9. KAPITEL

Als Charlotte zwei Tage später erwachte, sah sie Michael Mondragon vor ihrem Schlafzimmerfenster die Breite des Grundstücks abschreiten. Sie hatte gerade zwischen den Vorhängen ins Wetter schauen wollen, wich zurück und schob die Gardine wieder vor. Zwar sagte sie sich, dass es völlig gleichgültig war, was sie anzog, trotzdem suchte sie ein schickes mintgrünes Etuikleid heraus, zog Sandalen an und ging hinaus, ihn zu begrüßen.

Michael lächelte, als er sie sah, und fand den Tag noch sonniger. Sie war ein toller Anblick mit dem langen blonden Haar und den langen schlanken Beinen, die unter dem kurzen Sommerkleid hervorsahen. Mit geschmeidigen Schritten kam sie offenbar erfreut auf ihn zu.

„Hallo“, grüßte sie und strich sich das wehende Haar zurück. „Sind Sie etwa schon mit den Entwürfen fertig?“

Bei einer anderen Frau hätte das vielleicht kokett geklungen, bei Charlotte nicht.

„Doch, bin ich. Da Sie bald abreisen, wollte ich mich beeilen. Ich hätte anrufen sollen, aber da ich die halbe Nacht an den Plänen gearbeitet habe, bin ich gleich im Morgengrauen los. Ich habe nicht erwartet, Sie schon so früh auf den Beinen zu finden.“

„Ich bin auch gerade erst wach geworden.“

Er hielt die Hände hinter den Rücken, und seine jungenhafte Begeisterung wirkte ansteckend.

„Also, dann zeigen Sie her! Ich sterbe vor Neugier.“

Er entrollte die Entwürfe, doch der Wind zerrte an dem dünnen Papier.

„Das geht so nicht“, rief sie und hechtete hinter einem davonwehenden Blatt her. „Gehen wir ins Haus. Außerdem brauche ich dringend einen Kaffee. Was ist mit Ihnen?“

„Sie sind ein Gnadenengel.“

„Wie trinken Sie Ihren Kaffee?“

„Stark und schwarz, bitte.“

Klar, wie auch sonst, dachte sie mit einem Seitenblick auf ihn. Er trug das lange Haar heute wieder zum Pferdeschwanz gebunden. Froh, Melanies Lasagnereste gestern Abend noch weggeräumt zu haben, führte sie ihn in die Küche. Er breitete die Entwürfe auf dem Küchentisch aus und beschwerte sie mit verschiedenen Utensilien. Die Zuckerdose stand auf dem Magnolienbaum, eine Gabel begleitete eine Reihe Rhododendron, ein Löffel lag auf dem Staudenbeet, und der Salzstreuer hielt ein paar australische Pinien nieder. Charlotte setzte sich, stützte das Kinn in die Hände und betrachtete den Plan wie ein Kind ein Bilderbuch.

In blauer Tinte gezeichnet, war aus dem felsigen Terrain ein lebendiger Garten mit blühenden Büschen, wenigen ausgewählten Bäumen, Staudenrabatten, Bodendeckern und Sommerblumenbeeten geworden.

„Das ist umfangreicher, als Sie es verlangt haben. Aber machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich stelle mir gern ein Gesamtbild vor. Dann können wir es gemeinsam auf das zusammenstreichen, was Sie sich leisten können und wollen. Das ist nicht der Versuch, möglichst viel zu verkaufen, glauben Sie mir. Es geht eher darum, Ihnen eine Auswahl anzubieten.“

„Wer sagt, dass ich mir Gedanken mache? Ich bin nur sprachlos. Kaum zu glauben, dass es dasselbe Grundstück ist. Es ist … wunderbar.“

Erfreut erklärte er: „Der Trick ist, den Raum bestmöglich zu nutzen. Man braucht nicht viel Fläche, um einen schönen Ort zu schaffen, an den man gerne heimkommt.“

Genau das hatte sie sich gewünscht, einen Ort, an den sie gerne heimkam. „Was ist das?“ fragte sie, als sie bei der Durchsicht der Skizzen eine vom Haus entdeckte.

„Die sollten Sie gar nicht sehen“, erwiderte er und zog sie aus dem Stapel.

