13. KAPITEL
Charlotte starb mehrmals an diesem Tag.
„Schnitt!“ Der Regisseur riss sich die Baseballkappe vom Lockenkopf und wischte sich mit dem Arm die Schweißperlen von der Stirn. „Gut, Charlotte, mach eine Pause. Wir versuchen es in einigen Minuten noch mal.“ Er sprach leise, als versuche er, einen Zornausbruch zu unterdrücken.
Dann ging er wie ein wütender Stier auf Melanie los, die nervös auf ihren hohen Hacken neben Charlotte auf und ab trippelte. Dank der ungewöhnlich warmen Oktobersonne schwitzten sie beide in ihren Hausmädchenuniformen des neunzehnten Jahrhunderts aus schwarzer Wolle und weißer Baumwolle.
„Melanie, du bist eine Idiotin!“ schnauzte er sie, für ihn untypisch, an. Normalerweise war George Berman ein freundlicher, angenehmer Regisseur, der seine Schauspieler ermutigte, ihren eigenen Weg durch die Szene zu finden. Melanie jedoch hatte seine Geduld mit ihrem täppischen Auftritt überstrapaziert. Seine und die aller Kameraleute, Schminkkünstler und Kostümdesigner, ganz zu schweigen von den Leuten für die Spezialeffekte.
Sie hatte nur eine sehr kleine Rolle mit ein paar Zeilen Text in einer früheren Szene und vier Zeilen in dieser Todesszene, doch das schien sie zu überfordern. Charlotte glaubte zwar nicht, dass George es Melanie einfacher machte, indem er sie nach der letzten geschmissenen Szene eine Idiotin schimpfte, aber sie konnte ihn verstehen. Melanie hatte nichts weiter zu tun, als zu ihr zu eilen, nachdem sie von ihrem Liebhaber niedergeschossen worden war, und sie zu halten, während sie anmutig ihr Leben aushauchte. In der letzten Stunde war sie bereits fünf Mal zu Boden gegangen. Bei den letzten drei Malen war dabei jeweils eine kleine Phiole mit Kunstblut aufgegangen und hatte ihr Kleid getränkt.
George rief die Kostümbildner herbei und zeigte auf Melanie. „Sie sieht wie eine kokette Nutte aus, wenn sie aus dem Haus rennt. Zieht ihr diese verdammten Schuhe aus. Was? Es ist mir egal, ob sie barfuß geht. Hindert sie nur daran, herumzuhopsen, als wäre das eine verdammte Tanznummer!“
Rot vor Scham, ließ Melanie sich von zwei Kostümassistenten fortführen und entschuldigte sich bei George, Charlotte und allen Anwesenden.
Charlotte begab sich seufzend in den Schatten eines alten, herbstlich leuchtenden Ahornbaumes. Gegen die raue Rinde gelehnt, rieb sie sich die neuen blauen Flecke auf Armen und Beinen. Ein leichter Kopfschmerz begann in ihren Schläfen zu pochen. Einer von der Sorte, der dann tagelang nicht nachlässt. In letzter Zeit wurde sie häufiger von diesem seltsamen Schmerz geplagt. Ihr fehlten ihr Zuhause, Michael und die Ruhe, die sie in seinen Armen fand.
Hier hatte sie kaum einen Moment für sich. Ständig wurde sie von Assistenten umringt, die ihr Kostüm, Haare und Make-up richteten. Dann war da noch der schmalhüftige Junge, dessen einzige Aufgabe es war, dafür zu sorgen, dass sie genügend trank. Das war Freddys Anweisung, seit ihre Kopfschmerzen begonnen hatten.
„Also wirklich“, bemerkte der zwergenhafte Maskenbildner und tupfte noch mehr Puder auf ihren Arm, „das wird ein fürchterlicher Bluterguss. Kannst du nicht verlangen, dass sie dich wenigstens auf Gras fallen lassen? Bevor diese Tussi die Szene richtig hinkriegt, bist du schwarz und blau.“
Charlotte schloss die Augen und hatte Mitgefühl mit Melanie. Seit sie hier waren, beklagte sie sich über die Winzigkeit ihrer Rolle und dass sie nur in wenigen Szenen auftrat. Zugleich sparte sie nicht mit scharfzüngiger Kritik an ihr, weil ihre Rolle an Umfang zunahm.
Die Dreharbeiten für Ein Tag im Herbst neigten sich dem Ende zu, doch diese Szene war die schlimmste bisher. Melanie verpasste ihren Einsatz, stolperte und schwang Busen und Hinterteil wie eine Cancan-Tänzerin. Sie begriff einfach nicht, dass es sich um einen ernsthaften historischen Film handelte und diese Szene der tragische Höhepunkt einer ungleichen Liebe zwischen einem Studenten aus der Oberschicht und einem leidensfähigen Stubenmädchen war und nicht irgendeine Bettgeschichte.
„Ich glaube, sie schafft das nicht“, sagte George und kam mit der Mütze in der Hand zu ihr. „Ich weiß, sie ist deine Freundin, und Walen hat da irgendeinen Deal abgeschlossen, aber ich kann mir diesen Mist nicht leisten.“
„Gib ihr noch eine Chance“, bat Charlotte. Melanie brauchte diesen Film. Sie hatte seit über einem Jahr nicht gearbeitet.
Als Antwort warf George ihr einen hingebungsvollen Blick zu. Seit Beginn der Dreharbeiten versuchte er sie zu verführen. Um Melanies Willen kam sie näher und legte ihm vertraulich eine Hand auf die Brust. „Bitte, George, lass uns noch einen Versuch machen.“
Er beugte sich vor und legte seine Hand über ihre. „Du bist nicht zu müde?“
Sie schüttelte den Kopf und ignorierte die schmerzende Stelle am Bein, wo sie beim letzten Sturz aufgeschlagen war. Melanie hatte Recht: Schönheit war Macht. Und die Macht ihrer Schönheit verblüffte sie immer wieder. Sie lernte gerade erst, sie einzusetzen. „Es geht mir gut. Lass mir noch eine Minute, dann bin ich bereit, wieder zu sterben. Für dich.“
Er betrachtete sie verträumt. „Du bist erstaunlich, weißt du das? Nicht viele Schauspieler arbeiten von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends durch, ohne zu jammern.“ Er tätschelte ihr die Hand und sah sie so verliebt an, dass es schon peinlich war. „Wie wäre es mit Dinner, nachdem wir hier fertig sind? Du siehst aus, als könntest du ein gutes Steak vertragen.“
Die Assistenten, die sie umgaben, trollten sich und verdrehten die Augen.
