5. KAPITEL
Drei Monate später entfernte Dr. Harmon methodisch die Bandagen um Charlottes Kopf, während sie reglos auf dem Krankenhausbett lag. Wie ein hoher Priester mit einer Mumie, dachte sie und blinzelte durch eine kleine freie Stelle. Eine Mumie, die zum Leben erwacht. Drei Männer und eine Frau Ende zwanzig in weißen Kitteln und mit Krankenblättern in den Händen, beugten sich vor, um ihr Gesicht zu betrachten. Es waren die Assistenzärzte in der Plastischen Chirurgie. Ihr Fall war besonders interessant, und in den letzten Wochen waren sie häufiger vorbeigekommen, sie zu untersuchen und immer dieselben Fragen zu stellen. Dr. Harmon hatte ihren Fall zu seiner persönlichen Angelegenheit gemacht, das merkte sie an den Reaktionen der Assistenten und Krankenschwestern. Im Flügel 6 West, wo Dr. Harmon seine Belegbetten hatte, fühlte sie sich wie eine Königin.
Zwei Wochen waren seit der Operation vergangen. Zwei Wochen heftiger Debatten mit ihrer Mutter, ob sie eine moralisch richtige Entscheidung getroffen hatte. Wochen, in denen sie gebetet hatte, die Operation möge gelingen, nicht sicher, ob sie noch beten durfte, da sie, wie Helena behauptete, Gottes Willen getrotzt hatte. Charlotte begehrte wieder innerlich auf. Sie war nicht so ein Opferlamm wie ihre Mutter. Für Helena war es leicht, ihre Entscheidung zu verdammen, schließlich hatte sie ein normal hübsches Gesicht.
Charlotte machte ihr jedoch keinen Vorwurf. Sie war allerdings über den Punkt hinaus, ihre Hässlichkeit als Gottes Willen zu akzeptieren. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Während die Bandagen weiter abgewickelt wurden, nahm sie den seltsamen Geruch von getrocknetem Blut auf den Nähten wahr. Befreit von allem Einengenden begann ihr Kinn zu pochen und die Nervenenden prickelten. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich vor Anspannung.
„Gleich haben wir es …“, sagte Dr. Harmon leise. Ihr schien es Ewigkeiten zu dauern, wie er vorsichtig die letzten Bandagen löste.
Plötzlich der Luft ausgesetzt, begann ihre Haut zu brennen. Dr. Harmon begutachtete ihr Gesicht und betastete es zuversichtlich. Jede Berührung stach. Damit fertig, nahm er ihr Gesicht zwischen seine zarten Hände und sah ihr in die Augen. Die Zeit schien stillzustehen, während sie in seiner Mimik nach Hinweisen auf Begeisterung oder Besorgnis suchte. Doch seine Miene war undurchdringlich.
„Sind Sie bereit?“ fragte er väterlich.
Sie konnte nicht sprechen. Vorsichtig betastete sie das zarte Fleisch an ihrem Kinn. Es fühlte sich aufgeschwemmt und geschwollen an. Trotzdem spürte sie eine schön geschwungene Linie.
Sie schaute Helena an, auf ihre Reaktion gespannt. Ihre Mutter betrachtete sie mit leicht verengten Augen, die Lippen bebten. Sie schien entsetzt.
Charlotte schluckte trocken.
„Spiegel!“ bat Dr. Harmon die Krankenschwester.
Charlotte versuchte zu lächeln, konnte ihr geschwollenes Gesicht jedoch nicht dazu bringen. Tief durchatmend schaffte sie es, sich aufzurichten. Ihr wurde schwindelig und übel. Sie unterdrückte beides, denn sie wollte sitzen. Sie hatte das eigenartige Gefühl, eine wichtige neue Bekanntschaft zu machen.
„Denken Sie daran, dass Ihr Gesicht noch geschwollen und blutunterlaufen ist. Das bleibt noch eine Weile. Aber nach und nach wird sich alles normalisieren.“
Sie war alarmiert. Er klang angespannt. War etwas schief gegangen? Sie wollte sprechen, doch die Schnitte im Mund und die Schwellungen machten es schwer, die Lippen zu bewegen. „Normalisieren?“ murmelte sie.
