11

Ausgerechnet im Cheschwan, dem Monat ohne viele Aufregungen, der selbst wenig zu bieten hat, keine Feste und keine Schlusstage von Festen, keine besonderen Launen der Natur, hatte sich eine Wendung in unserem Leben gezeigt.  Gideon hatte eine Arbeit gefunden und ließ sich in »Chagis Hof« nieder, er brachte seine wenigen Besitztümer mit und bekam einen Wohnwagen am nördlichen Ende des Geländes. Am Abend rief er an, beschrieb das Anwesen, und seine Stimme war flach, leer von Trauer oder von Freude, als lese er eine Liste ab, ein Fenster seines Wohnwagens ging zum Apfelgarten hinaus, das andere zu bewaldeten Hängen. Er hatte einen alten Lieferwagen bekommen, einen Hund und ein Funkgerät. Wasser und Essen hatte er frei.

Obwohl er nicht nach dem Jungen fragte, freute ich mich, dass er überhaupt ein Gespräch führte.

Mein Mann, der keine Gefühle mehr hatte, empfand eine Art Phantomschmerz und rief an. Das Rad unseres Lebens drehte sich endlich langsam rückwärts, es gibt dich noch, Gideon, fahr los, gib Gas, es gibt dich noch. Es war nur eine Frage der Zeit, wann wir in unseren Mazda steigen und nach Norden fahren würden, aber zuerst mussten wir auf Gott vertrauen und ihm Zeit lassen, damit der Hof einen glücklichen Einfluss auf ihn nehmen konnte, und wir mussten auch abwarten, was der Herbst mit den Herzen von hier und denen von dort anstellen würde. Inzwischen führten wir unser Leben weiter. Die Sehnsucht und das Verlangen, die davor ein Pfeil gewesen waren, gerichtet auf den Mann, der uns verlassen hatte, hatten etwas von ihrer Spitze verloren, der Junge fragte weiterhin nach seinem Vater, aber statt der fordernden Glut wurde die Zunge nun von dem Wort »hoffentlich« angetrieben, hoffentlich fahren wir nach Amerika, hoffentlich gewinnen wir im Lotto, hoffentlich treffen wir Papa. Der Laden blühte weiterhin, Kunden kamen und gingen, und Madonna hüpfte wie eine Heuschrecke, und alles an ihr hüpfte mit, die Haartolle, die kleinen Brüste, das kurze Röckchen. Ich bremste sie nicht mehr in ihrem Verhalten, sie sprach, wie sie wollte, rauchte und zog an, was ihr gefiel. Mit Erfolg diskutiert man nicht. Sie schien nur dazu auf der Welt zu sein, um unseren Laden in Schwung zu bringen. Sie wollte, dass wir bunte, flackernde Glühbirnen über dem Laden anbrachten, also bestellte ich einen Elektriker und ließ es erledigen, sie wollte, dass wir Cafétische und Stühle vor dem Laden aufstellten, also kaufte ich zwei kleine Tische und vier Stühle, und wir stellten sie auf. Am Vormittag saßen alte Frauen an den Tischen, auf dem Heimweg von der Krankenkasse, und tranken Kaffee, nachmittags  saßen Mütter mit Kindern da und tranken Saft und Cola, und abends wurde Bier getrunken. Madonna sah, dass die Stühle immer besetzt waren, und sagte, vielleicht solltest du noch einen Tisch kaufen, und eine Kaffeemaschine und Espressotassen, also kaufte ich das Verlangte. Ich gab ihr freie Hand und berechnete ihr nicht, was sie aß und trank und was sie sich zum Essen und Trinken mit nach Hause nahm, ich gab ihr nur eine einzige eindeutige Anweisung: Jeder Schekel, der in den Laden kommt, wird registriert. Soweit ich es verfolgen konnte, richtete sie sich danach. Sie liebte die Arbeit im Laden, sie hatte etwas zu verlieren. Manchmal roch ich, dass sie Alkohol getrunken hatte, aber nie ertappte ich sie dabei, dass Einnahmen verschwanden oder geklaut wurden, bis sie eines Morgens ein Wasserglas mit einem kleinen Goldfisch anbrachte.

»Was hast du genommen?«, fragte ich.

»Zehn Schekel für den Autobus. Mir war das Geld ausgegangen.«

»Und mir geht die Geduld für deine Diebstähle aus.« Ich war wütend und nahm den Fisch nicht. Das Glas blieb neben der Kasse stehen, der Fisch schwamm darin herum, erschrocken und einsam, bis er seine Seele aushauchte.

»Der Ärmste, sein Leben war keine zehn Schekel wert«, sagte Madonna und entsorgte seine kleine Leiche, dann holte sie aus ihrer Gürteltasche zehn Schekel und legte sie in die Kasse.

Amjad verbrachte seine Essenspausen an unseren Caféhaustischchen. »Ich habe dir ja gesagt, dieses junge Mädchen ist super, sie hat aus deinem Laden ein Einkaufszentrum gemacht.« Er trug das rote Hemd des Supermarkts und roch nach Basilikum und Petersilie.

»Wie geht es mit dem Gemüse?«, fragte Madonna.

»So lala.« Er packte den Rest seines Baguettes ein und stand auf, um zurückzugehen. »Anfangs war es ganz in Ordnung, aber dann  … Ehrlich gesagt, hier hat es mir besser gefallen.«

Das reichte mir, um ihn aufzufordern, zurückzukommen, dem Laden ging es besser, wir konnten zwei zusätzliche Hände brauchen, und ich konnte ihn auch bezahlen.

Madonna hörte es, ahnte mit ihren scharfen Sinnen, wie eng es dann hinter der Theke würde, und beeilte sich, die Aufgaben zu definieren. »Ich werde Außenministerin, er Innenminister und du Ministerpräsidentin.«

Amjad betrat den Laden, wie man in einen alten, vertrauten Hausschuh schlüpft, die Bedingungen, die ich ihm angeboten hatte, waren besser als im Supermarkt und schlossen zusätzlichen Proviant an Milchprodukten, Brot und Eiern für seine Familie ein. Er gewöhnte sich schnell an die Neuerungen, die während seiner Abwesenheit eingeführt worden waren, und an Madonnas spritziges Tempo. Ihr gelang es, die Beziehung zu den bestehenden Kunden zu pflegen und neue zu gewinnen, sie vergrößerte unseren Kundenkreis, und Amjad kümmerte sich um die Vorräte, um die Bestellungen, um die Organisation der Lebensmittel und um die Ablaufdaten und die Haltbarkeit der Produkte. Sie ergänzten sich gegenseitig, sie konkurrierten miteinander, und einer bewachte des anderen Schritte, und die bescheidene Schreckensbilanz zwischen ihnen nützte dem Laden und der Ordnung meines Alltags. Von da an konnte ich jederzeit kommen oder gehen, ich hatte Zeit, den Kopf über mein kleines Leben zu erheben und das große Leben zu betrachten, ich konnte Jonathan und Tamar besuchen, deren Entbindung näher rückte, ich könnte auch in ein Fitnessstudio gehen, ich könnte zu meinen Aufgaben in der Bank zurückkehren und den Laden aus der Ferne beaufsichtigen, ich könnte Flamenco oder Yoga lernen oder geführte Fantasiereisen unternehmen, ich könnte das, ich könnte jenes … Die Zeitungen waren voll mit Vorschlägen, wie man sich die Zeit vertreiben konnte, als sei es das Ziel der Zeit, zu vergehen. Aber ich wollte nicht, dass sie verging, im Gegenteil, ich hätte mehr Zeit gebraucht, ich hatte genug Aufträge zu erledigen, ich musste auf den Grabstein des toten Jungen aufpassen, seinen Großvater besuchen und ihm von meinem Besuch bei seinem toten Enkel und seinem lebenden Sohn berichten, und vor allem musste ich mich um die Wunde kümmern, die innerhalb meiner kleinen Familie entstanden war, ich musste sie desinfizieren und dafür sorgen, dass sie heilte. Und wenn ich mich um diese schweren Angelegenheiten gekümmert hatte, musste ich die Zeit, die Madonna und Amjad mir ermöglichten, dazu nutzen, mich der Qualität meiner Beziehung zum Himmel zu widmen. Bald fingen die Anmeldungen zu den Schulen an, und ich musste entscheiden, ob Gott an der Spitze der pädagogischen Hierarchie meines Sohnes stehen sollte oder ein Beamter des Erziehungsministeriums. Eine erschreckende Vorstellung, dass für das Ausmaß, das Gott im Leben eines Kindes spielen sollte, in hohem Maß seine Eltern verantwortlich sind, in unserem Fall seine Mutter.