„Bitte, ich möchte aber. Auch wenn Umbauten jenseits meiner Möglichkeiten liegen.“

Er fuhr mit dem Zeigefinger die blaue Linie entlang, welche die linke Seite des Hauses über die geplattete Terrasse zum Hang hin ausdehnte. Sein gebräunter Unterarm war mit Kratzern übersät. „Ich konnte nicht anders. Für mich war offensichtlich, was diesem Haus fehlt. Ich weiß, dass es gemietet ist. Ich habe es rein zum Vergnügen gezeichnet, weil ich lange keine Architekturzeichnung mehr angefertigt habe.“

Eindeutig galt sein eigentliches Interesse dem Haus und nicht dem Garten. „Warum haben Sie die Architektur aufgegeben?“

Mit ernster Miene legte er eine Gartenskizze über die Hausskizze. „Das habe ich gar nicht. Ich arbeite nur vorübergehend in der Gärtnerei mit, um meiner Familie zu helfen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Manchmal geht die Familie eben vor.“

Die Loyalität zu seiner Familie und seine Zurückhaltung, über Privates zu sprechen, machten ihn ihr noch sympathischer. Michael Mondragon war von einer ruhigen Reserviertheit, die ihr sehr gefiel.

„Bauen Sie Wohnhäuser?“

„Auch. Aber meine Liebe gilt Wolkenkratzern. Etwas zu bauen, das buchstäblich an den Wolken kratzt, ist aufregend. Erhebend.“ Seine Begeisterung war unverkennbar.

„Von der Erde zum Himmel, das ist ein weiter Sprung.“

Er lächelte, da sie ihn zu verstehen schien. Mit Blick auf die Entwürfe fragte er. „Und was ist mit Ihnen?“

„Mit mir?“

„Sie haben gerade einen Sprung in die Filmwelt gemacht. Auch nicht übel.“

„Wenn Sie wüssten“, erwiderte sie leise und fingerte an einer Skizzenecke herum. „Ich hatte sehr viel Glück. Ich wollte immer schauspielern, aber ich habe nicht geglaubt, dass ich tatsächlich die Chance dazu bekommen würde.“ Als er sie fragend ansah, fügte sie hinzu: „Sagen wir einfach, ich war ein unbeholfenes Kind.“

Er legte seinen Schreibstift beiseite und setzte sich neben sie. „Schöne Frauen sagen immer, wie hässlich sie als Kinder waren. Warum? Das klingt mir ein bisschen unehrlich.“ Er lehnte sich zurück. „Ich kann nicht glauben, dass Sie jemals hässlich waren. Wahrscheinlich sind Sie schon perfekt auf die Welt gekommen.“

Charlotte rang sich ein Lächeln ab und senkte den Blick. Ihr Magen brannte vom Kaffee. „Glauben Sie mir, ich war hässlich.“

Er blieb skeptisch. „Die Geschichte vom hässlichen Entlein, das sich in einen Schwan verwandelt?“

Sie runzelte leicht die Stirn. „Etwas in der Art. Warum ist das so schwer zu glauben? Sie behaupten ja auch, dieses hässliche Grundstück in einen wunderschönen Garten verwandeln zu können, und erwarten, dass ich es glaube.“

Er gab sich mit erhobenen Händen geschlagen. „Sie gewinnen. Ich glaube, Sie waren ein hässliches Kind.“

In diesem Moment war sie geneigt, ihm alles zu beichten, ihre Deformation, die Demütigungen der Kindheit und die Operation. Vielleicht hätte sie ihn an ihre erste Begegnung im Fahrstuhl erinnert, an das hässliche Mädchen. Erinnerte er sich überhaupt an sie?

Unmöglich. Sie konnte ihm das nicht erzählen, er würde sie für verrückt halten. Sie hatte ihre Entscheidung bereits in Chicago getroffen. Charlotte Godowski war tot, sie war Charlotte Godfrey, und nur die kannte Michael Mondragon. Sie widmete sich wieder der Skizze. „Ich hätte die Magnolie gern in der Nähe des Schlafzimmers, damit ich die Blüten sehen kann. Meine Mutter liebte Magnolien.“

Eine Hand auf den Tisch gestützt, veränderte er die Skizze mit wenigen Strichen. Dabei berührte sein Hemd ihre Wange, und ihr Puls schlug schneller.