Ein Assistenzarzt erklärte: „Dr. Harmon hat es schön modelliert, aber es ist noch zu früh, das genaue Ergebnis zu sehen.“
„Wie sehe ich aus?“
„Warum schauen Sie nicht selbst?“ Dr. Harmon reichte ihr den Spiegel.
Charlotte hielt ihn lange in der Hand und sammelte Mut. Den Spiegel schräg haltend, betrachtete sie zuerst Stirn und Augen, die unverändert waren. Langsam, zögerlich besah sie sich das ganze Gesicht.
„Charlotte?“ Dr. Harmon kam näher. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Nein, nichts war in Ordnung. Sie hatte Angst. Langsam legte sie den Spiegel aufs Bett und schloss die Augen. Ihr war, als hätte sich der Geist vom Körper getrennt, wie manche Menschen eine Erfahrung in Todesnähe beschreiben. War sie in gewisser Weise gestorben? Eines stand fest: Die Charlotte, die sie gewesen war, gab es nicht mehr.
Helena kauerte neben dem Bett ihrer Tochter, einen Rosenkranz in den Händen, die Lippen bewegten sich in leisem Gebet. Es war spät. Die Lichter in dem kahlen Krankenzimmer waren bis auf eine grünliche Notbeleuchtung gelöscht. Im Nebenzimmer stöhnte jemand, ein leiser Laut, der keine Schwester alarmierte, da sich alle eifrig auf den Schichtwechsel um elf vorbereiteten. Unheimliche Schatten entstanden an den Wänden, sobald jemand an der Tür vorbeiging. In 6 West herrschte nachts Einsamkeit. Jeder versuchte schlicht, die Nacht zu überstehen.
Helena kehrte fröstelnd zu ihrem Gebet zurück. Sie hasste Krankenhäuser und würde lieber auf der Straße sterben, als in eines zu gehen. Vor dem Zimmer besprachen zwei Schwestern Charlottes Fall. Bandagen heute entfernt … Schwellung normal … Auf Verlangen Percodan gegen die Schmerzen. Nach den medizinischen Details wurde das Gespräch leiser und offenbar persönlich. Helena verzog ärgerlich den Mund. Zweifellos palaverten sie über Charlottes Veränderung. Auf den Fluren redete man von nichts anderem.
Den Rücken zur Tür, beugte sie sich über Charlotte. Wo steckte in diesem Gesicht noch ihre Tochter? Sie ballte die Hände. Wer hatte das Recht, sie so zu verändern? Bestimmt nicht dieser aufgeblasene Dr. Harmon. Voller Schuldgefühle dachte sie an die Unterredung mit ihm vor dem Eingriff. Sie zuckte jetzt noch zusammen, wenn sie an seinen unverhohlenen Zorn dachte.
„Warum haben Sie nicht eher einen chirurgischen Eingriff bei Charlotte vornehmen lassen?“ hatte er vorwurfsvoll gefragt. „Diese Techniken sind nicht neu. Es wäre ihr sicher erspart geblieben, jahrelang ge…“ Er winkte ab und suchte vergeblich nach einem treffenden Begriff für das, was Charlotte durchgemacht hatte.
Sie war mit den üblichen Entschuldigungen gekommen: kein Geld, keine Versicherung, Unkenntnis. Dr. Harmon hatte nur den Kopf geschüttelt.
„Ja, das stimmt alles“, sagte Helena ihrer schlafenden Tochter und legte ihr den Kopf auf die Hand. Doch der wahre Grund war ein anderer. Gott hatte von ihrer Sünde gewusst und sie mit der Deformierung ihrer Tochter bestraft.