„O George, nach den Dreharbeiten bin ich erledigt. Ich bestelle mir eine Suppe aus der Küche und falle ins Bett. Aber danke für die Einladung. Vielleicht morgen.“ Er versuchte nicht mal, seine Enttäuschung zu verbergen, und nickte nur knapp. In Hollywood waren die Egos zerbrechlich wie dünnes Glas.
„Fünf Minuten!“ rief er an alle gerichtet. „Ich möchte dieses Licht ausnutzen.“
Er stürmte an Melanie vorbei, die wegen der zu großen, aber flachen Schuhe, in die sie schlüpfen musste, schäumte.
„Er hasst mich“, jammerte sie und kam zu Charlotte.
„Nein, aber er verabscheut, wie du läufst, Mel.“ Sie berührte Melanie an der Schulter. Das Wollkostüm wärmte und kratzte, und Melanie schwitzte heftig. „Stell dir vor, du wärst ein Mann, wenn du läufst. Nimm die Schultern vor und wackele nicht so mit den Hüften.“
„Warum sollte ich das tun? Meine Art, mich zu bewegen, ist mein größter Vorzug.“
Charlotte presste die Finger auf die Lider, den Druck zu lindern, der sich dort aufbaute, und zerstörte ihren Lidstrich. „Weil du ein Hausmädchen aus dem neunzehnten Jahrhundert bist, das soeben gesehen hat, wie seine Freundin auf der Straße niedergeschossen wurde. Da ist man nicht aufreizend, sondern entsetzt. Und da läuft man wie eine Entsetzte.“
Melanie zog sich beleidigt zurück. „Das tue ich ja. Nur weil du es anders machen würdest, heißt das nicht, dass ich es falsch mache.“
Charlotte seufzte und fürchtete das Schlimmste. Melanies Voreingenommenheit beschädigte ihre Urteilskraft, und sie konnte nichts dagegen tun.
„Aufnahme!“ rief George.
Zu spät. Jetzt kam es auf Melanie an. Sie begab sich bereits auf ihre Position und schwang die Hüften wie Mae West. Ihre Unbelehrbarkeit beschleunigte ihren Untergang. Es war schwer, tatenlos dabei zu stehen und das mitzuerleben. Aber Melanie hätte jeden weiteren Ratschlag als belehrend oder herablassend abgelehnt. Charlotte erkannte ihre Machtlosigkeit, wandte den Blick ab und konzentrierte sich auf ihre Rolle. Während der Maskenbildner ihr den Schweiß abtupfte und den Lidstrich reparierte, ging sie mit geschlossenen Augen in sich und verwandelte sich allmählich in das Hausmädchen Laura.
Als sie die Augen aufschlug, dachte sie nicht mehr an Melanie. Techniker und Assistenten, Hunderte starrender Augen, triviale Kommentare, das alles verschwand aus ihrer Wahrnehmung. Wie zu einer inneren Musik ging sie auf ihre Position in der Mitte des College-Platzes und blickte gelassen zu den efeubewachsenen Wänden aus dem achtzehnten Jahrhundert, die sie umgaben. Die Pferdekutschen, die langen Kleider, die Krawatten, die Spazierstöcke und die zahllosen anderen historischen Details halfen zusätzlich, sich in die Laura jener Zeit zu verwandeln.
Laura betrat die Szene. Sie verließ eilig das College, um aus der Stadt zu fliehen. Ihr Liebhaber war besessen und suchte nach ihr. Sie bangte um ihr Leben.
Stille senkte sich über den Drehort, die Kameras begannen zu surren. Und da war ihr Liebhaber, Charles, gut aussehend, vertraut und doch mit Wahnsinn im Blick. Er zog eine Waffe, sie schrie. Er schoss, und Laura fiel zu Boden. Sie unterdrückte einen Schmerzlaut, als sie wieder auf denselben Stein aufschlug wie vorhin. Reglos lag sie da, während ringsum Aufruhr entstand. Plötzlich hörte sie George gequält aufschreien: „Idiotin!“
Am Abend konnte Charlotte Melanie nicht finden, weder im Restaurant des Hotels, das die Filmgesellschaft für die Dreharbeiten belegt hatte, noch in ihrem Zimmer, noch in der Halle oder an anderen Orten, die Schauspieler und Mannschaft frequentierten. Es war bereits neun, und es gab in einer kleinen College-Stadt wie dieser mit engen Straßen und kleinen, früh schließenden Geschäften kein Lokal mehr, in das man gehen konnte.
Charlotte war besorgt. Eine innere Stimme drängte sie, nach ihrer Freundin zu suchen. George hatte Melanie völlig entnervt aus dem Team geworfen. Freddy war auf dem Weg von L.A. hierher, um die Scherben zu kitten, und sie wollte mit Melanie sprechen, ehe Freddy ihr den Marsch blies. Was Melanie jetzt brauchte, war eine Freundin und keinen wütenden Agenten.
Sie suchte weiter in dem alten Hotel, das schon bessere Tage gesehen hatte. Verunsichert durchwanderte sie die Räumlichkeiten mit den abblätternden Tapeten und fadenscheinigen Teppichen. Ein schaler Geruch wie nach altem Bier hing in der Luft. Eilig nahm sie die kleinen Räume mit Süßigkeiten und Eisautomaten in Augenschein. Fehlanzeige. Sie gelangte in einen heruntergewirtschafteten Saal mit dunkler Täfelung und Neonreklamen für verschiedene Biersorten. Die Filmcrew spielte hier Poolbillard oder Poker oder langweilte sich beim Trinken.
„Hat jemand Melanie Ward gesehen?“
Es gab ein paar sexistische Bemerkungen darüber, dass jeder Melanie irgendwann schon mal gesehen habe. Jemand durchbrach immerhin das anzügliche Lachen und erklärte, er habe sie Richtung Strand gehen sehen. Charlotte fröstelte in düsterer Vorahnung und eilte davon.
