, sagte er und streckte eine Hand aus, Handfläche nach oben. „Ich habe dir noch nie einen schlechten Rat gegeben. Du musst diese Verlobung geheim halten.“

Charlotte schüttelte verneinend den Kopf.

„Es ist mir ernst. Es ist der falsche Zeitpunkt.“ Verärgerung und aufkommende Panik klangen in seiner Stimme an, doch er versuchte es zu verbergen. „Wir haben ein Abkommen, du und ich. Ich habe meinen Teil eingehalten. Ich sagte dir, dass es schwer werden würde. Ich sagte dir, dass du mir vertrauen musst. Du hast mir deine Hand gegeben. Du hast geschworen.“

„Ja, ich weiß.“

Damit hatte er sie. Sie war eine zu anständige Person, als dass sie ihr Wort brechen würde. „Nur noch eine Weile, Baby. Dieser Film wird ein Kassenschlager. Sag deinem Matador, dass er sich ein bisschen abkühlen soll. Die Verlobung ist abgeblasen.“

„Nein, ist sie nicht!“

„Zumindest wird der Ring abgezogen. Herrgott, Charlotte, bei deinem Aussehen könntest du einen Ring von der dreifachen, vierfachen Größe bekommen.“

Charlotte blickte auf den einkarätigen Diamanten und dachte, dass sie keinen anderen wollte. „Ich trage ihn um den Hals“, erwiderte sie störrisch.

Freddy wusste, wann er aufgeben musste. Er hatte so viel herausgeholt, wie er konnte. Mondragon war der Feind. Jedoch hatte er diese Schlacht gewonnen, und er hatte vor, auch den Krieg zu gewinnen.