„Ich habe gesündigt, Herr, nicht sie“, betete sie halblaut. „Ich bin schuldig. Vielleicht hätte ich es ihr sagen sollen. Aber wie?“ Sie schlug die abgearbeiteten Hände vor die Augen und weinte. „Meine Sünde … meine und Fridrychs, vor langer Zeit.“
Als Helena Fridrych Walenski sah, wusste sie, dass sie ihn liebte. Mit sechsundzwanzig, unverheiratet auf dem abgelegenen Bauernhof der Eltern lebend, waren ihre Zukunftsaussichten trübe. Das Leben war schwer in Polen Ende der Sechziger. Die Preise für Nahrungsmittel stiegen, und die Löhne sanken. Die Wirtschaft war in Aufruhr. Helena erinnerte sich, wie schwer sie es damals hatten, Vieh und Familie satt zu bekommen.
Ihr Hof lag am Rande der Karpaten, und an den Wochenenden kamen junge Männer und Frauen aus der Stadt zum Wandern dorthin. Helena neigte weder zum Flirten, noch suchte sie die Aufmerksamkeit der jungen Männer, die durch das Dorf kamen. Doch bei Fridrych war es anders. Eher untersetzt als groß, mit dichtem Haar und großen, kessen Augen, hatte er eine Haltung, die an Herablassung grenzte. Sein Großstadtgebaren sprach von Privilegien und einer Weltläufigkeit, die in ihrem Provinznest unbekannt war. Sie entdeckte ihn, als er sich mit Freunden über eine Landkarte beugte, Rucksack auf den Schultern. Während die anderen redeten und zeigten, welche Route sie nehmen wollten, sah dieser gut aussehende Mann zu ihr hinüber.
Helena, schockiert von der eigenen Kühnheit, schlug nicht wie sonst die Augen nieder. Er erwiderte ihren Blick mit einem zögernden, viel sagenden Lächeln. Ihr wurde heiß.
Sich in den Bergen zu verlieben war leicht. Die Luft hier oben war klar, und man war weit weg vom Industriedunst und dem revolutionären Gedankengut der Städte. Fridrych kehrte jedes Wochenende zurück und machte ihr den Hof. Schließlich widersetzte sie sich seinen Küssen nicht länger. Fridrych war so anders als die Männer, die sie kannte. Er studierte an der Universität in Warschau. Während sie politisch eher passiv war, war er ein leidenschaftlicher Antikommunist. Ein Rebell, der mit protestierenden Studenten und politischen Aktivisten gegen kommunistische Angriffe auf Kirche und intellektuelle Freiheiten protestierte.
In einer Sommernacht, nachdem sie sich in Vaters Scheune im frischen Heu geliebt hatten, machte er ihr Versprechungen über eine gemeinsame Zukunft in einem neuen Polen. Im Dezember, als sie neben dem warmen Ofen hockten, flüsterte er ihr ins Ohr, dass er sie liebe. Und Helena, glücklich wie noch nie im Leben, glaubte ihm.
Ende Dezember 1970 zerbrach ihr Traum. Sie wusste nicht genau, was passiert war. Fridrych klang gehetzt bei seinem letzten Anruf aus Warschau, und seine hastigen Erklärungen waren verworren. Etwas über Arbeiterunruhen wegen der Lebensmittelpreise, über Schüsse und eine Bombe. Er musste das Land verlassen, und zwar schnell. Seine Familie hatte Verbindungen und konnte ihn fortbringen.
„Ich muss gehen, Helena“, sagte er eindringlich, während ihre Hände zitterten. „Ich muss, oder ich riskiere Gefängnis.“
„Nein! Nein, Fridrych, du darfst nicht gehen!“
„Ich lasse dich nachkommen, sobald ich es aus Amerika arrangieren kann.“
Helena umklammerte den Hörer, während das Herz in ihrer Brust schmerzhaft schlug. „Nein, ich komme mit dir. Ich packe sofort.“
„Wiedersehen, Helena.“
Es klickte. Er hatte aufgelegt.