Von der hinteren Hotelveranda führten ein paar morsche Holzstufen zum Strand hinunter. Daran schloss sich ein düsterer, nach verwesendem Fisch stinkender Sandstreifen an, übersät mit Seetang und zerbrochenen Muscheln. Die Salzluft stach ihr in die Wangen und peitschte durch ihren dünnen Pullover. Frierend schlang sie die Arme um sich und starrte suchend in die Dunkelheit. Sterne glitzerten am klaren Himmel und spiegelten sich im Ozean wie Diamanten.
Charlotte blickte nach rechts und links, niemand weit und breit. Sie stieg die Stufen hinab und ging über den dunklen, verlassenen Strand. Nach etlichen Schritten glaubte sie in der Ferne eine Bewegung zu erkennen, eher einen Schatten. Sie kniff die Augen leicht zusammen und entdeckte hellblondes Haar, das im Mondlicht fast weiß schimmerte. Die Gestalt war in fließenden schwarzen Stoff gehüllt, möglicherweise das Hausmädchenkostüm. Es umgab sie wie eine Decke, da sie es weit über die Knie hinabgezogen hatte. Auf einem Stück Treibholz kauernd starrte die Gestalt auf den Ozean hinaus.
„Melanie!“ rief Charlotte, stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte mit den Armen.
Melanie drehte den Kopf in ihre Richtung und stand langsam auf.
Unendlich erleichtert, sie gefunden zu haben, ging Charlotte schneller. Sie musste schleunigst mit Melanie reden.
Melanie wandte den Kopf ab und starrte wieder auf die See hinaus. Gemessenen Schrittes ging sie darauf zu und blieb nicht stehen, als das Wasser ihre nackten Füße umspülte. Wie jemand in tiefer Trance bewegte sie sich immer weiter vorwärts. Die Wellen erreichten ihre Schenkel und hoben den Saum ihres Kostüms an.
„Melanie!“ schrie Charlotte voller Panik. Mein Gott, sie bleibt nicht stehen! Sie geht hinein! Sie rannte los, den Blick auf Melanie geheftet, um in der Dunkelheit nicht ihr Ziel zu verfehlen.
„Ihr Name, Sir?“
„Michael Mondragon.“ Er stellte die Reisetasche ab, straffte die Schultern und sah sich in dem alten Hotel um. Er hätte nicht angenommen, dass Filmleute in solchen Absteigen hausten.
Der Empfangschef beäugte ihn argwöhnisch. „Tut mir Leid, Sir, aber das Hotel ist ausschließlich für Schauspieler und das Filmteam von Ein Tag im Herbst reserviert.“
Leicht stirnrunzelnd hörte Michael den Stolz des Mannes heraus, weil er, wenn auch auf dieser profanen Ebene, mit dem Film in Verbindung stand. Er erwiderte ungerührt: „Ich bin ein Freund von Miss Godfrey.“
Der Angestellte schmunzelte skeptisch. „Wiederum tut es mir Leid, Sir, aber ich kann Sie nicht aufnehmen, bis ich persönlich mit Miss Godfrey gesprochen und ihr Okay eingeholt habe.“
„Fein“, fiel Michael sofort ein, ehe der Mann ihm vorschlagen konnte, in ein anderes Hotel zu ziehen. „Können Sie mir sagen, wo sie ist?“
Das blasse Gesicht des Mannes rötete sich. „Es steht mir nicht zu, diese Auskunft zu erteilen.“
Dummer kleiner Kerl, dachte Michael. Er hasste solche Typen. „Verstehe“, erwiderte er monoton. „Übergeben Sie ihr freundlicherweise diese Mitteilung. Haben Sie eine Bar, in der ich warten kann?“
Der Empfangschef nahm die Botschaft unbewegt entgegen. Allmählich schien er zu befürchten, der Mann könne tatsächlich ein Freund von Miss Godfrey sein, den er vielleicht verärgert hatte. Er schwenkte um auf lächelnde Freundlichkeit, bot ihm an, die Reisetasche hinter dem Tresen zu verwahren, und geleitete ihn zur Bar, wo er ihm eine Marke für einen Gratisdrink gab.
Michael dankte ihm, warf einen Blick durch den rauchgeschwängerten Raum und wusste, dass ihm ein Spaziergang mehr brachte als ein Drink. Er steckte die Marke ein und verließ das Hotel durch die Hintertür.
Melanie ging weiter, obwohl das Wasser bereits Hüften und Taille umspülte. Charlottes Flehen ignorierend, bewegte sie sich weiter vorwärts. Charlotte sah, wie die Wellen sie anhoben. Eilig zog sie Schuhe und Pullover aus und warf sich in den eisigen Ozean. Die Kälte verschlug ihr für einen Moment den Atem. Dann kraulte sie in die Dunkelheit hinein, auf die im Wasser treibende Gestalt zu.
Sie erreichte Melanie, als deren Kopf gerade unter der Wasseroberfläche versank. Charlotte hielt die Luft an und tauchte. Mit einigen Beinstößen verlieh sie sich Geschwindigkeit. Dabei tastete sie mit den Händen in dem dunklen eisigen Wasser umher, um irgendetwas von Melanie zu erfassen. Ihre Lungen brannten bereits, und leichte Panik stieg in ihr auf. Es gab nur diese eine Chance für sie. In dieser Finsternis würde sie Melanie nie wieder finden. Bitte, Gott!
Plötzlich streifte ein Stück Wolle ihre Finger. Sie griff danach und hielt eine Hand voll Stoff fest. Sie zog, erwischte einen Arm und zerrte ihn samt Körper nach oben. Mit brennenden Lungen tauchte sie keuchend auf. Melanie neben ihr schlug hustend um sich und traf mit dem Handrücken ihren Kiefer. Ein heftiger Schmerz schoss Charlotte hinauf bis ins Hirn.
„Hör auf!“ schrie sie nach Atem ringend. „Ich bin es! Beruhige dich!“
Doch Melanie tobte wie eine wild gewordene Katze und schrie: „Nein, nein, nein!“
Charlotte spürte ihre Kräfte schwinden. Die Kälte betäubte sie bereits. Ihr Kiefer schmerzte. Sie hielt nicht mehr lange durch. Aber sie musste.