Jonathan, mein Bruder, sagte: »Gib ihm eine religiöse Erziehung, damit er später wählen kann. Wenn er älter wird, kann er entscheiden, ob er dabei bleibt oder nicht.«

»So etwas gibt es nicht, Jonathan. Gott geht einem in die Knochen wie Kalzium, hast du ihn einmal verinnerlicht, dann war’s das, er ist in deinem Knochenmark, und du wirst ihn nie im Leben daraus entfernen können.«

»Na und, was ist schlecht an Kalzium?« Er versuchte auf seine Art, mich zu überzeugen. Erziehung ist alles für ihn, würde er schweigen, würde er sich gegen das Gebot vergehen: Du sollst auch nicht stehen wider deines Nächsten Blut. Die Herbsttage, die am Rand des Dorfes Meerzwiebeln wachsen und die Blätter von den Pflaumenbäumen fallen ließen, hatten auch auf den Alten ihre Wirkung. Mit dem Himmel, der sich senkte, fiel seine Feindseligkeit Schicht um Schicht von ihm ab und verwandelte sich in Traurigkeit. Er stand weiterhin am Fenster und schaute zu, wie wir kamen und gingen, und beobachtete die Schuhgröße des Jungen, aber er ballte nicht mehr die Hände zu Fäusten und hörte auf, die Hühner zu verfluchen, die in seinem Hof scharrten. Ich klopfte an seine Tür, und er machte sie weit auf, er gab nach und ließ mich an sich vorbeigehen. »Treten Sie ein, schauen Sie sich um, sehen Sie, was für ein Haus wir gebaut haben, wir dachten, wir würden uns hier an Enkeln und Urenkeln erfreuen, und Gott sah, wie wir bauten, und lachte über jeden Ziegelstein, den wir auf den anderen legten  …« Ich erschrak über die Niedergeschlagenheit in seiner Stimme, ich wünschte, er würde sich wieder fangen und schimpfen und fluchen und mich hinauswerfen.

Ich schaute mir das Haus nicht an, ich saß in seinem Wohnzimmer in einem grauen Sessel und blickte mich nicht um, er saß mir gegenüber auf dem Sofa, breitete die mageren Arme auf der Lehne aus, hatte das lange Gesicht gesenkt und sah aus wie ein alter, erschöpfter Adler. Hinter ihm lag ein Stapel Papiere, auf die er in seinen guten Tagen Gottes Zorn aufgeschrieben und in unseren Briefkasten geworfen hatte, und um den Eindruck zu verwischen, auch in seinen.

»Sie waren das also«, sagte ich, obwohl ich es gewusst hatte. An dem Tag, als er ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte das Phänomen aufgehört, und die Verbindung zwischen ihm und den abgeschnittenen Zetteln ergab sich von allein.

»Die Menschen hier brauchen Erziehung, wenn ich genug Kraft hätte, würde ich weitermachen.« Er bewegte die Hand und ließ sie fallen, um zu zeigen, dass er keine Kraft mehr hatte. Und weil er auf jede Abwehr verzichtete, verzichtete auch ich und berichtete ihm, dass wir bei Amos gewesen waren, und ich erzählte ihm von dem toten Jungen, der hinter Glas lebte. Ich erzählte von dem Anwesen, den Pferden und Hunden, und er schwieg, plötzlich nahm er die Hände von der Lehne und stand auf, seine spitzen Knie knirschten, er verließ entschlossen das Zimmer und kam gleich darauf zurück, ein Holzkästchen an die Brust gedrückt. Er stellte das Kästchen auf den niedrigen Tisch zwischen uns beiden. »Man öffnet den Sarg«, sagte er und nahm den Deckel ab. Braune Kinderschuhe standen auf einem blauen Samtstreifen, die Schuhe waren zerquetscht, sie waren lange herumgerannt, bis die Füße, zu denen sie gehörten, gestorben waren. Die Spitzen waren abgewetzt, ein Schnürsenkel war offen, ihm fehlte das Plastikteil am oberen Ende.

»Hören Sie, ich möchte mit Ihnen ein Abkommen schließen, ich nehme keine Miete von Ihnen, und Sie verpflichten sich, dafür zu sorgen, dass dieser heilige Schrein mit den Schuhen zusammen mit mir begraben wird.« Er stand über mir und sagte, er wolle, dass man die Schuhe des Jungen neben seinem alten Schädel finde, wenn man nach der Ankunft des Messias sein Grab öffnete.

»Was, wissen Sie denn nicht, dass Schuhe länger halten als Knochen? Lesen Sie keine Bücher? Haben Sie nicht gehört, dass man in den Höhlen von Massada Schuhe gefunden hat? Und haben Sie die Schuhberge von Auschwitz gesehen? Von den Menschen ist nur ein Haufen Asche geblieben, und die Schuhe? Seit sechzig Jahren warten sie schon, gibt man ihnen Füße, fangen sie an zu laufen.« Er winkte mir, ihm zu folgen, und zeigte mir die Schublade mit Bettwäsche und Tischdecken, unter denen er die Schuhe versteckte.

»Deshalb habe ich seinem Vater keinen Schlüssel gegeben. Verstehen Sie? Schoschana hat einen Schlüssel, aber sie hat keine Ahnung, wo ich die Schuhe verstecke. Mit ihr kann ich kein Abkommen schließen, ihr Herz ist weich wie Butter, sie würde sie ihrem Bruder aus lauter Mitleid geben.«

Von dem Tag an, als ich die Verantwortung für die letzten Tage der Schuhe übernahm, bewachte der Alte unsere Schritte noch genauer als zuvor, vom frühen Morgen bis zum späten Abend stand er am Fenster. Der Zorn, an den wir uns gewöhnt hatten, wich Besorgtheit. Er schaute uns nach, wenn wir ins Auto stiegen, und man sah ihm die Erleichterung an, wenn wir zurückkamen. An einem der Tage hielt er mich an, als ich auf dem Weg war, und fragte von seinem Fenster aus, ob mein Mann beim Mossad oder beim Außenministerium arbeite, denn er habe ihn lange nicht mehr gesehen. Ich sagte, mein Mann arbeite bei seinem Sohn. Er erschrak, er fürchtete, zwischen den beiden könnte es zu einer konspirativen Beziehung gegen die Schuhe kommen, und erst als ich ihm erzählte, was meinem Mann passiert war und unter welchen Umständen er zu Amos gekommen war, beruhigte er sich.

»Das ist eine seelische Erkrankung. Wenn Sie wollen, ich habe den Namen eines großen Psychiaters, Schoschana hat mir mal einen Termin bei ihm gemacht. Ich habe ihr gesagt, sie soll mich nicht verrückt machen, und bin nicht hingegangen.« Er wunderte sich nicht, aber sein Gesicht fiel zusammen, als ich ihm mitteilte, dass wir zu Amos fahren würden, zum Hof.

»Kommen Sie am Abend zurück?«

»Das weiß ich noch nicht, wir werden sehen.«

»Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte er zornig und ballte die Hand auf dem Fensterbrett. Seit ich zugestimmt hatte, die Vormundschaft für die Schuhe zu übernehmen, wollte er mich hier, an seiner Seite, er fürchtete um die hilflosen Zwillinge, die er in der Schublade mit der Bettwäsche versteckt hatte. Er beobachtete, wie wir ins Auto stiegen, winkte uns mit einer sparsamen Bewegung einer Hand zum Abschied zu, mit der anderen wischte er sich Regentropfen vom Kopf. Der Junge winkte ihm mit beiden Händen zu und rief: »Auf Wiedersehen, Herr Levi, auf Wiedersehen … Sie werden nass, Herr Levi … passen Sie auf, wenn Sie krank werden, muss man Sie noch einmal operieren …«

Der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer teilten die Tropfen nach links und nach rechts, der Junge saß angeschnallt hinten in seinem Sitz, beobachtete die Wasserstreifen und war glücklich. Ich erzählte ihm, dass sein Vater auf dem Hof war, und während er ganz aus dem Häuschen geriet vor Freude, sagte ich: »Es kann sein, dass Papa sich nicht wirklich freut, er hat noch immer keine Emotion im Blut.« Er betrachtete den Regen und strahlte, trotz meiner Warnung. »Wie schön, wir treffen Papa …«

Warum lasse ich die Dinge nicht geschehen, wie sie geschehen wollen, er wird die Apathie eines Vaters erleben, na und, er wird seinen rasierten Schädel sehen, seine Magerkeit. Was sein wird, wird sein, alles hat eine Grenze, ich kann die Zukunft nicht steuern, ich kann das Treffen nicht inszenieren und seine Reaktion nicht arrangieren.