Sie hatte so treu auf ihn gewartet wie eine Ehefrau auf den Mann im Krieg. So sah sie es. Im Herzen waren sie schließlich verheiratet, oder? Tag für Tag lief sie zum Briefkasten, und jedes Mal flossen Tränen, weil er leer war. Ein Monat verging, zwei, und kein Wort aus Amerika. Nicht mal eine Postkarte, dass er sicher angekommen war und auf sie wartete. Zuerst hatte sie sich eingeredet, er sei nur vorsichtig, damit die Behörden ihn nicht aufspürten. Als die Monate vergingen, wurde sie jedoch immer verzweifelter. Ihre Rechtfertigungen für ihn machten das in ihr wachsende Kind nicht ungeschehen.
„Du bringst Schande über die Familie!“ jammerte ihre Mutter, als sich die Schwangerschaft nicht länger verbergen ließ. Gläubige Katholiken wie ihre Eltern wurden mit der Schande nicht fertig, und kurz darauf wurde Helena zu den Nonnen des Heiligen Sakramentes nach Warschau geschickt.
Die Nonnen waren freundlich und zeigten Mitgefühl. Ihre Augen leuchteten vor Eifer, als sie ihr versicherten, Gott werde ihr die Sünde der Fleischeslust vergeben, wenn sie inbrünstig bete, Reue zeige und Besserung gelobe. In den folgenden zwei Monaten fand sie innere Ruhe, die mit dem Baby wuchs.
Eines Tages besuchte Pater Oziemblowski aus ihrem Dorf sie. „Gute Nachrichten!“ erklärte er. Er habe eine Familie gefunden, die ihr Baby adoptieren wolle. Nach der Geburt könne sie diskret in ihr Dorf zurückkehren, und über die unglückselige Affäre werde kein Wort mehr verloren. „Du musst in dieser Sache unserem Rat folgen“, drängte der Pater. „Wenn nicht zu deinem, dann zum Wohle deines Kindes.“
Helena lauschte kleinlaut mit großen Augen, doch im Herzen rebellierte sie: Fridrychs Kind weggeben! Ausgeschlossen! Ihr Kind war kein Bastard! Wenn Fridrych hier wäre, würden sie vor Gott getraut sein! Ihr Mutterinstinkt machte sie gerissen.
Im nächsten unbewachten Augenblick schlich sie aus dem Kloster und fuhr mit dem Bus in die Altstadt von Warschau, wo verfallende vierstöckige Stadthäuser Schulter an Schulter am Rande eines Parks standen, wie eine Reihe ehrwürdiger alter Damen im Schatten eines blühenden Baumes. Die Wohnung der Walenskis lag in einem der größeren Häuser mit einer pompösen Eingangshalle. Nach kurzem Warten öffnete eine elegante, untersetzte Frau die Tür. Helena erkannte sofort dieselbe königliche Haltung, die sie an Fridrych so fasziniert hatte, und die gleiche aristokratische Nase.
„Ich bin eine Freundin von Fridrych“, erklärte sie und straffte sich in ihrem schäbigen übergroßen Mantel. „Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen, ihn zu finden. Es ist dringend.“
Fridrychs Mutter war vorsichtig. „Ich weiß nicht, wo mein Sohn ist.“
„Warten Sie!“ Helena drückte eine Hand gegen die sich schließende Tür. „Nur einen Moment. Was ich Ihnen zu sagen habe, sollte unter uns bleiben.“
Die Frau betrachtete sie forschend und voller Ablehnung. „Ich gestatte Fremden nicht, meine Wohnung zu betreten. Worum geht es?“
Helena blieb auf der Schwelle stehen und öffnete ihren Mantel. Zum Vorschein kam der gerundete Leib einer Frau im fünften Monat. Sie fühlte sich billig in dieser eleganten Umgebung, aber für ihr Kind und für Fridrych würde sie nicht zurückweichen.
„Ich erwarte Fridrychs Kind.“
„Sie lügen“, flüsterte Fridrychs Mutter, führte sie jedoch rasch ins Foyer und schloss die Tür. „Glauben Sie, Sie sind die Erste, die meinen Sohn mit diesem üblen Trick einzufangen versucht?“
Während sie energisch durch die Räume schritt, folgte Helena ihr wie eine Traumwandlerin. Das Haus war großzügig und elegant und das genaue Gegenteil von dem kleinen Bauernhaus, in das sich ihre Familie quetschte. Während sie sich umsah, bemerkte sie eher Details als das große Ganze: eine Uhr mit Goldfiligran, ein dicker Teppich, Kristalllüster von majestätischen Ausmaßen. Wie fühlte man sich als Herrin eines solchen Hauses? Würde sie auch hier leben, wenn sie Fridrychs Frau wäre?