Michael schlug gegen die beißende Kälte den Mantelkragen hoch. Eine Kaltfront zog heran und verlieh dem Wind Schärfe. Das Wetter hier in Maine erinnerte ihn an Chicago. Er hatte ganz vergessen, wie kalt Wind sein konnte. Er wollte schon zum Hotel zurückkehren, als er aus der Ferne einen Schrei hörte. Er sah sich um, doch der Strand wirkte verlassen. Er blieb stehen und wartete ab. Ein weiterer gellender Schrei, er schien aus dem Wasser zu kommen. Michael lief los.
Kurz vor dem Wellensaum entdeckte er zwei Gestalten nicht allzu weit draußen. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass es Frauen waren. Sie schienen miteinander zu kämpfen. Er wusste, dass Ertrinkende in ihrer Panik oft genug ihre Lebensretter mit in die Tiefe rissen. Genau das schien hier zu passieren. Er lief weiter. Etwas an dieser Frau kam ihm bekannt vor …
Als er das Wasser erreichte, schlug sein Herz vor Angst im Hals. „Charlotte!“ rief er. Mein Gott, nein!
Er riss sich Schuhe und Jackett herunter und sprang ins Wasser. Mit kräftigen Kraulzügen näherte er sich den Frauen. Es blieb nicht viel Zeit. Er griff nach Charlotte und entriss sie Melanies schlagenden Armen.
„Melanie, nein!“ rief sie schwach und spuckte Wasser. „Ich bin okay. Halte sie auf … halte …“
Auch Melanie hustete jetzt, die Augen entsetzt geweitet.
Plötzlich verstand Michael. „Schwimm zum Strand zurück!“ rief er Charlotte zu. „Sofort!“ befahl er streng, da sie zögerte.
Um ihn nicht zu behindern und kaum in der Lage, den Kopf weiter über Wasser zu halten, gehorchte sie und schwamm mit tauben Gliedern durch die eisigen Wogen, die ihr die letzte Lebenskraft aus dem Körper sogen.
Michael griff nach Melanie. Als sie ihn schwächer werdend abwehren wollte, versetzte er ihr einen Kinnhaken. Dann zog er den schlaffen Körper an Nacken und Schultern Richtung Strand. Im Flachwasser ließ er sie los und übergab sie Charlottes wartenden Armen.
Melanie kam zu sich, rappelte sich hoch und taumelte aus dem Wasser auf den Strand, wo sie auf die Knie sank. Ein Bild des Jammers. Keiner sprach. Das Entsetzen über die Beinah-Katastrophe machte sie sprachlos.
Michael zog Charlotte in die Arme, die vor Kälte und Schock unkontrolliert zitterte. Als er sich klar machte, dass er sie fast verloren hätte, war er einer Ohnmacht nahe. Es war unvorstellbar für ihn, ohne sie leben zu müssen. Sie bedeutete ihm alles.
„Du bist da“, sagte Charlotte immer wieder verwundert.
„Ich bin immer für dich da“, flüsterte er und presste sie liebevoll tröstend an sich. „Immer.“
„Warum habt ihr mich nicht in Ruhe gelassen?“ stöhnte Melanie neben ihnen. Auch sie zitterte heftig vor Kälte.
Charlotte löste sich von Michael und schlang Melanie einen Arm um die schmalen Schultern. Sie wirkte so klein, fast kindlich. „Ich lasse nicht zu, dass du dein Leben so wegwirfst“, sagte sie mitfühlend. „Nicht für einen Film, Mel. Es gibt so vieles, wofür sich zu leben lohnt, auch für dich.“
„Was denn? Ich habe nichts, wofür ich leben könnte.“ Sie schwankte und verzog weinerlich das Gesicht. „Ich bin ganz allein.“
„Du hast alles, was du brauchst. Ich mag dich, Mel, ich bin deine Freundin. Und ich bin für dich da.“
Melanie schluchzte und wischte sich schroff mit den Händen das Gesicht. Dann richtete sie sich auf, stieß Michaels helfende Hand zurück und wankte ein paar Schritte wie eine Betrunkene. Mascara lief ihr über das Gesicht, und das Haar klebte ihr an der Stirn.
Michael und Charlotte sahen besorgt, wie sie schwankend stehen blieb und nicht wusste, wohin sie sich wenden sollte.
„Ich schäme mich so“, sagte sie mit hoher Stimme. Als sie in Tränen ausbrach, geschah es nicht in Hysterie, sondern als Ausdruck tiefen Kummers. Ihr heftiges Zittern wurde zu einem Mitleid erregenden Zucken der Schultern.
Charlotte ging zu ihr und legte noch einmal den Arm um sie. „Lass uns hineingehen, damit du dich aufwärmen kannst. Da lässt sich auch besser reden.“
Sie sah zu Michael, der in der Dunkelheit abwartete, was er tun, wie er helfen könnte. Sie liebte ihn mehr denn je für sein Mitgefühl.
Ihre Blicke begegneten sich, und er verstand ohne viele Worte, was zu tun war. Er nickte kurz, sammelte die Schuhe ein, legte Melanie sein Jackett um die Schultern und nahm ihren Arm, während sie den Rückweg zum Hotel antraten. Gemeinsam brachten sie Melanie, vorbei an neugierigen Blicken und unsensiblen Kommentaren über verrückte Filmleute, die um diese Jahreszeit noch im Ozean schwammen, durch die Lobby, hinauf in Charlottes Zimmer.
Nachdem Melanie heiß gebadet und in Charlottes Nachthemd im Bett saß, brachte Charlotte ihr eine Tasse Kräutertee und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Melanie kuschelte sich frierend unter die Decke und sah aus wie eine zerbrechliche kleine Puppe.
„Ich komme mir vor, als wäre ich noch im Wasser“, sagte sie leise mit leerem Blick. „Ich versinke immer noch in Dunkelheit.“
„Tust du nicht“, widersprach Charlotte und hielt ihre Hand. „Ich bin hier. Ich lasse dich nicht los.“
Sie sah Charlotte fragend an. „Warum tust du das? Du hast dein Leben riskiert. So gut kennst du mich nicht. Du schuldest mir nichts.“
„Du bist meine beste Freundin.“
Tränen traten Melanie in die Augen. Sie setzte die Teetasse ab, dass das Geschirr klapperte. „Ich kann nicht glauben, was ich getan habe. Ich hätte dich mit in die Tiefe reißen können.“
„Schsch. Denk nicht darüber nach.“ Charlotte nahm ihr die Teetasse ab und stellte sie auf den Nachttisch. „Du warst außer dir. Du wusstest nicht, was du tust.“ Nach einer Pause: „Mel, Selbstmord ist keine Lösung. Das weißt du, oder?“
„Ich habe mehr Angst vor dem Alleinsein als vor dem Tod.“
„Du bist nicht allein. Ich bin immer für dich da. Deshalb hat man doch Freunde, oder?“
Melanie senkte den Blick, knüllte die Bettdecke mit den Fäusten und zog sie sich schließlich unters Kinn. „Freunde … eine schöne Freundin bin ich.“ Sie schluchzte und bekam einen Schluckauf.