Ich betrachtete ihn im Rückspiegel über mir, er war noch immer glücklich. Nimm es, wie es ist, sagte ich mir, eine Mutter und ein Sohn und Glück, von dem man nicht wissen kann, wie lange es anhält. Eine wunderbare Gelegenheit, Gott etwas zu überlassen und der Vorsehung einen beschränkten Kredit einzuräumen. Und die Vorsehung gab sich für uns Mühe, solange wir unterwegs waren. Der Regen hörte auf, die Welt war frisch gewaschen, die Sicht klar, der Verkehr gering, Wolken bedeckten den Himmel, aber nicht ganz, da und dort rissen sie auf, blaue Streifen waren zu sehen, Sonnenstrahlen brachen hervor und ließen uns glauben, dass die Welt in guten Händen war. Und obwohl ich mich bezüglich meiner Beziehung zum Schöpfer noch nicht entschieden hatte, wandte ich mich an ihn und sagte das Gebet des Weges: »… möge es Dein Wille sein, uns in Frieden zu leiten, unsere Schritte auf den Weg des Friedens zu richten und uns wohlbehalten zum Ziel unserer Reise zu führen … Lass uns Gnade und Barmherzigkeit vor Deinen Augen finden; Verständnis und Freundlichkeit bei allen, die uns begegnen.«

Bei allen, die uns begegnen. Amos und Gideon, zwei Hunde, drei Pferde und eine Katze.

Sie standen beide oben auf dem Hügel, Amos streckte die Hand zum Hang aus und sprach, Gideon folgte mit dem Gesicht der Hand, mager, kahl, mit hängenden Schultern.

»Da ist Papa«, sagte ich und fuhr langsamer, damit er Zeit hatte, sich an seine Verwunderung zu gewöhnen. Er rieb sich die Augen. »Aber Mama, das …«

Wir verdienten nach Ansicht der Hunde weder Gnade noch Barmherzigkeit. Sie lagen an der Kette und bellten uns entgegen und sprangen herum. Der Cowboy und der ehemalige Jurist hörten das Gebell, drehten sich um und sahen uns. Die Hände des Juristen blieben in den Taschen versunken, die des Cowboys winkten uns zur Begrüßung zu. Nadav öffnete den Sicherheitsgurt und blieb noch eine Weile sitzen, und als er endlich aus dem Auto stieg, war es, als sei er zum Arzt bestellt. Die Vorsehung oder der Zufall ignorierten die vorsichtige Planung, die ich gemacht hatte, und nahmen eine Abkürzung. Nadav suchte meine Hand, aber seine Schritte wurden fester, je näher wir seinem Vater kamen. Gideon, noch dünner, als er auf dem Russischen Platz gewesen war, zog die Hände aus den Taschen und steckte sie wieder hinein. Der Junge ließ meine Hand los und rannte die letzten paar Meter, die sie noch trennten, aber als er nur noch drei Schritte von ihm entfernt war, blieb er stehen. Vielleicht zweifelte er an seiner Identität, oder er erschrak, und seine Augen sahen nicht das, woran sie gewöhnt waren. Aber die Vorsehung hielt uns, während sie mit der einen Hand Wolken über unseren Köpfen zusammenschob, mit der anderen einen Schirm hin. Das ist, was die Sehnsucht einer Katze wert ist. Als sie uns sah, fing sie an zu jaulen und raste wie verrückt, als wäre die Seele eines kenianischen Sprinters in sie gefahren, auf uns zu, landete in dem knappen Abstand zwischen dem Jungen und seinem Vater, legte ihre Pfoten auf die Schuhe des Jungen, leckte und kratzte die Schuhe, die wir zu putzen vergessen hatten. Der Junge übergab ihr das, was er für seinen Vater vorbereitet hatte, er bückte sich, lachte und murmelte, Emotion, was für eine großartige Katze, Emotion … Sein Vater nutzte das Getöse der Katze aus, legte die Hand auf die Schulter des Jungen, sagte: »Guten Tag, mein Schatz.« Seine trockene, angestrengte Stimme wurde vom Lärm verschluckt, und währenddessen streckte mir Amos seine bäuerliche Hand hin und sagte: »Hi, es steht dir großartig, so kurz.«

Ich war dem gelben Geschöpf dankbar, das uns die Tatsache, dass wir es aus unserem Haus geworfen hatten, mit einer Wohltat vergalt. Zwei Kilo Nerven und Muskeln hatten das Eis betreten und es zerbrochen. Gideons Hand blieb auf der kleinen Schulter, hätte sie gewusst, wie sie sich entfernen könnte, hätte sie es getan. Der Junge stand da wie einer, der einen Geist gesehen hat, als sei seine Erstarrung eine Garantie für die Hand auf seiner Schulter.

»Komm«, sagte Gideon und ließ ihn los.

»Wohin?« Nadav schaute zu ihm hoch, noch immer erstaunt.

»Zu meinem Wohnwagen.«

»Mama, erlaubst du es?«

Sie gingen zum nördlichen Ende des Anwesens, der Mann knochig, gebeugt und kahl geschoren, der Junge klein und dünn, so entfernten sie sich und schritten zu einem Brandopfer, wie Abraham und Isaak es getan hatten. Gleich wird der Kleine fragen, wo sind das Holz und das Feuer, und der Große wird antworten: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Angst stieg in mir auf, ich wollte ihnen hinterherlaufen, den Jungen packen und zu mir zurückholen. Ich kannte den Mann nicht mehr, der ihn mitgenommen hatte, seinen Wahnsinn, ich wusste nicht, was aus seinem Gehirn herausgerissen war oder darin aufkeimte, es ist schon so viel auf der Welt passiert, Väter haben ihre Kinder mit Plastiktüten erstickt, mit einem Kopfkissen, mit den eigenen Händen …

»Ich hätte es nicht erlauben dürfen …«, sagte ich.

»Übertreib mal nicht. Er ist sein Vater, nicht wahr? Ich hoffe bloß, er erinnert sich noch, wo sein Wohnwagen ist.« Amos hob den Fuß als Hindernis für die Katze, und sie sprang wieder und wieder darüber. Er schlug vor, ich solle ins Haus gehen, sagte, auf dem Tisch stehe kalte Limonade bereit, die Tür sei offen.

»Warum sollte er sich nicht erinnern?«, fragte ich erschrocken.

»Er hat ein Problem mit dem Gedächtnis. Weißt du das nicht? Das kann ich kaum glauben. Reg dich nicht auf, ich kümmere mich darum.«

Bisher hatten wir es mit Problemen des Gefühlslebens zu tun gehabt, jetzt auch mit dem Gedächtnis? War es möglich, dass ich es nicht gewusst hatte, weil ich es nicht hatte wissen wollen?

»Nein, das habe ich nicht gewusst«, fuhr ich den Mann an, der dem ohnehin bestehenden Problem ein weiteres hinzugefügt hatte. Wer gab ihm das Recht, mir neue Diagnosen über meinen Mann mitzuteilen? Wenn er wusste, wie sein Zustand war, warum beschäftigte er ihn dann? Aus Mitleid? Ich wollte kein Mitleid.

»Lass mich«, sagte ich und drehte mich zum Haus, damit er mich nicht trösten und mir keine guten Ratschläge geben konnte.