„Erledigt. Die Sommerblumen sollten Sie behalten, hier und da.“

Seine Nähe machte sie unruhig, und sie wunderte sich, dass er es nicht merkte. „Bei Ihnen sieht das alles so einfach aus“, sagte sie mit belegter Stimme. „Ich bin kaum in der Lage, eine gerade Linie zu zeichnen.“

„Das verdanke ich alles den Nonnen und der Palmer-Methode des Schreibens.“

Lachend erinnerte sie sich an die Palmer-Methode, nach der auch sie reihenweise Schlingen gemalt hatte.

„Wo sind Sie aufgewachsen?“ fragte er, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen.

Sie lehnte sich ernst im Stuhl zurück. „Chicago“, erklärte sie vorsichtig.

„Ohne Scherz? Die Welt ist doch klein. Wo?“

„Ach …“ Sie suchte rasch nach Orten, die vage genug und hübsch genug waren. Irgendwo, wo ihre Mutter geputzt hatte. „In den westlichen Vororten.“

„In welchem?“

Der Mann war beharrlich. Was würde wohl passieren, wenn sie sagte: eigentlich im Westteil der Stadt, an der Harlem Avenue. In einem der Wohnblocks, die Architekten Ihres Schlages hassen. Zwischen Burger King und dem Büro der Wahrsagerin, die für zehn Dollar die Zukunft prophezeit. Ob eine solche Antwort sie wohl weniger begehrlich gemacht hätte? Und falls ja, würde sie ihn dann noch anziehend finden? „Oak Park“, erklärte sie und hüstelte wegen der Lüge. „Eigentlich ist es eine Stadt, etwas abseits vom Eisenhower Expressway.“

„Ich weiß, wo das liegt. Das Frank Lloyd Wright Museum und ein paar tolle Häuser, die er gebaut hat, sind dort.“ Wie beiläufig erkundigte er sich: „Haben Sie dort allein gelebt?“

„Nein.“ Sie unterdrückte ein Schmunzeln, da er die Stirn leicht furchte. „Ich habe mit meiner Mutter gelebt. Sie brauchte mich, und ich fand, ich sollte bei ihr bleiben.“

Die Antwort freute ihn offenkundig.

„Und Sie?“

„Ich lebe in der Innenstadt von Chicago, in einer Loftwohnung in Printer’s Row.“

„Das ist eine schöne Gegend, sehr chic.“

„Und angenehm nah bei den Museen und der Bibliothek. Das gefällt mir.“

Das konnte sie sich vorstellen. „Das fehlt Ihnen sicher.“

Er zuckte die Achseln. „Ihre Mutter fehlt Ihnen sicher auch.“

„Ja, das tut sie.“ Sie dachte kurz nach. „Aber sie ist sehr aktiv und hat viele Freunde. Sie hatte ein schönes altes Haus, in dem sie seit Ewigkeiten lebte, aber das war ihr zu groß. Besonders, seit ich in Kalifornien bin. Also hat sie es verkauft. Jetzt lebt sie in einer hübschen Eigentumswohnung. Dort hat sie alles, was sie braucht. Einen Lift im Haus, Einkaufsmöglichkeiten und eine Kirche. Und alle Freunde leben in der Nähe. Sie führt ein unauffälliges, aber aktives Leben. Ich bin sicher, sie vermisst mich nicht.“ Sie wischte sich die Stirn und spürte Kopfschmerzen aufziehen.

„Das kann ich kaum glauben. Ich bin sicher, Sie werden schmerzlich vermisst.“

Sie wandte den Blick ab, da ihr die Tränen kamen. Sie mochte nicht über ihre Mutter reden. „Sprechen wir über den Garten“, bat sie und beugte sich mit geschürzten Lippen über den Plan. „Wenn ich es richtig verstehe, sind die Sommerblumen hier und dort an der Haustür. Die Magnolie ist da. Auf die Bodendecker kann ich vorerst verzichten. Ein paar Wacholder dort, und oh ja, ich muss dieses Lilienbeet haben. Abgemacht. Wie viel kostet das?“ Sie sah ihn an, ganz Geschäftsfrau. „Einschließlich Arbeitslohn und was notwendig ist, den Boden zu verbessern, Kompost, Torf, was auch immer. Ich möchte ja, dass die gesetzten Pflanzen gedeihen. Ich fange lieber klein an, aber mit einer guten Grundlage.“

Michael fragte sich, was er gesagt hatte, dass sie plötzlich so kühl und distanziert reagierte. Er hatte nicht neugierig sein wollen. Ihre Entschlusskraft und rasche Urteilsfähigkeit beeindruckten ihn allerdings. Er hätte dieselbe Wahl getroffen.