„Du bist eine wunderbare Freundin, lustig und spontan. Du hast ein großes Herz und kennst tolle Make-up-Tipps.“ Charlotte lächelte, als Melanie nur verächtlich schnaubte. „Ich war ein schreckliches Mauerblümchen, bis du mir gezeigt hast, über mich und die Welt zu lachen. Ich weiß, dass ich auf dich zählen kann. Bei dir kann ich herausplappern, was mir auf der Seele brennt, ohne mir Sorgen zu machen, dass ich es irgendwann bereue. Ich kann lachen, weinen, fluchen oder mich mit Kartoffelchips und Eisreme voll stopfen und mich dabei gut fühlen. Ich weiß, dass ich dich jederzeit um Hilfe bitten darf. Du hast mir die Bedeutung von Freundschaft beigebracht.“ Sie nahm Melanies Hand.
Melanie drückte ihr nur stumm die Hand, zu gerührt, etwas zu sagen. Nach einer Weile gestand sie: „Ich weiß, ich war in letzter Zeit ein Ekel. Es tut mir sehr Leid. Ich hatte plötzlich das Gefühl, alles zu verlieren, mein Aussehen, meine Karriere … und dann zu sehen, wie rasant es mit dir bergauf ging … Ich war einfach neidisch. Es war nicht deine Schuld, das weiß ich, aber ich konnte nicht anders. Du hast Michael, du hast Talent, und du bist so verdammt hübsch. Ich glaube, darauf bin ich am meisten eifersüchtig.“
„Hör auf, du musst das nicht erklären.“
„Doch, ich will aber. Hübsch zu sein ist für mich sehr wichtig. Ich sehe gern gut aus, und ich genieße die bewundernden Blicke von Männern, wenn ich einen Raum durchquere. Mir wurde erst bewusst, wie viel Aufmerksamkeit ich erregte, als die Aufmerksamkeit nachließ. Wenn ich jetzt in den Spiegel schaue, kann ich nicht glauben, was ich sehe. Die Haut sackt nach unten, ich bekomme Zornesfalten um die Augen. Ich sehe müde und abgearbeitet aus. Aber die größte Angst macht mir, dass ich ungeachtet von Facelifting und Bauchstraffung eine Frau in mittleren Jahren bin. Meine Karriere ist zu Ende. Ich bin allein. Ich kann mich an keine Beziehung klammern. Charlotte, ich habe Angst.“
„Du bist nicht allein. Ich wünschte, du würdest das in deinen Kopf kriegen. Nur weil du älter wirst, ist dein Leben doch nicht zu Ende. Das ist verrückt. Wir altern alle. Das ist das Leben.“
„Du hast leicht reden. Als ich dreiundzwanzig war, dachte ich gar nicht ans Altern. Nicht wirklich. Ich dachte, ich würde immer großartig aussehen, zumindest zehn Jahre jünger als meine gelebten Jahre. Verrate nie dein Alter, war meine Devise. Aber jetzt verrate ich dir, Freundin, ich bin vierzig. Der Tag kommt schneller, als du denkst. Irgendwann schaust du in den Spiegel und erkennst das Gesicht nicht mehr, das dich ansieht. Du betrachtest dich im grellen Licht und denkst, Mist. Was für ein Gesicht ist das bloß? Was glaubst du, was du dann machst?“
Charlotte wandte den Blick ab. Sie wusste genau, wie man sich dabei fühlte, und sie wusste, was sie dagegen getan hatte.
„O Gott, Charlotte!“ jammerte Melanie und schlug die Hände vors Gesicht. „Für was soll ich noch leben? Mein Leben war eine Serie zerbrochener Beziehungen und bedeutungsloser sexueller Kontakte.“ Sie wischte sich schniefend die Augen und lächelte verzagt. „Du bist der einzige Lichtblick, Charlotte. Du sagst, dass ich deine beste Freundin bin. Die Wahrheit ist, du bist die einzige richtige Freundin, die ich je hatte.“
Sie umarmten sich weinend und fühlten sich so eng verbunden wie Schwestern. Charlotte dachte an Dr. Harmons Warnung, niemandem von ihrer Schönheitsoperation zu erzählen. Sie wusste, wenn etwas über ihre Verwandlung herauskam, war ihre Karriere vorbei, ehe sie richtig begonnen hatte. Freddy würde sie sofort fallen lassen. Und Michael?
Er saß nebenan und wartete auf sie. Die Ironie ihres Dilemmas war quälend. Konnte sie Melanie die Wahrheit sagen und Michael weiter täuschen? Betrug war als Rolle schwer zu spielen. Sie schwor sich, ihm heute Nacht die Wahrheit zu sagen. Nachdem sie sich geliebt hatten, würde sie in Michaels Armen reinen Tisch machen.
Aber zuerst zu Melanie, die mit geschwollenen Augen verzweifelt ihr Papiertaschentuch zerpflückte. Charlotte sah keine andere Möglichkeit, als das Risiko einzugehen. Die innere Stimme ignorierend, die sie zu schweigen mahnte, setzte sie sich im Schneidersitz auf die Matratze und atmete tief durch.
„Melanie, ich möchte dir etwas über mich erzählen …“
Stunden später deckte Charlotte Melanie warm zu, dimmte das Licht und verließ mit zusätzlichen Decken aus der Kommode das Zimmer.
Michael schlief ausgestreckt auf der Couch, ihr Drehbuch in der Hand. Er sah so gut aus, dass ihr Herz überquoll vor Liebe. Machte ihre Liebe ihn noch attraktiver? Das Haar fiel ihm ins Gesicht und betonte die sinnlich geschwungenen Lippen. Seufzend lehnte sie sich gegen die Tür und hätte gern seine Arme um sich gespürt.