»Du meinst es ernst? Du hast es wirklich nicht gewusst?«

»Lass mich. Vielleicht bin ich ja viel dümmer, als ich angenommen habe.«

Er ging zu seiner Arbeit zurück und ich ins Haus, in dem niemand war, nur der tote Junge auf dem Bild. Ich saß in der großen Diele vor ihm, nur er und ich, ich trank Limonade, ich aß eine Birne, und er betrachtete mich mit Augen, in denen uralte Weisheit lag. Ich sagte ihm, dass ich mich um sein Grab kümmerte, dass ich Kiefernnadeln von der Platte entfernt hatte, den Staub abgefegt und für ihn »Lauf, Pferdchen, renne durchs Tal« gesungen hatte. Sag, Junge, sagte ich zu ihm, ist das nicht ein Skandal, dass der schwarze Gummireifen, der dich getötet hat, fünf Herzen zerbrochen hat? Entschuldige, du bist ein Kind, ich darf dir kein seelisches Trauma zufügen und mit dir über den Tod sprechen, du könntest davon Albträume bekommen, du könntest wieder mit Bettnässen anfangen, nervöse Zuckungen an den Augen bekommen, wir wissen doch, dass der Mensch sich nicht auf alles Übel vorbereiten kann, wenn Gott will, wird auch ein Besen schießen, ich weiß nicht, ob du diesen Spruch schon mal gehört hast. Jetzt jedenfalls, nachdem die Besen schon geschossen haben, muss man sehen, was man mit Gott macht. Nicht du, ich. Es ist eine Sache, wenn unser Leben in seiner Hand liegt und seine Wunder ständig um uns sind, und eine ganz andere, wenn alles willkürlich ist. Du lachst, wenn das Glas dich nicht bedecken würde, würdest du sagen: Lass doch den Himmel, löse erst einmal das Problem, das du auf der Erde hast. Dein Sohn ist mit einem Verrückten abgezogen, und du isst Birnen und plapperst über Besen. Der Wohnwagen des Verrückten steht am Abgrund, ein Fingerschnippen, und dein Junge wird zum Sündenbock, und seine Knochen rollen den Abhang hinunter …

Amos hatte zwar versprochen, ein Auge auf sie zu haben, aber kalter Schweiß klebte mir die Bluse an den Rücken, ich verließ das offene Haus und rannte nach Norden, zum Wohnwagen des Mannes, der zur Instandhaltung angestellt war, um den Jungen zu retten, ich wusste nicht, wo und wie weit entfernt der Wohnwagen stand, ich rannte, solange ich noch rennen konnte, ich stieß gegen Steine, kratzte mich an Dornengestrüpp, ich rutschte auf den Felsen aus, ich lief durch einen Olivenhain, durch einen Weinberg, und murmelte, lieber Gott, wirklich, lass den Besen nicht schießen, Gott, halte den Besen fest, Gott … Der Himmel bezog sich mit Wolken, Regen fiel und mischte sich mit meinem Schweiß, die nackten Reben der Weinstöcke wurden dunkle, gerade Linien, die sich von Norden nach Süden zogen, gaben die Richtung vor. Ich war nass, der dünne Rock klebte an meinen Schenkeln und hinderte mich am Laufen, ich überlegte, ihn auszuziehen und in Unterhosen weiterzurennen, was kann schon passieren, Gideon, Nadav und Gott haben mich bereits in Unterhosen gesehen, ich rannte, nass, angezogen, keuchend, ich muss die Hand meines Mannes packen, bevor er den Finger nach dem Jungen ausstreckt. Eine Hand, die ich besser kenne als jede andere, die ich oft genug zu meinem Allerheiligsten geführt habe, und in die ich, als sie mir fremd wurde, Löcher gebohrt und das Blut mit einem Taschentuch abgebunden habe. Am Rand des Weinbergs, kurz bevor der Berg im Wadi aufbricht, vor dem Hang, stand der Wohnwagen. Ich klopfte nicht, ich bat nicht, eintreten zu dürfen, ich machte einfach die Tür auf und ging hinein. Der Wohnwagen war leer. In der kleinen Küche mit dem Klapptisch stand eine Tasse mit einem Rest Milch, in der zerkrümelte Kekse schwammen, und auf der Tasse waren kleine Fingerabdrücke. Der Wohnwagen besaß zwei Zimmer, eines war leer, ohne Gegenstände, ohne Menschen, im zweiten standen ein Feldbett, ein Tisch, ein Stuhl und eine Kiste, die Gideons wenige Besitztümer enthielt. Ginge es jetzt nicht um das Leben meines Jungen, hätte ich die Kiste gründlich durchwühlt, um Hinweise auf das Leben meines Mannes zu finden, aber die Sorge um die Rettung des Menschen, der mir der liebste war, brachte mich dazu, schnell in der Toilette und in der kleinen Dusche nachzuschauen. Ich ging hinaus, der Lieferwagen und der Hund waren nicht da, wer weiß, zu welcher Hölle er den Jungen gefahren hatte, der Regen hatte die Reifenspuren gelöscht, wenn ich nur den Besitzer des Gehöfts anrufen könnte, um ihm zu sagen, er solle dem Lieferwagen folgen und ihn aufhalten, aber in meiner Eile hatte ich das Handy in seinem Haus liegen  gelassen, das Einzige, worauf ich zugreifen konnte, waren meine Sinne und der Himmel, und beiden traute ich nicht besonders. Ich kann nicht ansehen des Knaben Sterben, damit Gott ein Déjà-vu-Erlebnis hat und die Gnade, die er Hagar erwiesen hat, wiederholen kann. Dass ein Engel, ein Hirsch, eine Taube, ein Rabe, egal was, ihn heil und gesund zu mir zurückbringt. Ich lief den Felsenweg entlang, der das Anwesen umgab, der Regen hörte auf, die nasse Natur war zu erregt, Eichen raschelten und ließen Tropfen auf die Erde fallen, Vögel zwitscherten übertrieben laut, tauchten in den Wadi und landeten, Hunde bellten in der Ferne, und in diesem dröhnenden Durcheinander waren auch dumpfe Menschenstimmen zu hören, ich lief in die Richtung und behielt recht.

Der Wind wirbelte die Stimmen durcheinander, ich hörte ein Kind schreien und einen Hund bellen, und ich sah einen roten Lieferwagen, alt und schlammverschmiert, ich ging um ihn herum und blieb stehen. Dort waren sie. Der Hund tobte in Rufweite von ihnen und schnappte einen grünen Plastikreif, den sie ihm abwechselnd zuwarfen, der Abstand zwischen ihnen übertraf die Länge eines fünfjährigen Arms und befreite sie von der Notwendigkeit eines Gesprächs. Nadav und der Hund entdeckten mich, aber sie waren in ihr Spiel vertieft. Gideon stand mit dem Rücken zu mir, und als er mich bemerkte, drehte er sich nicht zu mir um, er fragte ruhig: »Warum hast du ihm das angetan?«

»Was habe ich ihm angetan?«

»Du hast ihn hierhergebracht. Du weißt, dass ich ihm nicht das geben kann, was er braucht.«

»Dann gib dir eben Mühe«, zischte ich, streckte die Hand aus und drehte grob sein Gesicht zu mir. »Schau mich an, wenn du mit mir sprichst.«

Er schwieg und reagierte nicht, als ginge es nicht um ihn. Etwas in mir zerriss, und mein Herz nahm keine Rücksicht, es zeigte sich, wie es war.

»Ich will der ganzen Sache ein Ende machen, Gideon. Wenn du nichts für uns empfindest, dann lösen wir die Sache auf und lassen uns scheiden, oder du gehst zu einem Arzt.«

Er biss sich auf die Lippe, bis ein kleiner Blutstropfen aus ihr trat, er hob die Hand zu seinem rasierten Kopf und sagte: »Ich brauche nicht mehr zu einem Arzt zu gehen. Ich war schon dort.«

»Wirf doch, Papa, wirf!«, rief der Junge. Der Plastikring landete vor Gideons Füßen, der Hund stürzte auf seine Schuhe zu, packte den Ring mit den Zähnen, brachte den Jungen dazu, mit dem »Pack, renn, pack« weiterzumachen, und unser Gespräch bekam keinen Aufschub. Der Himmel unterstützte die Aktionen des Hundes und stoppte vorübergehend den Regen, die Vögel verstärkten ihren Lärm, die Bedingungen für ein Gespräch waren ideal, wir hatten keine Ausrede, uns davor zu drücken.