„Sagen Sie mir, wer Sie sind.“
„Ich bin Helena Godowski, Pani Walenska, und ich habe nicht vor, Ihren Sohn mit einem Trick einzufangen. Finden Sie nicht, dass es eher umgekehrt ist? Ich trage sein Kind, Ihren Enkel. Fridrych hat mir versprochen, mich nach Amerika zu holen. Aber wie Sie sehen, kann ich nicht länger warten. Meine Familie schämt sich, ich kann nicht zu ihr zurück. Ich habe niemand, an den ich mich wenden kann. Die Nonnen wollen, dass ich das Kind weggebe. Hat Fridrych mich nie erwähnt?“
Seine Mutter rückte sich in ihrem Sessel zurecht. „Nein, niemals. Was wollen Sie?“
„Ich will Fridrych. Ich will bei ihm sein.“
„Das geht nicht. Ich weiß nicht, wo er ist. Ich weiß es wirklich nicht. Er kann mir nicht schreiben, Sie kleine Närrin, die Behörden suchen ihn. Das verstehen Sie sicher. Sie wollen doch nicht, dass er ins Gefängnis kommt, oder?“
„Nein, natürlich nicht.“ Sie war aufgeregt und erleichtert zugleich. Wenn Fridrych nicht mal seiner Mutter schreiben konnte, konnte er natürlich auch ihr nicht schreiben. Er hatte sie nicht vergessen. Er liebte sie, dessen war sie sicher. „Ich liebe Fridrych. Ich würde nie etwas tun, das ihm schaden könnte. Das müssen Sie mir glauben.“
Seine Mutter ließ traurig die Schultern hängen und nickte.
„Ich brauche Hilfe“, drängte Helena, ermutigt von dem Mitgefühl, das sie spürte, und sah auf ihren Bauch. „Fridrych weiß nichts von dem Kind. Er reiste ab, ehe ich sicher war. Ehe ich es ihm sagen konnte.“ Sie hob den Blick und beugte sich vor. „Bitte, wenn Sie mir nur den Namen der Stadt in Amerika nennen könnten. Ich bin sicher, ich kann ihn dort finden. Bitte, Sie müssen mir glauben.“
Seine Mutter starrte lange ins Leere. Sie legte eine Hand an die Wange und wirkte wie erfroren. Als sie die Hand in den Schoß zurücklegte, war ihr Blick auf Helena und die Rundung ihres Leibes gerichtet.
„Ich glaube Ihnen“, erwiderte sie nachdenklich. „Und Sie müssen mir auch glauben. Ich weiß nur, dass er nach Chicago in Illinois gegangen ist, dort gibt es eine große polnische Gemeinde.“
„Vielleicht können Sie mir die Namen Ihrer Verwandten oder Freunde nennen. Jemand, an den ich mich wenden kann, wenn ich dort ankomme. Ich kenne niemanden in Amerika, und ich bin schon im fünften Monat.“
„Ich gebe Ihnen einen Einführungsbrief an eine Freundin mit. Sie wird Ihnen helfen. Und ich gebe Ihnen das Geld für den Flug.“ Sie räusperte sich. „Und genug für einen Neuanfang drüben.“
„Vielen, vielen Dank!“ Helena legte die Hände ans Gesicht und schluchzte vor Erleichterung. So viel hatte sie nicht erwartet.
