4

In der Nacht raschelte die Rose, abgestorbene Blätter fielen, wurden weitergeweht und fanden keine richtige Ruhe.

Ich war allein zu Hause, ohne Kind, ohne Mann, ohne Hund, das Haus war leer und voller Unruhe. Obwohl mir das ganze Haus zur Verfügung stand, fand ich keinen Platz, ich ging zum Fenster. Das Husten alter Lungen war zu hören, doch auch ohne dieses Husten hätte ich gewusst, dass die Augen des Alten vom Fenster gegenüber die Dunkelheit durchbohrten.

»Nun, ist Ihr Mann weggefahren?« Ich war in der Dunkelheit versteckt und leise wie eine Ameise, und er wusste, dass ich hier stand. Er war ein geübter Fenstergucker, Nasenbohrer, Spucker und Kratzer, bestimmt waren ihm längst besonders empfindliche Sensoren und Melder aus der Haut gewachsen.

Am Morgen hatte er ihre Fußabdrücke im Sand gesehen und gewusst, dass Gideon weggefahren war und den Jungen und den Hund mitgenommen hatte. In der feuchten Erde waren ihre Spuren zurückgeblieben.

»Entschuldigen Sie, aber unser Vertrag erlaubt keine Untermieter«, rief er mir zu.

»Was für ein Untermieter? Er ist mein Mann.«

»Nicht er, der Hund.« Der Wind warf seltsame Schatten auf sein Haus und dämpfte das Licht der Straßenlaterne.

»Wir haben drei Personen ausgemacht, Frau Amia, mit dem Hund sind es vier.«

Ich wurde lauter. »Okay, wir haben ausgemacht, dass ich ein leeres Haus bekomme, ohne andere Mieter. Sie bestehen auf drei Personen? Dann entfernen Sie gefälligst die Kakerlaken, die vom Vormieter zurückgeblieben sind, die Motten und die Holzwürmer und die zwei dicken Fliegen, die jeden Morgen in der Küche herummachen.« Er gab keine Antwort, und ich schwieg auch und dachte an meine drei Personen. Ich hatte einen Mann und einen Sohn, und beide waren jetzt in einer Hütte, in einem Wohnwagen, in einem Schuppen oder einem Zelt, die Schuhe des Jungen waren aneinander festgebunden, er hielt sie an den Schnürsenkeln fest, er träumte die Träume von Kindern, deren Erzeuger ihr Leben in Stücke zerlegen. Daneben schlief der Hund, der nicht wusste, woher er kam und wohin er ging und nur gestreichelt und gefüttert werden wollte. Für drei Tage waren sie weggefahren, und es war, als wäre es für ewig. Morgen werde ich mir den Zopf abschneiden, ich werde ins Café gehen, dann ins Kino, ich werde mir Popcorn kaufen, ich werde mir einen Woody-Allen-Film anschauen, und der Bauch wird mir wehtun vor Lachen und vom Popcorn, dann werde ich nach Tel Aviv fahren, ich werde am Strand sitzen und das Meer betrachten  … Aber als der Morgen kam, zog ich eine meiner drei abgetragenen Jeans an, verließ das Haus, zog das Blatt Papier, das aus dem Briefkasten ragte, nicht heraus und fuhr zum Laden. Ein Mann, der von der Synagoge kam, kaufte zwei Brötchen, bezahlte und sagte: »Ich wünsche Ihnen einen guten Monat.« So erfuhr ich, dass der Monat der Buße und der Gnade begonnen hatte. Der Sommer war in seine letzte Phase eingetreten, der Kreis schloss sich.

Ich räumte allein die Milchkisten auf, Amjad kam mit drei Stunden Verspätung. Man hatte die Grenzübergänge gesperrt, es hatte eine akute Warnung gegeben, man sagte, eine Bombe tickte. Ich beschloss, ihm den ganzen Tageslohn auszuzahlen, denn ich gab ihm seinen vollen Tageslohn auch an Tagen, an denen die Sicherheitskräfte ihn daran hinderten, seiner Arbeit nachzugehen, man würde mir keine Tapferkeitsmedaille für meine Mildtätigkeit geben und unser Planet wurde nicht sympathischer dadurch, aber trotzdem. Amjad arbeitete und hörte dabei Radio, er lief hin und her, als ticke die Bombe in seinem Kopf. Er hatte eine Frau und drei Kinder, Schulden und ein kleines, enges Haus, eine Bombe, die irgendwo explodierte, stahl ihm das Brot aus dem Mund. Ich sah ihn an und dachte an Gideon, der eine Frau und einen Sohn hatte, einen Beruf und eine geräumige Wohnung, und dem es so eng ums Herz war, dass kein Platz blieb, nicht für mich, nicht für seine Eltern, nur eine kleine Nische für den Jungen, und auch das nur bedingt. Und was war mit mir, warum wagte ich nicht, das zu berühren, was sein Herz zusammenkrampfte, warum fragte ich nicht, was ist mit dir, Gideon? Was nagt an dir? Wir waren doch mal bis über beide Ohren verliebt gewesen, wir lieben uns immer noch. Auch als wir mit der Karriere beschäftigt waren, beteiligten wir einer den anderen an den großen und kleinen Dingen, die uns erfreuten oder ärgerten und die Einfluss auf unser Leben hatten, bis das »wer oder was bin ich« anfing, an seiner Seele und an seinem Herzen zu nagen, und es dazu brachte, sich zu verkrampfen und zusammenzuschrumpfen.