»Was hat der Arzt gesagt?«

»Dass ich zu den zwei Prozent gehöre, denen so etwas in jungen Jahren passiert.« Er schaute dem Jungen und dem Hund hinterher, mit unbewegtem Gesicht, und dann drehte er sich zu mir, und plötzlich wurde er redselig, ein Strom von Worten brach aus ihm heraus. Er sagte, seine Zeit als Ebenbild Gottes gehe zu Ende, sein Gehirn lösche sich selbst aus, eine Zelle nach der anderen, er habe diese Krankheit, die sonst nur alte Leute bekommen, der Name sei ihm entfallen, es habe harmlos angefangen, mitten in einem Plädoyer vor Gericht sei er blockiert gewesen und habe mit dem Plädoyer eines anderen Mandanten weitergemacht, man habe ihm Wasser gebracht, habe die Verhandlung unterbrochen, du erinnerst dich bestimmt, sie haben gesagt, das passiere jedem mal, es gibt niemanden, der nicht mal einen Aussetzer gehabt hat. Doch dann nahm sein Interesse an seinem Beruf von Tag zu Tag ab, es fiel ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren, er dachte, sein Kopf sei übervoll, und beschloss, die Robe zusammenzulegen und nach Eilat zu ziehen, nach einer Bedeutung zu suchen und dieser ganze Bullshit, du hast diesen Mist doch auch geglaubt, stimmt’s? Wir haben beide gedacht, ich hätte zu viel im Kopf, dabei ist er eigentlich immer leerer geworden. In Eilat passierten ihm alle möglichen Dinge, er drückte auf die Fernbedienung des Fernsehers, um eine Tür aufzumachen, er wollte zu seinen Eltern fahren und hatte vergessen, wo sie wohnten, er ging in einen Laden und wusste nicht mehr, warum, und da verstand er endgültig, dass es Zeit war, zu einem Arzt zu gehen. Man stellte alle möglichen Untersuchungen mit ihm an, und dann sagte man ihm, dass er zu den zwei Prozent gehöre, die es als junge Menschen bekamen, es würde rapide fortschreiten, es würde nur noch zwei, drei Monate dauern, bis er alles vergessen habe. In dem Moment, als er es wusste, als die Diagnose feststand, versuchte er, die Verbindung zu uns zu kappen, damit wir nicht unter Druck gerieten und damit es uns nicht wehtat, er dachte, es sei besser für uns, wütend zu sein, Zorn und Wut seien leichter auszuhalten als Schmerz. Vom ersten Moment an war ihm klar, dass er nicht in einem Pflegeheim enden wollte. Er wollte kein sabbernder Zombie werden, der ins Bett pinkelt. Er gehörte also zu den zwei Prozent, die es sehr früh bekamen, zuerst hatte er das Gefühl verloren, vollkommen, er war gleichgültig wie ein Tisch, wie die Wand, wie ein Stuhl. Nichts berührte ihn mehr, nichts machte ihn traurig, nichts machte ihn froh. Er wollte nur noch eines, die Sache beenden, bevor in seinem Kopf komplette Dunkelheit herrschte, sein Kopf war wie ausgehöhlt, er hatte nicht vor, zu einem Sack mit Gliedmaßen zu werden, der nur noch ausscheidet und schwitzt, er wollte nicht gewindelt werden, nicht angebunden, nicht gefüttert, er wollte nicht an Schläuche angeschlossen werden, auch nicht an- und ausgezogen. Er machte einen Selbstmordversuch, schluckte Tabletten, aber er wurde gerettet. Außerdem aß er nichts, und möglicherweise würde diese Appetitlosigkeit zu seinem Ende führen. Ich gehöre jedenfalls zu den zwei Prozent … Habe ich das schon gesagt? Auch unter diesen zwei Prozent, hatten die Ärzte gesagt, sei sein Alter außergewöhnlich, nur in der Fachliteratur  … Es gab keinen Arzt, zu dem er nicht gegangen war, und alle hatten gesagt, bei jungen Menschen würde der Prozess wie Feuer fortschreiten, das hatte er auch im Internet gelesen, als er den Computer noch bedienen konnte. Wenn du in meinem Wohnwagen warst, ist dir doch bestimmt aufgefallen, dass es kein einziges Buch gibt. Er konnte keine Buchstaben mehr zu Wörtern verbinden, keine Wörter mit irgendeiner Bedeutung, er hatte jedes Interesse an Geschriebenem verloren. Er wollte die normalen Zellen, die ihm noch geblieben waren, nicht mit solchen Versuchen beschäftigen, er brauchte sie noch für den letzten Akt, um sich der armseligen Geschichte, die ihn erwartete, zu entziehen. »Ich wollte dir noch etwas sagen, aber ich habe vergessen, was es war, vielleicht erinnere ich mich ja noch daran. Ich gehe für immer, Amia, steh mir nicht im Weg und frage nicht, wie. Ich gehöre zu den zwei Prozent, habe ich das schon gesagt? In der Bibel steht, einen Moment, in der Bibel? Ja, in der Bibel, da steht, und stirb auf dem Berg, wenn du hinaufgekommen bist, das kann man verstehen, wie man will. Siehst du, ich erinnere mich nicht mehr an mein Geburtsdatum, ich weiß weder den Monat noch das Jahr, ich habe den Namen meiner Mutter vergessen, aber an diese Worte erinnere ich mich, falls ich sie nicht durcheinandergebracht oder überhaupt erfunden habe, ich bin mir bei nichts mehr sicher, viele Sätze füllen mir den Kopf, sie kriechen aus jedem Loch in meinem Gehirn wie Ameisen, die vor etwas fliehen. Auch Zeilen von Gedichten, Lache, oh, lache über meine Träume, Jerusalem aus Gold und Kupfer … Ich gehöre zu den zwei Prozent, die bekommen es …«

Er sprach schnell und flüssig, als stünde die Krankheit mit einer Stoppuhr vor ihm und habe den Finger schon am Ausschaltknopf. Er schwitzte und sprach mit einer Raserei, als ginge es um jetzt oder nie, eine Rede, die er vorbereitet hatte, die er vermutlich seit Monaten geplant hatte, er sprach wie ein Automat, in den man eine Münze gesteckt hatte, und er war blass vor Anstrengung. Der Himmel über seinem kahl geschorenen Kopf wurde grau, hielt inne, nahm Rücksicht, die dickbäuchigen Wolken hielten sich zurück und ließen ihm Zeit, Wörter aus den Trümmern zu holen.

»Ach, es fällt mir ein, hör zu, bevor ich es wieder vergesse, wir müssen uns scheiden lassen, damit du nicht … damit du juristisch nicht als verlassene Frau giltst, heute oder morgen, dringend, wir machen das blitzschnell, mach nicht so ein Gesicht, eine Stunde, und wir sind draußen. Der Junge, das Haus, alles gehört dir. Man unterschreibt und geht. Wir müssen es schnell fertig kriegen, damit du nicht mit einer atmenden Mumie verheiratet bleibst, die nur noch Ausscheidungen hat, achtzig Kilo Knochen und Fleisch und sonst nichts … zwei Prozent bekommen es im Alter von … Was zitterst du so, es ist einfacher, als es dir vorkommt, das Rabbinat und dann ein Schnitt, ich gehe … Nun, was sagst du, gehen wir heute zum Rabbinat oder morgen?«

»Nie«, sagte ich und weinte innerlich, meine Augen und meine Kehle blieben trocken. Solange er sprach, hatte ich mich nicht bewegt, noch nicht einmal die Augenlider, um seine Aufmerksamkeit nicht abzulenken. Jetzt betete ich zum Himmel, er möge eine Wolke über unseren Köpfen aufbrechen lassen, um den Jungen zu erschrecken, um uns in die Flucht zu treiben, um die Worte wegzuschwemmen und in alle Richtungen zu verteilen. Aber der Himmel hatte Takt genug, wenigstens verspottete er die Bedürftigen nicht, denen er zuschaute, ohne einen Finger für uns zu rühren. Und ich, hätte ich genug Kraft gehabt, hätte den Himmel mit der Faust geschlagen, hätte das Himmelblau zerkratzt.