„Danken Sie mir nicht. Sie kennen meinen Sohn nicht so gut wie ich.“ Seine Mutter schien zu schrumpfen, während sie weitersprach. „Fridrych ist selbstsüchtig. Vielleicht ist das meine Schuld. Ich habe ihn verwöhnt.“ Sie fingerte einen Moment an ihren Ohrringen und ließ die Hand mit einer vagen Geste sinken. „Falls Sie ihn finden“, fuhr sie zögernd fort, „machen Sie sich darauf gefasst, dass er nicht erfreut sein wird. Ich sage das nicht, um Sie zu verletzen, aber wissen Sie … Sie sind nicht die erste junge Frau, die er in diese Lage gebracht hat. Fridrych ist sehr zielstrebig, wenn er etwas haben möchte. Geradezu besessen. Und manchmal … grausam. Sein Vater kann auch so sein. Das andere Mädchen stammte auch aus einem Dorf, genau wie Sie.“
Helena senkte den Blick, um ihre Besorgnis zu verbergen.
„Er hat Ihren Namen nie erwähnt“, fuhr sie fort. „Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will?“
„Ich muss ihn finden“, antwortete Helena mit erstickter Stimme.
„Also gut. Ich werde alles Notwendige arrangieren. Nur noch eine Bedingung. Falls es Ihnen nicht gelingt, meinen Sohn zu finden, müssen Sie mir versprechen, Ihr Kind nicht mit dem Namen Walenski in Verbindung zu bringen.“
Der Affront nahm Helena den Atem. „Aber das Kind ist ein …“
„Ich muss darauf bestehen“, wurde sie unterbrochen.
Helena senkte den Kopf. „Ich verspreche es.“ Mit diesen geflüsterten Worten verschenkte sie das Erbe ihres Kindes.
Fridrychs Mutter hielt ihr Wort. Innerhalb eines Monats kam eine junge, hochschwangere Mrs. Helena Godowski in Chicago an. Sie lernte schnell, dass eine allein stehende Frau in einem fremden Land, noch dazu schwanger, keine Freunde hatte. So nahe am Geburtstermin und ohne Englischkenntnisse konnte sie mit ihrem Einführungsschreiben lediglich einen Job als Babysitter ergattern, der ihr genug für Essen und Unterkunft einbrachte. In jeder freien Minute suchte sie nach Fridrych und erbat die Hilfe der eng verknüpften polnischen Gemeinde. Ein Mann hatte ihn kurz nach seiner Ankunft gesehen, aber nichts mehr von ihm gehört. Man war allgemein der Ansicht, dass er die Stadt verlassen hatte.
Als die Wehen stärker wurden, war Helena klar, dass sie allein gebären musste, ohne Ehemann, ohne Mutter und ohne Freunde. Ihr Traum, Fridrych zu finden, war geplatzt. Sie musste ihr Schicksal allein schultern.
„Sprechen Sie Englisch?“ fragte die Schwester im Kreiskrankenhaus laut und deutlich.
„K-kein Englisch“, stammelte Helena mit vor Panik trockenem Mund.
Die Schwester verdrehte die Augen. „O Gott, ich habe hier eine Erstgebärende ohne Englischkenntnisse! Das kann heiter werden. Nur die Ruhe, Kleines. Ich passe gut auf Sie auf.“
Helena starrte auf die abblätternde Decke, während sie an Räumen voller stöhnender Frauen vorbeigerollt wurde. In einem kleinen grünlichen Zimmer stellte man sie ab, wo Frauen und Männer in Krankenhauskleidung ihr abwechselnd die Beine spreizten und mit kalten Fingern in sie eindrangen. Sie fühlte sich schrecklich allein und verletzlich, und sie hatte Angst. Aber sie musste stark sein für ihr Baby.
Der Schmerz kam in Wellen, schwoll im Bauch an und prallte gegen ihren unteren Rücken. Die Anzeige auf der seltsam piependen Apparatur neben ihr schlug rhythmisch aus. Sie begann zu schwitzen. Heilige Mutter Gottes, warum hatte ihr das niemand gesagt? War es für jede Frau so? Oder war das eine besondere Strafe für sie? Sie konnte niemanden fragen.
Plötzlich spürte sie den starken Drang zu pressen. Sie rief auf Polnisch: „Mein Baby kommt! Beeilt euch. Es kommt!“
Drei Leute in weißen Kitteln umringten sie und gaben Anweisungen, die sie nicht verstand. Sie biss die Zähne zusammen und presste, bis der Atem aus ihr wich und kleine graue Punkte ihr die Sicht nahmen. Wieder und wieder. „Fridrych!“ schrie sie.