In seiner Umarmung fühlte sie sich geborgen und sicher. Das brauchte sie dringend, so erschöpft, wie sie war. In wenigen Stunden, wenn die Morgendämmerung anbrach, musste sie sich jedoch am Drehort einfinden und ein paar Szenen mit Melanies Ersatz nachdrehen … außerdem stand ihr die Liebesszene mit Brad Sommers bevor. So gern sie die Tür verriegelt, den Telefonstecker herausgezogen und sich zu Michael aufs Sofa gelegt hätte, es ging nicht.
Sie schloss die Augen, vor Müdigkeit und unter der Last ihrer Pflichten schwankend. Ihre Karriere ging vor. George würde ihr nie verzeihen, wenn er nicht morgen die restlichen Szenen in den Kasten bekam.
Müde ging sie zu Michael, nahm ihm das Drehbuch aus der Hand und breitete die Decke über ihn. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, küsste ihm sanft die Wange und verweilte einen Moment, den Geruch seiner Haut aufzunehmen und seinen Atem zu spüren. Gähnend, aber mit der tröstlichen Gewissheit, zwei Menschen im Leben zu haben, denen sie wichtig war – ihrer besten Freundin und ihrem geliebten Michael –, rollte sie sich, in die letzte Decke gekuschelt, im Ohrensessel zusammen und schlief ein.
In dieser Nacht träumte sie von ihrer Mutter. Und als am Morgen der Weckruf kam, damit sie ihre Arbeit begann, waren ihre Wangen feucht von Tränen.
Etwas abseits vom Set stehend, beobachtete Michael am nächsten Morgen Männer und Frauen bei den Vorarbeiten für die Liebesszene. Charlotte lag im Himmelbett, offenbar im Zimmer des reichen jungen College-Studenten, gespielt von Brad Sommers. Die Filmcrew war deutlich ausgedünnt. Alle, die nicht unbedingt dabei sein mussten, waren auf Charlottes Wunsch hin vom Set entfernt worden. Sie war keine Exhibitionistin, und diese Liebesszene machte sie nervös.
„Ich werde nicht nackt sein“, hatte sie Michael versichert, als er darauf bestanden hatte, am Drehtag dabei zu sein. „Aber wird es dir nichts ausmachen, es anzusehen?“
Es war wohl eher eine seltsame Neugier, gepaart mit einem deutlichen Besitzanspruch, die ihn bewogen, hier auszuharren. Er hatte das Drehbuch gelesen und ahnte, wie schwer es ihm fallen würde zuzuschauen.
Er stand jedoch niemandem im Weg, und allein die Vorbereitungen für die Szene zu verfolgen war lohnenswert. Der Regisseur war auf achtzig und schimpfte, mit seiner Kappe wedelnd, während das Team alles Notwendige aufbaute. Eine Kaltfront war herangezogen, und es drohte früher Schneefall. Sie mussten sich beeilen. Zwei Szenen wurden heute nachgedreht, die Wiederholungen mit Melanies Ersatz. Aber zuerst kam die Liebesszene. George wollte alles fertig haben, bevor der bezogene Himmel seine Schleusen öffnete.
Michael fing den Blick des Regisseurs auf, der ihn leicht stirnrunzelnd betrachtete, was ihn wunderte. Dann ging George Berman zum Bett und gab den Schauspielern letzte Anweisungen. Dabei beugte er sich zu Brad Sommers hinunter und flüsterte ihm etwas zu. Michael bemerkte, dass Sommers sich suchend umschaute, bis er ihn entdeckte. Danach sah er den Regisseur an und nickte. Offenbar tuschelten sie über ihn. Eigenartig.
Das Stichwort kam, es wurde still, die Kameras surrten und die Aufnahme begann.
Michael verfolgte aufmerksam, was Charlotte tat. Dabei unterdrückte er den Drang, ihre nackten Schultern zu bedecken, den anderen Mann aus dem Bett zu zerren und sie vor den starrenden Blicken zu schützen. Sie trug ein weißes, mit zarten Rosen besticktes Nachthemd, das mit dünnen langen Bändern unter den Brüsten gehalten wurde. Es glitt herab, entblößte ihre Schulter, ihren langen Schwanenhals und die sanfte Wölbung einer Brust.
Die dunklen Ränder, die sie heute Morgen unter den Augen gehabt hatte, waren dank der Kunst der Maskenbildner verschwunden. Ihr Kopf ruhte auf dem Kissen, das Haar war wellenartig ausgebreitet. Die schlanken Arme waren einladend über den Kopf gereckt. Sie war so schön, dass er sie wie gebannt anstarrte.
Hier, im Licht der Kamera, sah er sie so wie in seinen Träumen der letzten Monate seit ihrer Abreise. So hätte er sie gern letzte Nacht gesehen. Leider war der nackte Mann neben ihr ein Fremder. Die Hand, die ihre Wange streichelte und hinabglitt zu ihrer Schulter, war die eines anderen. Natürlich wusste er, dass es Schauspielerei war, trotzdem war es bitter und schmerzlich für ihn, das mit anzusehen.
Der Mann – Michael weigerte sich, ihm einen Namen zu geben – sprach zärtliche Worte der Liebe. Charlottes verträumter Gesichtsausdruck besagte, dass sie ihm glaubte. Ihr Blick war sehnsüchtig, und ihre Brüste hoben und senkten sich in einer Leidenschaft, die er für sich reserviert glaubte. Sein Körper reagierte wie bei einem primitiven Voyeur, während er zusah, wie ein anderer die Frau streichelte, küsste und liebte, die ihm gehörte.
Richtig wütend machte ihn allerdings die instinktiv gespürte Gewissheit, dass der Mann dort ebenfalls erregt war. Er erkannte es am Zittern der Hände, an der Rötung der Wangen und der Inbrunst des Kusses. An einem bestimmten Punkt hatte das Schauspielern aufgehört und echte Leidenschaft eingesetzt.
Michael beobachtete die anderen am Set. Kamermann, Beleuchter und Regisseur atmeten mit offenen Mündern. Zu seinem Entsetzen hatten alle denselben hingerissenen Gesichtsausdruck, während sich die Liebesszene entwickelte.