„‚Ein Drei-Dollar-Loch für eine Ein-Dollar-Pflanze‘, sagt mein Vater immer.“ Er notierte etwas auf der Skizze, sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt. Ihr Haar roch süßlich nach Shampoo, und er inhalierte den Duft mit geschlossenen Augen. „Soll ich Ihnen den Plan hier lassen, damit Sie ihn in Ruhe studieren können? Wenn Sie Fragen haben, können Sie mich in der Gärtnerei anrufen. Oder wäre es Ihnen lieber, wenn Bobby sich bei Ihnen meldet?“

„Nein“, versicherte sie rasch und lehnte sich zurück. „Es wäre mir lieber, wenn Sie blieben.“ Als sich ihre Blicke begegneten, merkte Charlotte verblüfft, dass nicht nur sie nervös war. Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass ein Mann wie er ihr gegenüber Verunsicherung zeigte. Sie berührte seinen Arm. „Bitte bleiben Sie. Ich weiß doch gar nicht, welche Fragen ich stellen soll. Am besten, Sie erklären mir alles sehr genau und in Ruhe. Ich mache uns Kaffee, und ich habe Hörnchen. Haben Sie schon gefrühstückt?“

Der Morgen zog sich hin. Sie wählte Sommerblumen aus und zusätzliche Stauden und verlegte die Rhododendren in die Nähe des Eingangs. Michael hatte bereits beschlossen, einen Großteil der Arbeiten selbst und auf eigene Kosten zu erledigen. Ein guter Vorwand, bei ihr zu sein. Charlotte hatte noch eine Bitte. „Ich hätte gern einen kleinen Küchengarten für Melanie. Tomaten, Kräuter und solche Dinge.“

Michael neigte den Kopf zur Seite. „Reden wir von derselben Melanie? Sie hat deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mit dem Garten nichts zu tun haben will.“

„Nicht mit Blumen oder Büschen, aber sie kocht sehr gern, und ich möchte etwas für sie tun. Nichts, was viel Arbeit macht“, fügte sie hinzu und dachte an Melanies manikürte Hände.

„Ihr Wunsch sei mir Befehl.“ Er veränderte die Skizze. „Sie beide sind ein eigenartiges Paar, sehr verschieden.“

„Ja, das sind wir wohl. Aber sie ist sehr lieb und weiß im Gegensatz zu mir eine Menge über das Filmgeschäft. Sie haben sie neulich nicht von ihrer besten Seite kennen gelernt.“

„Ich weiß nicht recht, das schienen doch tadellose Seiten zu sein.“ Froh über ihr Lachen, beugte er sich wieder über den Plan und klopfte mit dem Stift auf den Tisch. „Ich überlege gerade, wie wäre es mit Pflanzkästen auf der Terrasse. Die sind schnell aufgestellt, einfach zu pflegen und sehen gut aus. Vermutlich ist Melanie damit einverstanden.“

„Genial! Man könnte gleich vor der Küche mit Messer oder Schere Kräuter schneiden, ohne sich schmutzig zu machen.“

„Ich müsste jetzt noch einiges erledigen“, sagte er zögernd und wagte einen Vorstoß. „Wie wäre es, wenn wir die Besprechung später beenden? Beim Dinner, so gegen sechs?“

Sie mochte ihren Ohren kaum trauen, griff nach ihrem Kaffee und trank. „Sie müssen das nicht tun.“ Sie starrte in ihre Tasse. „Sie müssen keine Überstunden machen, nur weil ich es eilig habe.“

Er nahm ihre schmale Hand mit den unlackierten Nägeln und streichelte sie mit dem Daumen. „Es wird mir ein Vergnügen sein.“ Spitzbübisch lächelnd fügte er hinzu: „Und ich hoffe, es wird nicht nur Arbeit.“

Michael holte sie am Abend nicht im Lieferwagen der Mondragons ab, sondern in einem rassigen dunklen Kabrio. Seine einzige Belohnung dafür, erklärte er ihr auf dem Weg in die Stadt, dass er seine Karriere für seine Familie unterbrochen hatte. Die Nacht war lau, und sie hatten das Verdeck heruntergelassen. Einen Seidenschal ums Haar gewickelt, genoss Charlotte den warmen Fahrtwind und das Streicheln der weichen Seide. Ihr Ziel war ein charmantes italienisches Restaurant am Pazifik mit herrlichem Blick auf den Sonnenuntergang.