Plötzlich hörte der Schmerz auf, und über dem Stimmengewirr hörte sie ihr Kind schreien. Sie wollte sich auf den Ellbogen abstützen, rutschte jedoch erschöpft zurück. Tränen der Freude kamen ihr, als sie die Leute im weißen Kittel sich über das Neugeborene beugen und aufgeregt reden sah. Sie schienen sich gar nicht beruhigen zu können über das Baby. Schließlich legten sie ihr das kleine Bündel in den Arm. Ihr stockte der Atem beim Anblick der Kleinen in der rosa Decke. Die Haut war rotfleckig, und die großen blauen Augen blinzelten verwundert in die Welt. Doch etwas stimmte nicht. Ihr Blick fiel auf Kiefer und Kinnpartie. Sie waren kaum ausgebildet und verliefen extrem fliehend zum Hals.
Sie warf den Schwestern am Bett einen fragenden Blick zu und las Mitgefühl in ihren Mienen. Ohne ein weiteres Wort verstand sie, dass ihr Kind eine Anomalie hatte. Wie eine Wahnsinnige riss sie die Decke auf, um zu prüfen, ob der Rest des Kindes in Ordnung war. Der Kälte ausgesetzt, schrie und strampelte die Kleine protestierend. Helena verschlang sie geradezu mit Blicken. Alles war normal, zehn Finger, zehn Zehen, und es war ein Mädchen.
Sie sah wieder auf das deformierte Kinn. Das würde sich nicht auswachsen wie die kleinen Falten in dem winzigen Gesicht oder die gedrückte Nase, die vermutlich wie Fridrychs werden würde.
Helena wandte den Kopf ab und weinte leise. Gott hatte ihr also nicht vergeben. Sie hasste die Schwestern, die ihr mitfühlend den Arm tätschelten und Trostworte murmelten. Warum ließ man sie nicht in Ruhe? Verstanden die denn nicht? Das hier war ihre Strafe, das Kreuz, das sie zu tragen hatte. Ihr Schmerz nährte sich nicht nur aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Resigniert nahm sie ihr Schicksal an. Ein Trost war immerhin, dass sie durch Fridrychs Kind nicht mehr allein war.
Zwanzig Jahre später saß Helena nun wieder in einem Krankenzimmer und betrachtete das Gesicht ihrer Tochter. Das neue Gesicht, das einer Fremden, ein Trugbild. Ihr tat das Herz weh.
Wo ist Fridrych, fragte sie sich. Die Narben waren geschickt verborgen und würden bald nicht mehr sichtbar sein. Niemand würde noch erkennen, welcher Betrug hier vonstatten ging. Unnatürlich! Fridrychs Nase … es war nichts mehr von ihr da.
Jetzt, dachte sie bitter, bin ich wirklich allein.
In Kalifornien brannte Michael die Frühlingssonne in den Nacken, während er die zweiundzwanzig Männer sah, die die Mondragons für die neue Saison eingestellt hatten. Es waren hauptsächlich Amerikaner zwischen zwanzig bis fünfzig. Die meisten verheiratet mit Kindern. Von ihnen getrennt durch Sprache und auf eigenen Wunsch hockte eine Gruppe Mexikaner beisammen. Die kamen jeden Frühling speziell zu Luis, um hier zu arbeiten, und reisten immer zusammen in einem altersschwachen, stinkenden LKW an.
Michael wusste, dass einige Männer in diesem Geschäft erfahrener waren als er selbst. Sie arbeiteten bereits für seinen Vater, so lange er denken konnte. Ein paar Neulinge mussten noch eingearbeitet werden, wie Cisco, sein Neffe. Er war erst neun und machte auf Michaels Einladung hin mit, für gutes Geld. Luis freute es, eine weitere Generation im Geschäft zu sehen.