Mit dem Himmel und ohne ihn, die Flut der Worte war gestoppt, die Batterie war leer, der Strom war unterbrochen. Er schaute mich mit leeren Augen an, als wäre ich in seiner Netzhaut stecken geblieben und als wüsste der Sehnerv nicht, wie er mich ins Innere bringen sollte. Also drang ich in ihn über das Fleisch, ich fiel ihm um den Hals, ich umarmte ihn aus aller Kraft, um mir etwas von dem Geliebten zu nehmen, seinem Geschmack, seinem Geruch, seiner Wärme, ich spürte seine Knochen, die ganz dicht unter der Haut lagen, wie viel weniger er in den letzten Monaten geworden war, ich drückte ihn an mich, wie man ein Kind an sich drückt, er blieb steif, seine Schultern waren steif, und seine Arme hingen herunter wie die Ärmel eines Hemds an einer Wäscheleine, lang, schön, dünner die Hände, die einmal jedes Härchen und jede Pore an mir kannten. Der Junge sah, wie wir uns umarmten, er hielt in seiner Beschäftigung inne und kam näher, um das Wunder zu sehen, auch der Hund ließ alles stehen und liegen und kam, er verstand nicht, was geschah, aber vielleicht verstand er es besser als wir alle und wollte seinen Herrn retten, ihn von mir wegziehen, er bellte, und wir lösten uns voneinander. Wer uns von oben betrachtete, verstand, dass man aus dem Ereignis nicht mehr herauspressen konnte, als darin war, er beschloss, es genug sein zu lassen, und öffnete die Absperrung der Wolken und ließ einen Schwall auf uns herunterprasseln. Wir rannten mit schweren Beinen zum Lieferwagen, um Schutz zu suchen. Schweigend saßen wir da und schauten hinaus auf den Regen, der Hund auf der Rückbank, wir, den Jungen in der Mitte, auf der Vorderbank. Vielleicht haben sich die Ärzte geirrt, sagte ich, vielleicht fahren wir ins Ausland, um Rat bei irgendeinem berühmten Arzt zu suchen, vielleicht gibt es ein Medikament, von dem man hier noch nichts gehört hat, aber er sagte: »Genug, lass das«, und betrachtete weiter den Regen, distanziert und abgeschnitten. Ich wusste, dass die Ärzte sich nicht geirrt hatten. Dass es keinen Stein gab, den dieser Mann nicht umgedreht hatte, dass er alles erforscht und hinterfragt hatte, bis er es verstanden und das Urteil angenommen hatte. Nadav fragte, was ist mit dem Ausland, aber er beharrte nicht darauf, er kapierte, dass diese Worte nichts bedeuteten. Während ich noch darüber nachgrübelte, wieso ich nichts verstanden und zugelassen hatte, dass er diesen Albtraum allein durchstehen musste, hielt der Jeep neben uns, Fenster an Fenster mit dem Lieferwagen, und trotz des Regens, der zwischen den beiden Autos fiel, und trotz der beschlagenen Fenster sah ich Amos an, dass er bereits wusste, was ich gerade erst erfahren hatte, er beschäftigte bewusst einen Mann, der zu den zwei Prozent gehörte, die das in jungen Jahren bekommen. Vielleicht wollte er sich dafür revanchieren, dass ich ihm Unterschlupf gewährt hatte, und dafür, dass ich mich um das Grab seines Sohnes kümmerte, dafür, dass ich ein Auge auf seinen Vater hatte, und vielleicht entsprach Gideon seinem Bedürfnis, trotz der Atrophie, die seinen Verstand vernichtete. Mitleid schloss ich aus.

»Gib Papa einen Kuss und sag ihm Auf Wiedersehen«, sagte ich zu Nadav.

»Wieso, gehen wir schon weg?«

»Papa geht weg.«

Der Junge, mit einer noch unbelasteten Intuition, stellte keine Fragen, er kniete sich auf den Sitz, schob die eine Hand zwischen Gideons Rücken und die Lehne, die andere legte er auf die Brust seines Vaters, drückte den Mund auf seine Wange, küsste und umarmte ihn. Gideon kratzte seinen Rest Gesundheit zusammen, erwiderte den Kuss, rieb sein Kinn an der Stirn des Jungen und ließ ihn los. Nadav rutschte wieder auf seinen Platz und machte sich klein, weil ich mich an ihm vorbeischob, um zu seinem Vater zu gelangen. Ich küsste Gideon auf die Stirn, beugte mich über seinen Kopf und küsste seinen geschorenen Schädel, dann drückte ich eine Folge von Küssen von seiner Stirn bis zu seinem Nacken, wie eine enge Knopfreihe. Hätte ich doch bloß die Krankheit aus seinem Kopf saugen und ausspucken können, saugen und spucken, saugen und spucken, bis sein Gehirn sauber und wie neu gewesen wäre. So, während ich wie eine Brücke über unseren Sohn gestreckt war, gab er mir einen Kuss, der völlig blutleer war, und umarmte mich mit einer Umarmung ohne Muskeln und ohne Nerven. Ich sah einen Kugelschreiber im Handschuhfach des Lieferwagens, nahm seine Hand, an der die Narben von meinen Fingernägeln zu sehen waren, und schrieb auf seine nackte Haut: Ich liebe dich. Dann zog ich den Jungen von ihm weg, sagte: »Komm«, machte die Tür auf, stieg aus dem Lieferwagen und wechselte in Amos’ Jeep. Wir setzten uns auf die Rückbank und sahen aus dem Fenster den Hund, der im Lieferwagen nach vorn wechselte und unseren Platz einnahm.

»Kann er fahren?«, fragte ich den Sohn des Alten.

»Nein. Er weiß nicht mehr, wozu die Schalter im Auto da sind.«

Ich sah durch das nasse Jeepfenster hinüber zum Lieferwagenfenster, sah, wie mein Mann die Arme hob, mit gebeugten Ellenbogen, und die Hände hinter dem Nacken verschränkte, wie er den Kopf zurücklegte und hinauf an die Autodecke schaute.

»Fahr«, sagte ich zu Amos.

»Bist du sicher?«

»Fahr schon.«

Er zögerte noch einen Moment, er wusste, dass dies meine letzte Chance war. Gideons Hände waren noch immer im Nacken verschränkt, sein Gesicht nach oben gewandt, der Hund schmiegte sich an seine Brust und leckte seinen Hals.

Amos ließ den Motor an, und wir fuhren los. Mit einem schnellen Blick nach hinten, durch die regennassen Scheiben, sah ich die feuchte Zunge des Hundes, zitternd und glänzend.

Nadav war begeistert vom Jeep, und das Leben bekam in diesem Moment seine Bedeutung durch das moderne Armaturenbrett, das das Universum in grünlichem Phosphorlicht aufleuchten ließ. Wer für Kinder Blickfelder erschuf, hatte an alles gedacht.

Der Alte erwartete uns an seinem Fenster und war noch älter geworden. In ihm mischte sich Zorn darüber, dass wir weggefahren waren, mit Freude über unsere Rückkehr. Der Junge erzählte ihm vom Jeep, ich sagte nicht viel, aber ich erinnerte mich, dass ich die Sache mit den Schuhen übernommen hatte, und sagte, vorläufig würden wir im Dorf bleiben.

Von morgens bis abends war ich wie Hänsel und Gretel, ich folgte den Brotbröckchen und suchte den Anfang. Suchte nach Vergesslichkeiten, die verstreut auf dem Weg lagen. Da war zum Beispiel jener Schabbat, als er früh aufgestanden war, der Junge und ich schliefen noch, er nahm seine Tasche und die Robe und fuhr zum Gericht, setzte sich auf die Schwelle und wartete darauf, dass der Hausmeister aufschloss, und dann kam ein Mann vorbei und sagte, mein Herr, das Gericht ist am Schabbat geschlossen. Er kehrte nach Hause zurück und zog wieder seinen Pyjama an, konnte aber nicht mehr einschlafen. Wir hatten darüber gelacht, wir dachten, er habe aus lauter Überarbeitung das Zeitgefühl verloren, und beschlossen, den ganzen Tag im Bett zu bleiben. Ein rotes Licht ging über unseren Köpfen an, und wir sahen es nicht, was heißt da ein Licht, ein Scheinwerfer. Und was hätte es gebracht, wenn wir es gewusst hätten? Allmählich gingen weitere Lichter an, aber unser Unwissen schützte uns, wer dachte an Krankheiten, wer ahnte, dass dieses brillante Gehirn die Herrschaft über seinen Besitzer ergreifen würde.