Der Oberkellner im La Luna begrüßte Michael breit lächelnd mit Namen. Als er Charlotte bemerkte, spitzte er die Lippen in einem stummen Pfiff und schwenkte eine Hand, als hätte er sie verbrannt. Michael runzelte leicht die Stirn und schüttelte kaum merklich den Kopf, doch das nützte nichts. Sobald sie an seinem Lieblingstisch am Fenster saßen, umschwirrten zwei Pagen Charlotte wie Bienen einen Honigtopf. Sie füllten ihr Wasserglas auf und gaben ihr Butter auf den Teller. Als ein hingerissener Achtzehnjähriger ihr auch noch die Serviette auf dem Schoß glatt streichen wollte, entriss Michael sie ihm mit finsterer Miene.

„Tut mir Leid“, entschuldigte er sich und reichte ihr die Serviette. „Die sehen nicht oft eine so hinreißende Schönheit.“

„Ist nicht Ihre Schuld“, erwiderte sie verunsichert. „Man sagte mir schon, ich müsste mich daran gewöhnen.“

Er zog die Brauen hoch. „Ach ja, das hässliche Entlein.“ Er sah, wie sie die Stirn kraus zog, und winkte dem Kellner, der eine Flasche Pinot Grigio auf den Tisch stellte. Nachdem er probiert hatte, nahm er die Flasche und schenkte Charlotte ein. Sie trank langsam, die schmalen Finger um das Glas gelegt. Ihre Haut schimmerte im Kerzenlicht.

Er begehrte diese Frau, war sich jedoch klar, dass er vorsichtig vorgehen musste.

Die emsigen Kellner brachten Pasta, marinierte Gemüse, würzige Würste und duftenden, cremigen Käse. Charlotte aß hemmungslos und genoss die Köstlichkeiten, während sie Michael Geschichten aus ihrem Leben erzählte.

Geschichten waren es in der Tat. Alles erfunden, gewürzt mit kleinen Wahrheiten. Ihre Mutter war Witwe und lebte bequem von dem Geld, das der Vater ihr hinterlassen hatte. In ihrer Freizeit malte sie und war bei Kollegen sehr angesehen. Nein, er würde ihre Werke nicht kennen. Ihre Mutter stellte nicht mehr aus. Ihr Vater starb, als sie noch klein war, doch sie erinnerte sich gut an ihn. Er sah blendend aus, ein gütiger freundlicher Mann. Sie hatte ihn sehr geliebt. Vom Vermögen des Vaters war nicht mehr viel übrig, deshalb lebte die Mutter bescheiden.

Sie erzählte, wie sehr sie an der High School und auf dem College die Schauspielerei geliebt hatte. Mochte er Shakespeare? Sie hatte viele Rollen gespielt, Julia, Ophelia, Portia.

Während die Kerzen herunterbrannten, plauderte sie über ihr erfundenes Leben. Sie erzählte, wie wild sie als Kind getanzt hatte, wenn ihr Vater die Ungarische Rhapsodie spielte – auf dem alten Steinway der Familie. Charlotte Godowski wäre vor Angst vergangen, doch Charlotte Godfrey wurde immer lebendiger beim Erzählen und füllte die Lücken ihrer Biografie mit Anekdoten, die sie selbst glaubte.

Was waren schon Erinnerungen? Diese sentimentalen Geschichten, die sie heute Abend erfand, würden ihre Erinnerungen werden.

Michael lauschte zurückgelehnt, verliebt in den Klang ihrer Stimme und die unbewussten kleinen Gesten, wenn sie sprach. Es gefiel ihm, wie sie mit ihrem Haar spielte oder gelegentlich seine Hand berührte, wenn sie etwas betonen wollte. Besonders mochte er, wenn sie über seinen Ärmel strich, während sie sich an ein Detail zu erinnern versuchte. Sie war sich ihrer eindrucksvollen Gestik beim Sprechen offenbar nicht bewusst. Manchmal entdeckte er einen traurigen Ausdruck in ihren Augen, wenn sie über eine Antwort nachdachte. Doch sobald sie wieder redete, richtete sie den lebhaften Blick auf ihn, als versuche sie, seine Reaktion auf ihre Erwiderung einzuschätzen.