Eifersüchtig ballte Michael die Hände. Er wollte die Kameras wegreißen und den Mann erdrosseln, der es wagte, seine geliebte Charlotte zu küssen. Danach wollte er sie wegbringen und ihr mit seiner Leidenschaft klar machen, dass sie ihm gehörte.
Die Szene nahm kein Ende. Wie erstarrt sah Michael, dass der Schauspieler plötzlich Charlottes Nachthemd zerriss. Sie wehrte sich. Als der Mann sich in einer einzigen fließenden Bewegung rittlings auf sie schwang, machte er unwillkürlich einen Schritt vor. Das Laken fiel beiseite und entblößte Charlottes volle Brüste mit den harten dunklen Spitzen.
Michael unterdrückte einen Wutschrei, wandte sich ab und floh an die frische Luft.
Die Szene endete Minuten nach Michaels Weggang. Der Regisseur rief: „Schnitt und fertig!“ Das Team applaudierte erleichtert. Charlotte stieß Brad zurück, zog sich unter das Laken zurück und wickelte sich fest darin ein. Freddy Walen, der in einer dunklen Ecke stand, sah Michael davongehen und schmunzelte zufrieden. Genüsslich hatte er beobachtet, wie Michael während der Szene litt.
Das ist gut, dachte er bei sich, sehr gut sogar. Besser hätte ich es nicht planen können. Männer reagierten in solchen Situationen auf zwei Arten, entweder mit Eifersucht wie Michael, oder sie stolzierten mit geschwellter Brust einher, weil andere sich nach ihrer Frau verzehrten. Eifersucht gefiel ihm besser. Verletzte Gefühle waren leichter zu manipulieren.
Er folgte ihm hinaus und lächelte erneut, als er Michael, Hände in die Taschen gestopft, dastehen sah, das Gesicht eine gequälte Maske. „Was tun Sie denn hier?“ fragte er und kam zu ihm.
Michael streifte ihn mit einem Seitenblick und schlug den Mantelkragen hoch. „Was wollen Sie, Walen?“
„Das wollte ich Sie gerade fragen. Warum hängen Sie dauernd an Charlottes Rockzipfeln? Sie arbeitet hier. Und diese Arbeit geht Sie nichts an!“
„Alles, was mit Charlotte zu tun hat, geht mich etwas an.“
Freddy wurde wütend. Dieser Mann war von einer unverschämten Selbstsicherheit. „Ich habe jedenfalls eine Botschaft vom Regisseur für Sie. Sie gehören nicht an den Drehort. Er will Sie nicht hier haben.“
Michael kam drohend einen Schritt auf ihn zu. Freddy streckte die Brust heraus und wich nicht. Die Gesichter nah voreinander, sahen sie sich wütend an.
„Dann habe ich auch eine Botschaft für ihn“, entgegnete Michael finster. „Sagen Sie ihm, ich habe das Drehbuch gelesen. Und da steht nirgendwo, dass dieser Sommers Charlotte das Nachthemd herunterreißen soll. Richten Sie ihm aus, sein männlicher Hauptdarsteller soll sich lieber an die Rolle halten, wenn er nicht möchte, dass sein Gesicht umgeformt wird. Kapiert?“ Damit machte er kehrt und schritt energisch davon, ohne auf Freddys Erwiderung zu warten.
Freddy verkniff sich eine Antwort und lächelte zufrieden. Er ging zum Set zurück, um nach Charlotte zu sehen. Auch er war wütend über das, was Sommers getan hatte, und wollte mit George darüber reden.
Erleichtert sah er Charlotte in ein Laken gehüllt, wie sie hitzig mit dem Drehbuchautor diskutierte.
„Gute Arbeit, Baby“, sagte Freddy und überraschte sie.
„Freddy, wann bist du angekommen?“
„Rechtzeitig genug, die Szene mit anzusehen.“ Er nahm ihrer Garderobiere den Bademantel ab und reichte ihn Charlotte. „Hier, zieh das über, ehe du dich erkältest. Vor den nächsten beiden Szenen hast du eine Pause. Danach ist alles fertig. Ich habe mir die täglichen Aufnahmen angesehen. Du siehst einfach großartig aus. Das wird ein guter Film für dich.“
Sie schlüpfte in den Bademantel, hörte kaum, was Freddy sagte, und schaute sich suchend nach Michael um.
„Er ist gegangen“, informierte er sie.
Sie sah ihn verblüfft an. „Wer? Michael?“
„Ja, ich denke, er konnte es nicht länger ertragen. Ich kann es ihm nicht verdenken. Du und Brad, ihr seid ein hübsches Paar. Funkt es echt zwischen euch?“
Sie verzog angewidert das Gesicht. „Also wirklich, Freddy, mach keine Witze. Ich kann Brad Sommers nicht ausstehen. Der Mistkerl hat mich in dieser Szene überfallen.“
„He, mach dir deshalb keine Gedanken. Ich kümmere mich darum.“
„Das will ich hoffen.“
„Beruhige dich, Kleines. Der Kerl ist in dich verknallt, und das hat nichts mit Publicity zu tun.“
„Das ist mir egal, ich mag ihn nicht. In der letzten Szene hat er mich fast entkleidet. Was sollte das? Das stand nicht im Drehbuch. Sag ihm, sollte er das noch einmal versuchen, werde ich ihn vor laufender Kamera so treten, dass er Sopran singt. Was er unter den Laken versucht hat, werde ich dir gar nicht erst erzählen. Gottlob hat Michael das nicht gesehen, sonst würde er ihn glatt umbringen.“ Sie sah sich noch einmal besorgt um. „Was hast du gesagt, wo er ist?“
„Wer weiß? Wen interessiert das?“ Er packte sie am Arm und sah sie durchdringend an. „Ich dachte, wir hätten über diesen Mondragon geredet. Er ist nicht gut für deine Karriere. Er ist nicht gut für dich. Er ist nicht dein Typ.“
Sie entriss ihm den Arm. „Und wer bitte ist deiner Meinung nach mein Typ?“
„Jemand wie Sommers. Jemand mit Klasse, mit derselben Klasse, die du hast. He, Mondragon ist ein gut aussehender Bursche. Ich verstehe, warum du ein bisschen Spaß mit ihm haben wolltest, aber genug ist genug. Lass ihn fallen. Diese Sorte können wir hier nicht gebrauchen.“
Sie wandte sich Freddy mit zornig blitzenden Augen zu. „Ich wollte nicht nur ein bisschen Spaß mit Michael Mondragon haben. Er ist der Mann, den ich liebe, und ich erlaube dir nicht, ihn auf diese Art herabzusetzen! Du managst meine Karriere, Freddy, nicht mein Leben. Ich erinnere mich nicht, dich um Erlaubnis gefragt zu haben, und ich höre mir auch keinen zehnminütigen Monolog an, wie ich mein Privatleben zu führen habe. Bisher habe ich mich nach deinen Empfehlungen gerichtet und habe meinen Teil unseres Abkommens eingehalten.“ Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. „Erfülle du deinen Teil. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich möchte mich umziehen und Michael suchen.“
Nach einigen Schritten blieb sie noch einmal stehen und drehte sich um. „Ach, übrigens, und lass Melanie in Ruhe. Sie fühlt sich nicht gut und braucht jetzt keine Gardinenpredigt von dir.“
Freddy war wütend, nicht nur wegen Mondragon, sondern wegen Charlottes Widersetzlichkeit. Ihre Auflehnung missfiel ihm außerordentlich, und ihm war danach, sie zu bestrafen. Ihre Freundschaft mit Melanie Ward bot ihm die ideale Gelegenheit dazu. „Ich habe nicht die Absicht, Melanie eine Gardinenpredigt zu halten, ich lasse sie als Klientin fallen.“
Anstatt missbilligend die Stirn zu runzeln, wie er es erwartet hatte, lächelte Charlotte. „Gut“, sagte sie nur, wandte sich ab, verließ das Set und ließ einen wutschnaubenden Freddy zurück.