Madonna und Amjad waren die Ersten, die es erfuhren. In einer Pause zwischen einem Kunden und dem nächsten erzählte ich es ihnen. Wir aßen Brötchen mit Schnittkäse, Madonna saß auf der Theke, ich auf dem Schemel und Amjad auf einer Kiste. Er nahm meine Worte wahr, er hörte auf, das Brötchen zu kauen, schaute auf das Salzwasser im Heringsfass, sein Blick blieb lange an den toten Heringen hängen, er rührte das Brötchen nicht mehr an. Madonna schwieg, senkte den Kopf, zog die schmalen Schultern hoch, sprang von der Theke und umarmte mich. »Ich würde auch sterben wollen, wenn mein Kopf nicht mehr funktioniert.« Schwarze Schminke wurde von ihren Tränen verschmiert. Sie schlang ihre dünnen Arme um mich und weinte lange, vermutlich galt ihr Weinen auch den vielen Schmerzen, die sie in ihrem Leben erlitten hatte, und all den Schmerzen, die noch kommen würden.

Ausgerechnet Jonathan, meinem Bruder, erzählte ich nicht gleich davon, denn ihm wurde in jener Woche ein Sohn geboren. Es wäre taktlos gewesen, ihm von einem vergehenden Leben zu erzählen, wenn gleichzeitig ein anderes Leben gerade begann. Aber als er anrief und sich nach Gideons Telefonnummer erkundigte, sagte ich, Gideon könne nicht kommen, er sei schon auf dem Weg zu einem anderen Ort.

»Man muss ihn retten, Amia, die Bibel gebietet  …« Er war aufgeregt.

»Retten, wozu? Lass die Bibel, Jonathan, die Bibel braucht keine Hilfe, wer Hilfe braucht, ist derjenige, der seine letzte Schlacht gegen den kämpft, der den Menschen Verstand schenkte und der ihn viel zu früh aufgegeben hat.«

Jonathan hörte, wie ich den Himmel und die Bibel beschimpfte, er beherrschte sich lange, dann sagte er: »Tu, was du für richtig hältst, aber bitte sprich nicht so.« Er fürchtete, ich könnte den Zorn des Himmels auf mich ziehen und er würde mir eine Lehre erteilen, die noch bitterer ausfallen würde als die, die er mir schon erteilt hatte.

Nur vor meinem Jungen, meinem einen und einzigen Verbündeten, verschwieg ich die Wahrheit und erzählte ihm, dass die Krankheit seines Vaters ernst sei und er in ein fernes Land reise, um Heilung zu finden. Es hatte keine Eile, die Wahrheit lief nicht fort, und wenn es sein musste, konnte sie auch sieben oder acht Jahre warten.

Wir lebten weiterhin im Dorf, der Laden finanzierte unseren Unterhalt, ohne dass ich ständig anwesend sein musste. Madonna kämpfte um jeden Kunden, warf ihre ganze Seele in die Waagschale, und Amjad half ihr, er zügelte ihre Wildheit und die Tiefe ihres Ausschnitts.

Sie behandelten mich mit demonstrativer Vorsicht, kochten mir Kaffee, brachten mir einen Stuhl, aber ich hatte schon bald genug davon, die Heilige zu spielen. »Los, leg Britney Spears auf, damit wir was hören«, sagte ich zu Madonna.

Sie gehorchte, und ich stellte das Gerät lauter, wie an jenem Tag, an dem ihr Vater beerdigt worden war, die Musik flog über die Tische vor dem Laden, und meine beiden Gehilfen schauten sich an, Madonna fasste sich zuerst und fragte: »Was ist, hast du etwa jemanden kennengelernt?« Sie holte eine Flasche Wein vom Regal und wollte schon den Korken herausziehen, und sagte: »Frag Amjad, ob ich ihm nicht gesagt habe, dass du nicht allein bleiben wirst, egal, wie sehr du deinen Mann geliebt hast, ich habe ein Auge für solche Sachen.«

»Du irrst dich, Süße. Ich hatte nur Lust auf Britney Spears, das ist alles, und danach lege Amir Banyun und Poliker auf.«

Bevor der Winter seinen Höhepunkt erreichte, grub ich den Garten um und legte Beete an, ich pflanzte Kräuter und Gemüse, ich brachte ein Bewässerungssystem an, für den Fall, dass es zu wenig Regen geben würde, stellte ein Heer von Vogelscheuchen auf, und bald fingen die Samen an zu sprießen, und es wurde grün. Der Alte schaute von seinem Fenster aus zu, überzeugt, dass ich die Zeit totschlagen wollte, und bot mir an, auch seinen Gartenanteil zu bepflanzen. Ich korrigierte ihn nicht, was seine Ansicht wegen der Zeit betraf, sondern stürzte mich auf seinen Garten und verwandelte ihn in einen Blumengarten, ich holte Handwerker, die eine Überdachung anbrachten, um meinen botanischen Besitz gegen die Kälte des Winters und die Hitze des Sommers zu schützen. Der Junge lernte zu jäten und zu pikieren, und der Hund lernte, zwischen den Reihen zu laufen, um die Vögel zu erschrecken. Die Berge in Tibet, die Bergkämme des Himalaja und die Erde im Garten des Alten, alle waren Teil der Erdkruste, und diese Erde brachte Keime hervor und verschlang Menschen, und Jonathan, mein Bruder, pries die Wunder und sagte, groß sind deine Werke, oh Herr.

Und wenn man gerade von Gott spricht, meine Rechnung mit dem Himmel war noch offen, und ich war hart gegen ihn, denn er schuldete mir viel, trotzdem meldete ich den Jungen in einer religiösen Schule an. Ich konnte ihm nicht den Glauben vorenthalten, der so vielen Menschen auf unserem Planeten Trost gibt. Er wird älter werden und dann selbst über das Wesen des großen Blau entscheiden, ob die Räume zwischen den Galaxien leer sind oder der Wohnsitz eines barmherzigen und wahrhaftigen Gottes.

Zuerst sprossen die roten Pelargonien, danach blühten die Zyklamen, dann die Stiefmütterchen. Sogar der Alte, der seine Erde vernachlässigt und ihr gegrollt hatte, fragte: »Gibt es auch Narzissen?«

Ich antwortete: »Es wird welche geben.« Ich kaufte Narzissen, pflanzte sie, sie gediehen und blühten prächtig.

Gideon benutzte die Karte, die er für den Fernen Osten hatte, flog dorthin und kletterte auf die Berge des Himalaja, und weil ich ihn liebte, suchte ich nicht nach ihm. Seine Eltern schickten ein Flugzeug mit einem Rettungsteam los, aber sie kamen unverrichteter Dinge zurück.

Vermutlich hat er es geschafft, und ich werde nie erfahren, ob er in einem in einen Felsen gehauenen Kloster aufgenommen wurde, wo ihn tibetische Mönche mit Reis fütterten, sich über seine Eigenheiten wunderten und ihn für einen Heiligen hielten. Oder ob er auf einem verschneiten Gipfel seinen letzten Atem aushauchte und Adler seinen Leichnam fraßen, oder ob er im Schnee erfror. Und es gab noch andere Arten zu sterben, die nicht weniger logisch gewesen wären, zum Beispiel, dass Gott ihn liebte und ihn als Engel zu sich nahm, wie er es mit Hanoch getan hatte.

Ich neige dazu, Letzteres zu glauben, denn wie viele Geschöpfe hat Gott, die sein Ebenbild auf diese Art und Weise heiligen, deren Leben ohne ihn keinen Sinn hat. Nur er weiß, wie vielen Menschen er den Verstand entzogen hat, und statt für die Heiligung des Ebenbilds zu sterben, wurden sie Organsäcke, die nur noch atmeten und Ausscheidungen von sich gaben. Ist es da ein Wunder, dass er ihn bei sich haben wollte?