Er fühlte sich geschmeichelt durch ihre Aufmerksamkeit und begehrte sie mehr denn je. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte sie nicht nur die Aufmerksamkeit aller Kellner auf sich gelenkt, sondern auch die aller heißblütigen Männer im Lokal.

Als Obst und Pralinen zum Dessert gereicht wurden, war es draußen fast dunkel, und die Kerzen waren zu Stummeln heruntergebrannt.

„Keinen Bissen mehr“, seufzte Charlotte, lehnte sich zurück und klopfte sich auf den flachen Bauch.

„Vielleicht eine Pflaume?“

Zögernd nahm sie ihm die Frucht ab, biss hinein und leckte sich den Saft von den Lippen, ohne zu ahnen, welche Wirkung das auf ihn hatte.

Michael straffte sich, winkte dem Kellner und beglich die Rechnung. Er reichte ihr die Hand. „Sollen wir gehen?“

Sie nickte, betupfte sich mit der Serviette den Mund und legte sie auf den Tisch. Danach erhob sie sich graziös.

Den Heimweg legten sie in angenehmem Schweigen zurück, nur von der Musik aus dem Radio unterhalten. Die feuchte kalifornische Luft duftete nach Pinien und wildem Lonicera. Über den dichten Baumwipfeln glitzerten Sterne, und die Nachtinsekten begleiteten ihre Fahrt auf den gewundenen Straßen mit einer Serenade.

Michael parkte vor ihrem Haus und stellte den Motor ab. Er merkte, dass sie sich nervös zurechtrückte, und wandte sich ihr zu. Charlotte starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe. Ihre Haut schimmerte im Mondschein, und ihre Lippen ließen ihn an die pralle Frucht denken, die sie gegessen hatten. Sie hatte die Arme fest um sich geschlungen, sodass die Brüste hochgeschoben wurden. Unter ihrem schmalen Kleid konnte er die Konturen langer Beine und schmaler Hüften ausmachen. Er sehnte sich nach einer Umarmung.

Instinktiv spürte er jedoch ihre Angst und Verunsicherung. Sie erwartete einen Annäherungsversuch, und ihr graute davor. Er langte hinüber und legte eine Hand über ihre. Sie zuckte zurück. Er straffte sich, öffnete die Tür und stieg aus. Charlotte war spürbar erleichtert, als er sie vom Wagen zum Haus begleitete.

Vor der Tür blieb er stehen und betrachtete ihr Gesicht. In ihrer Mimik lag nichts Aufforderndes. Es gab keinen Hinweis, dass sie sich überreden ließe, ihn mit hineinzunehmen.

„Das Haus ist dunkel. Schläft Melanie?“

„Vielleicht sollten wir uns hier verabschieden“, schlug sie nervös vor. „Damit wir sie nicht wecken.“ Sie reichte ihm die Hand, ein Muster an Höflichkeit. „Danke für ein schönes Dinner.“

Seine Enttäuschung war kaum zu überbieten. Er sehnte sich nach ihr und war froh, dass die Dunkelheit den Beweis seines Verlangens verbarg. „Ihnen ist schon klar“, begann er und hielt ihre Hand fest, „dass ich morgen zurückkommen muss, um mit der Gartenarbeit zu beginnen.“

„Das ist, wie Sie schon sagten, Ihr Job“, erwiderte sie schwach lächelnd.

Touché. Er war befangen, verunsichert und wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Seine Chancen, wenigstens einen Gutenachtkuss zu bekommen, schwanden zusehends.

Charlotte räusperte sich. „Nun ja, dann brauchen Sie Ihren Schlaf umso nötiger.“

Er beugte sich vor, die Lippen nah an ihren. „Ich bin überhaupt nicht müde.“ Sein jungenhafter Übereifer hätte ihn zum Lachen gebracht, wenn sein Verlangen nicht so heftig gewesen wäre.

Wie in Panik blickte Charlotte hektisch nach rechts und links und bekam kein Wort mehr heraus. Er konnte nicht ertragen zu sehen, wie unbehaglich sie sich fühlte.

„Charlotte“, sagte er leise und streichelte ihr die Wange. „Warum hast du Angst vor mir?“

Sie senkte den Kopf, doch er hob ihr Kinn an, sodass sie ihn ansehen musste. „Schsch“, machte er beruhigend, „ich würde dir nie wehtun.“

Sie wich zurück gegen die Tür, doch Michael kam langsam näher. Ihr Atem ging heftiger, und Michael zögerte kurz, ehe er die Lippen sacht auf ihre drückte. Ein zarter Kuss auf trockenen Lippen, ein sanftes Necken. Keine Reaktion, jedoch spürte er, dass er allmählich ihre eisige Abwehr überwand.