Charlotte zog sich rasch um, eilte hinaus und suchte Michael. Sie fand ihn nicht weit vom Hotel auf dem Kiesweg, der zu einem Wäldchen führte.
„Warum hast du nicht auf mich gewartet?“ fragte sie vorsichtig und spürte seine Anspannung. „Ich habe überall nach dir gesucht.“
Er hielt den Blick abgewandt. Seine Haltung war abweisend, sogar feindselig. „Ich brauchte frische Luft.“
„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht zuschauen“, erwiderte sie gereizt und hatte gute Lust, wieder zu gehen.
Als er sie ansah, merkte sie jedoch, dass er nicht nur verärgert, sondern gekränkt war. Das bewog sie zu bleiben.
„Ich wusste nicht, wie sehr es mich verletzen würde, zu sehen, wie du in den Armen eines anderen liegst und auf seine Zärtlichkeiten eingehst.“
„Das habe ich nicht getan!“ begehrte sie auf.
Er packte sie fest bei den Armen. „Du hast. Ich habe es gesehen.“
Sie versuchte, sich zu entziehen, doch er hielt sie fest. „Das war nicht ich, sondern Laura, die Person, die ich gespielt habe. Ich kann meinen Körper nicht einfach abschalten, Michael. Ich bin Schauspielerin, ich muss überzeugend sein. Liebesszenen gehören zu meinem Beruf. Sei nicht so.“
Er riss sie an sich und küsste sie, wie um seinen Besitzanspruch zu betonen. Dabei presste er sie an sich, dass es ihr den Atem nahm. Sie erwiderte den Kuss.
„Du gehörst mir“, flüsterte Michael nach einer Weile.
„Ja … ja“, bestätigte sie leise.
Er wich zurück und verschlang sie regelrecht mit seinem Blick. Sie liebte diese gelegentlichen Ausbrüche heftiger Leidenschaft, die stets gleich endeten.
Michael sah sich um. Linker Hand war das Hotel. Menschen standen plaudernd herum und warteten auf die nächste Szene. Zur Rechten führte der Pfad in das kleine Gehölz. Er nahm Charlotte bei der Hand und zog sie dorthin.
Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, und musste ein Schmunzeln unterdrücken. Michael sah sich nach einem verschwiegenen Platz um, etwas abseits vom Weg, wo sie nicht gestört wurden. Rechts entdeckte er eine Ansammlung immergrüner Büsche, deren bis zum Boden reichende Blätter eine Art Zeltdach bildeten.
Unter dem Blätterdach angelangt, zog er Charlotte in die Arme und drängte sie mit dem Rücken gegen den Stamm eines alten Ahorns. Er presste die Hüften an sie, dass sie seine Erregung spürte. Sie küssten sich gierig und konnten nicht genug voneinander bekommen, während sie sich gegenseitig beim Öffnen der Kleidung halfen. Als er mit kühlen Händen unter Mantel und Pullover ihren Körper zu erkunden begann, zuckte sie leicht zusammen. Doch nicht lang, und er hörte sie leise zufrieden stöhnen. Er hob sie leicht an. Sie umschlang ihn mit Armen und Beinen und nahm ihn in sich auf.
Auf dem Höhepunkt der Leidenschaft flogen erschrocken ein paar Vögel auf, kreisten und ließen sich wieder in der Baumkrone nieder.
Allmählich wurde ihre Atmung wieder ruhiger, und Michael setzte Charlotte vorsichtig ab. Keiner sprach ein Wort.
Schließlich neigte er den Kopf und sah ihr tief in die Augen. „Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch.“
Ihre Zusammengehörigkeit schien endgültig besiegelt zu sein. Am Nachmittag flog Michael nach Kalifornien zurück. Über der dichten Wolkendecke ruckte die Maschine plötzlich, sodass er sich in seinem Sitz zurechtrücken musste. Dabei merkte er, dass Charlottes Geruch noch seiner Haut und seiner Kleidung anhaftete. Wenn er an die Liebesumarmung und den zärtlichen Abschied dachte, regte sich erneut Begehren in ihm. Genug. Er hoffte, dass Charlotte seinen Geruch ebenso wahrnahm, wenn sie sich auf die nächste Szene mit Sommers vorbereitete. Es machte ihm nichts mehr aus, sie auf der anderen Seite des Kontinents zurückzulassen. Er war jetzt sicher, dass Charlotte zu ihm gehörte, und flog getrost heim.
Er vertraute ihr. Kein Brad Sommers, kein Freddy Walen würde sich zwischen sie stellen. Er schaute aus dem Fenster und sah die Sonne durch die Wolken brechen.