Abends, wenn der Junge eingeschlafen ist, gehe ich hinaus zur Schaukel, ich rieche das Leben, das aus der Erde bricht, ich höre die Kiefernnadeln im Wald fallen und sehe das flimmernde Licht des Fernsehers im Haus des Alten. Manchmal kommt Madonna zum Schlafen zu uns, dann sitzt sie mit mir auf der Schaukel, ich trinke ein Glas Merlot, sie mindestens zwei. Der Junge freut sich, wenn er morgens neben ihr aufwacht, sie bestiehlt uns auch nicht mehr. Wenn meine Beete blühen und alle Pflanzen aufgegangen sind, werde ich ihr den Laden verpachten und den Boden bestellen. Sie hört es und lacht. »Du? Wofür hast du an der Universität studiert?« Sie schlägt mir vor, mit Handschuhen zu arbeiten, mich einzucremen und einen breitrandigen Hut aufzusetzen. »Du willst doch auf deine Haut aufpassen, nicht wahr? Ganz bestimmt lernst du irgendwann jemanden kennen, oder? Wann hast du Geburtstag? Ich kaufe dir eine Creme.«

»Im Tevet. Ich bin im Winter geboren, am Tag meiner Geburt hat es heftig geregnet. Hör mal, ich erzähle dir eine Geschichte. Im letzten Jahr kam Gideon, mein Mann, mitten im Sommer mit einem Blumenstrauß und Karten fürs Theater an, er küsste mich und sagte, herzlichen Glückwunsch. Wieso denn das?, fragte ich. Was heißt das, wieso, fragte er, du hast doch Geburtstag, oder nicht? Was ist mit dir, sagte ich, mein Geburtstag ist erst in einem halben Jahr. Im Ernst?, fragte er, und ich stellte die Blumen in eine Vase und zog mich fürs Theater an, und er griff sich an den Kopf. Um Himmels willen, wie konnte ich das vergessen. Da siehst du mal, wie dumm man sein kann, statt zum Arzt zu gehen, geht man ins Theater.«

Madonna hörte zu und zog die Flasche näher zu sich, ich griff mit einer Hand nach ihr, mit der anderen nach dem Flaschenhals, sie befreite sich aus meinem Griff und lachte. »Pass auf, du hast es mit einer kleinen russischen Hure zu tun, hast du das vergessen?« Sofort wurde sie wieder ernst.

Ich ließ die Flasche los, und sie goss uns beiden ein.

»Wie gesagt, ich werde dir eine Creme kaufen, mit Schutzfaktor dreißig, wann hast du gesagt, im Tevet? Was haben wir jetzt? Als Rivka Schajnbach habe ich die jüdischen Monate im Schlaf aufsagen können, jetzt kenne ich nur noch die Monate der Gojim. Januar, Februar und so weiter. Ehrlich gesagt, was spielt der Kalender für eine Rolle, der jüdische oder der christliche, die Zeit vergeht so und so.«

Ihre Stimme zitterte, vielleicht vor Sehnsucht nach Rivka Schajnbach und dem jüdischen Kalender, die sie in der Jisa-Bracha-Straße zurückgelassen hatte, und vielleicht aus Angst vor der Zeit, die verging.

»Apropos Zeit, die vergeht, was willst du tun, wenn du mal groß bist?«

»Irgendetwas. Ich werde so oder so ein gutes Leben haben. Ich mache keine Pläne, ich lebe für den Moment. Schau dich an, du hast studiert, du hast geheiratet, Mann, Familie und alles. Was ist das Ende? Du hast einen Laden und bist allein. Was haben dir deine Pläne genützt? Ich nehme alles, wie es sich bietet, ich komme schon zurecht. Mein Vater hat mich mit siebzehn aus dem Haus geworfen und gedacht, dass ich auf allen vieren zurückgekrochen komme, dass diese dünne weiße Rivka keinen Tag durchhalten würde. Und was war? Er hat sich gründlich getäuscht. Mich kriegt keiner klein.«

»Doch, Gott«, sagte ich aus Erfahrung.

»Misch ihn hier nicht hinein. Er ist dort, und ich bin hier. Mein Vater und seine Synagoge haben sich von ihm beherrschen lassen, für andere war nichts übrig. Wenn ich dort geblieben wäre, wäre ich heute mit einem Frommen verheiratet, hätte drei Kinder und einen dicken Bauch.« Sie trat gegen einen Pfosten der Schaukel, zog eine Zigarette aus der Tasche, steckte sie mit zitternden Fingern an und sagte: »Gott, na ja. Warum bin ich so schwermütig geworden? Gib ein bisschen Wein her, willst du etwas hören? Eines Tages kam ein älterer Mann in den Laden, mit Bauch und Glatze und so und einem Ring von hunderttausend Dollar an der Hand, ich schwöre es. Er sagte, du gefällst mir, und schenkte mir ein Parfüm von Christian Dior. Ich sagte, mich kauft man nicht mit Parfüm. Er fragte, sondern mit was? Ich sagte, mit Brillanten. Kein Problem, komm heute Abend ins ›Oceanus‹. Ich zog geile Klamotten an und ging hin. Er kam herausgeputzt an, stank nach Parfüm, legte eine kleine Schachtel auf den Tisch und sagte, mach auf. Ich fragte, wie viel Karat? Er sagte, achtundzwanzig. Ich öffnete die Schachtel nicht, ich stand auf, nahm meine Tasche und sagte, Schätzchen, es gibt einen, der bietet mir fünfunddreißig Karat. Nach ein paar Tagen kam er in den Laden, es waren gerade viele Kunden da, ich hob den Finger mit dem glitzernden Zirkon, den ich auf dem Markt gekauft hatte, und sagte, fünfundvierzig Karat.

›Hättest du wohl gern‹, sagte er zu mir vor allen Kunden, und ich sagte, Schätzchen, in unserer Schule gibt es keinen Menschenhandel. Wer mich sieht, denkt, dass ich eine bin, die man mit Leichtigkeit bekommen kann, aber so ist es nicht, na ja, sagen wir mal, außer in besonderen Fällen. Zum Beispiel hat mich dieser Gabriel, dem du die Wohnung vermietet hast, mit keinem Finger berührt. Einmal habe ich gesehen, wie er sehr traurig war, er hat mir so leidgetan, dass ich gesagt habe, gut, fass mich an, ich mache dir ein bisschen Spaß, und er hat gesagt, nein danke. Ich habe gesagt, kein Problem.«

Sie goss sich Wein ein, trank und sagte: »Was soll ich dir sagen, als ich Rivka Schajnbach war, war mein Leben schwer, es hat Tonnen gewogen, und jetzt? Jetzt wiegt es wie ein Koffer mit acht Unterhosen und sechs dünnen Kleidern. Ein Vergnügen.« Sie brach in schallendes Gelächter aus, der Alkohol war ihr schon anzumerken. Ich schob die Flasche weg und sagte, ich wünschte, ich hätte auch ein Leben, das sechs Kleider wiegt.

Von Zeit zu Zeit sitzt auch Amos, der Sohn des Alten, neben mir auf der Schaukel. Der Alte, der ein Geheimnis aus den Schuhen in seiner Schublade macht, lässt ihn nicht ins Haus. Sie wechseln ein paar Worte im Stehen, vom Fenster zum Hof und vom Hof zum Fenster, Amos hält ihm eine Tüte Äpfel hin, der Alte streckt die knochigen Hände aus, nimmt die Äpfel und verschwindet vom Fenster. Die Zeremonie ist zu Ende, und Amos betrachtet interessiert meine kleine Landwirtschaft, berät, schneidet, spannt Schnüre, dünnt aus. Der Junge und der Hund weichen ihm nicht von der Seite. Er isst mit uns zu Abend, und wenn der Junge eingeschlafen ist, geht er mit mir hinaus auf die Schaukel. Wenn er bei uns übernachtet, frühstückt er mit uns und erzählt Nadav von Emotion und den Hunden, und Nadav schaut ihn mit großen Augen an und vergisst, das Essen, das er im Mund hat, runterzuschlucken.

Und obwohl seine Besuche bei uns und die Übernachtungen zunehmen, gibt es Abende, die ich nur mit dem Himmel teile, ich sitze auf der Schaukel und betrachte die Sterne, die zu Tausenden über dem Dorf leuchten. Stunden davor hatten sie über dem Himalaja geschienen und das Flackern einer Pupille aufgesogen, das letzte Aufflackern eines Lebens, und es mit ihrem Licht vereint. Und wenn es die Sterne tun, umso mehr tut es der Mond, dessen Licht ausgeliehen ist. Am Beginn des Monats, wenn sein Licht schmal und sauber ist, betrachte ich seinen Hof, scharre in seinem Licht, als könnte ich dort den Glanz eines Auges sehen, den Funken eines sterbenden Verstands.

Letztendlich sind die Lichter, die Gott geschaffen hat, gut, er schuf sie mit Verstand, mit Klugheit und mit Vernunft.