Er verstärkte den Druck ein wenig. Welche Lippen bebten mehr, seine oder ihre? Vorsichtig hob er ihr Gesicht an, und plötzlich ging Charlotte leise seufzend auf den Kuss ein.

Erregung durchströmte ihn heiß und machte ihn benommen, als sie die Lippen öffnete. Er zog sie leidenschaftlich an sich. Sie erschauerte in seinen Armen, oder zitterte er? Er konnte es nicht sagen. Seine Hände strichen ihren Rücken hinab, zu dem kleinen Po und wieder hinauf zu den Schultern, ihre Körper, Brust, Bauch, Hüften, eng aneinander geschmiegt.

Ein Laut wie ein leises Wimmern ließ ihn zurückweichen. Er lockerte die Umarmung, lauschte einen Moment ihrer heftigen Atmung, lehnte sich leicht zurück und betrachtete ihr im Halbdunkel kaum erkennbares Gesicht.

Ihre Lippen waren geschwollen. Sie senkte so verlegen den Blick, dass er sich fragte, ob sie das spielte. „Charlotte? Ist etwas nicht in Ordnung?“

Als sie ihn ansah, merkte er erstaunt und mit einem heißen Gefühl der Zuneigung, dass ihre Scheu echt war. Der Blick aus diesen großen Augen verriet alles. Sie hatte Angst und misstraute seiner Leidenschaft. In dem Moment begehrte er sie wie nie eine Frau zuvor. Da seine Gefühle für sie jedoch weit über reine Lust hinausgingen, zog er sich zurück. „Es ist spät. Ich sollte heimfahren.“

Sie senkte den Kopf und nickte.

„Wir sehen uns morgen, Charlotte.“

„Ja, bitte. Ich freue mich darauf.“

„Ich komme früh“, sagte er erleichtert. „Gegen neun.“

„Ich warte.“

Sie wird warten, dachte er, aber wohl nicht so sehnsüchtig wie ich. Vermutlich bekam er heute Nacht kein Auge zu. Es sah ihm nicht ähnlich, so verunsichert aufzugeben. Sie hingegen blickte jetzt ruhig und gelassen auf ihre Hände in der Sicherheit ihrer unglaublichen Schönheit.

Ihm kamen Zweifel. Wurde er zum Narren gehalten? Konnte jemand wie sie überhaupt so naiv sein? Vielleicht hatte er sich geirrt, und sie war eine geschickte Verführerein, eine Circe. Wie viele Männer hatte sie schon so hereingelegt und gequält? Der Gedanke war mit einem Stich der Eifersucht verbunden. Er fühlte sich wie ein Süchtiger. Der Abend sollte noch nicht enden, jedoch wusste er nicht, wie er das verhindern konnte. Das Schweigen dauerte an und wurde unbehaglich. Charlotte runzelte leicht die Stirn.

„Gute Nacht dann.“ Er wandte sich zum Gehen.

„Michael“, sagte sie so leise, dass er nicht sicher war, es richtig gehört zu haben. Er sah auf seinen Arm. Sie hatte die Hand darauf gelegt. „Hattest du jemals das Gefühl …“ Sie machte eine Pause und betrachtete die Falte, die sie in seinen Ärmel machte. „Hattest du jemals das Gefühl, dass eine Kleinigkeit etwas grundlegend verändert und dir plötzlich alles klar wird. Dass plötzlich alles … anders ist?“

„Ja“, bestätigte er verwundert. Konnte sie wissen, dass es ihm an jenem Tag, als er sie in der Gärtnerei gesehen hatte, so ergangen war? Vielleicht war alles vorbestimmt gewesen, der Hilferuf seines Vaters, seine Mitarbeit in der Gärtnerei. Vielleicht hatten alle Ereignisse der letzten Jahre ihn an diesen Punkt geführt, um ihr zu begegnen? „Ja“, bekräftigte er, „das Gefühl kenne ich.“

Lächelnd schob sie ihm die Hand aufs Herz, und er bedeckte sie mit seiner. „Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest. Bitte, ich möchte, dass du bleibst.“