Jung oder alt, erfahren oder nicht, Einheimischer oder Fremder, das spielte keine Rolle. Wer anständig arbeitete, bekam anständigen Lohn. Das hatten alle begriffen, als Michael ihnen die neuen Pläne und die damit verbundenen Änderungen erläuterte. Ebenso begriffen alle, dass er jetzt das Sagen hatte.
Während Michael redete, sah er, wie Bobby seine Worte der abseits stehenden Gruppe von Mexikanern übersetzte. Sie lauschten Bobby, sahen jedoch ihn an. Er bedauerte, dass er die Sprache seiner Familie nicht mehr gut genug beherrschte, die Ansprache auf Spanisch zu wiederholen.
„War gut, was du gesagt hast“, gratulierte ihm sein Vater, als er fertig war und die Mannschaft sich entfernt hatte. „Du bist jetzt el patron.“ Sein Gesicht war gerötet vor Freude und Stolz. „Aber jetzt kommt richtiger Test. Du musst gehen hinaus mit deine Männer. Lass die zarten Hände arbeiten. Schaufel, Rechen, richtige Arbeit.“ Er schlug ihm lachend auf den Rücken. Dann eilte er davon, rief seinen Vormann und prahlte von seinem Sohn.
„Du genießt das so richtig, was?“ sagte Michael zu Bobby, der sich das Lachen kaum verkneifen konnte.
„He, besser du als ich.“
Michael sah seinen großen, spindeldürren Bruder an, dessen Leinenhose ihm um die Beine flatterte, und erkannte, dass seine Antwort in mehr als einer Hinsicht zutraf.
„Ich mache die Entwürfe und leite den Laden“, entgegnete er schroff. „Papa wird sich umgucken, wenn er glaubt, dass ich auch noch die Schaufel schwinge. Ich habe genug von schmutzigen Fingernägeln.“ Er rieb sich den Nacken, merkte, dass er einen Sonnenbrand bekam, und ärgerte sich, dass er keinen Hut aufgesetzt hatte.
„Was immer du sagst, bracero.“ Bobby setzte ihm lachend seinen breitkrempigen Panama auf.
Am Abend hinkte Michael ins Büro der Mondragons, hielt sich den Rücken und bewegte sich wie ein alter Mann.
Bobby sah von seinen Unterlagen auf und lächelte heiter. „He, el patron, ich dachte, du wolltest keine harte Arbeit machen“, neckte er und ließ seinen Stuhl auf zwei Beinen nach hinten kippen.
„Da war diese Baumwurzel …“ Michael winkte ab. „Egal, gib mir ein Bier.“
Die kühle Flüssigkeit in der Kehle war wie Frühlingsregen auf verdorrtem Land.
„Ich hatte vergessen, wie es hier zugeht.“ Er wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab. „Trotzdem war es ein schönes Gefühl, mal wieder den ganzen Körper zu benutzen.“ Er warf sich auf das alte Sofa und streckte die langen Beine aus. „Sieh dir meine Hände an!“ stöhnte er und streckte die Handflächen aus, auf denen sich Blasen bildeten. Lächelnd erinnerte er sich, wie einer von den alten Hasen zu ihm gekommen war und ihm gezeigt hatte, dass der mit Hacke und Schaufel so ziemlich alles falsch machte. Dann hatte er ihm eine Lektion in energiesparendem, rückenschonendem Arbeiten erteilt.
Michael trank das Bier in tiefen Zügen und ließ die Hand mit der Flasche sinken, die fast den Boden berührte.
„Warum gehst du nicht nach Haus und nimmst ein heißes Bad?“ fragte Bobby. „Du hast es verdient, bracero. Und du kannst es gebrauchen. Puh!“
„Ja, ja, schon gut. Ich mache nur eine Minute die Augen zu. Nur eine Minute.“ Im selben Moment entspannte er sich, ließ die Flasche los, und sie rollte über den Boden. Michael schlief fest.
Bobby stand auf und ging zu ihm. Er hob die Flasche auf und legte dem Bruder die herabhängende Hand auf den Bauch. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er den Schmutz unter Michaels Nägeln bemerkte.
„Willkommen daheim, el patron.“