Amjad beugte sich über eine Kiste und die Adern an seinen Schläfen schwollen an, sodass ich fürchtete, sie könnten platzen und das Blut würde herausspritzen. »Warte, wir heben sie zusammen.«

»Es ist schon vier, gehst du nicht zu deinem Sohn?« Er schaute mich über die Kiste hinweg an.

»Der Junge ist mit seinem Vater nach Eilat gefahren.«

»Ach so, Eilat. Eilat ist schön.«

»Ja.«

Ich sagte Ja, und dabei wusste ich nicht, ob sie überhaupt dort angekommen waren, vielleicht hatte dieser kleine Wodka sie in Schwierigkeiten gebracht, war weggelaufen, hatte gebissen, sich gewehrt, gekratzt. »Einen Moment, ich muss mal schnell telefonieren«, sagte ich, ließ ihn mit der Kiste mit den Ölflaschen stehen und rief Gideon an.

»Mama, in diesem Hotel erlauben sie keine Hunde, deshalb schläft Wodka nachts bei Nadja.« Nadav war aufgeregt, er erzählte von dem Boot mit dem Glasboden, mit dem sie gefahren waren, vom Schwimmbad des Hotels, von dem vielen Eis und von allen anderen Freuden, die Gideons schlechtes Gewissen ihm beschert hatte, aber ich hörte schon nicht mehr zu.

Hotel? Warum ein Hotel? Warum waren sie nicht in einen Wohnwagen gegangen, in ein Zelt, zu einer Hütte, zu dem Ort, an dem Gideon wohnte? Nadja, wer war diese Nadja, die diesen deutschen Findling aufgenommen hatte, vielleicht war sie ja Gideons Zuhause, wenn er den Jungen nicht am Hals hatte. Und wenn es ihm so gut ging, warum ging es ihm dann so schlecht? Warum hatte er magere Arme und hängende Schultern?

»Ich war noch nie in Eilat«, sagte Amjad. »Ich war auch noch nie in Haifa oder in Tiberias. Und in Tel Aviv erst ein einziges Mal.«

Weil Tel Aviv Amjads am weitesten entfernter Punkt war und wegen Nadja und dem Hund und wegen des allgemeinen Leids und des gequälten Herzens sagte ich: »Hör zu, es wird Zeit, dass du mehr Lohn bekommst.« Er fragte nicht, wie viel, warum, wann. Er schwieg und kümmerte sich weiter um die Ölflaschen. Ich nahm dreihundert Schekel aus der Kasse und sagte: »Ein Vorschuss.« Er berührte das Geld nicht, schaute nachdenklich vor sich hin, dann griff er nach den Scheinen, faltete sie zusammen, stieß ein »Danke« aus und steckte sie ein. Wofür würde er sie ausgeben? Für Schuhe für den Kleinen? Für einen Zahnarzt für seine Frau? Oder würde er damit die Stromrechnung bezahlen? Nach Tiberias fahren?

Ich verließ den Laden, als die Abendröte am Himmel erschien und die Bäume, die von der Stadtverwaltung gepflanzt worden waren, einfärbte. Na ja, Bäume. Magere Stämmchen, mit Stöcken gestützt, botanische Greise, deren Saft ausgetrocknet war. Ich ging zum Gemüsehändler und kaufte Gemüse für eine Suppe, und der Duft der Guaven stieg mir in die Nase. Gelblich grün und prall leuchteten sie aus den Kisten, die er einladend ausgestellt hatte. Ich drehte sie um und suchte mir die prachtvollste Frucht aus, schwer, gelb, vollkommen. Der Gemüsemann wickelte sie für mich ein, ich bezahlte und vergaß das orangefarbene Gemüse, dessentwegen ich gekommen war.

Ich war schon ohne Zopf, als ich an die Wohnung in der Feigenstraße 9 klopfte und hörte, wie er zur Tür kam.

»Warum?«, fragte er, als ich noch an der Tür stand, schüttelte den Kopf und betrachtete meinen Schädel von links und von rechts. »Zweimal warum? Warum hast du ihn abgeschnitten, und warum bist du gekommen?«

»Ich habe ihn abgeschnitten, weil ich genug davon hatte. Und ich bin gekommen, um dir etwas zurückzugeben.« Ich machte meine Tasche auf und reichte ihm die Tüte mit der Guave.

Er lachte, legte mir die Hand auf die Schulter, forderte mich auf, einzutreten und sagte: »Die erste Antwort ist nur halb wahr, die zweite ganz und gar gelogen.« Sein helles Jeanshemd stand ihm sehr gut. Er sah jünger aus als beim letzten Mal, als wir, der Junge und ich, gekommen waren, um uns den abgerissenen Himmel zurückzuholen. Vielleicht war er kurz vorher von der Arbeit zurückgekommen und hatte noch nicht das Image des charmanten Dozenten abgelegt, oder ich hatte ihn an einem Tag erwischt, an dem das Leben es gut mit ihm meinte und ihn attraktiv machte. Er ging in die Küche, mit diesem Mir-kann-nichts-passieren-Gang, der früher sein Kennzeichen gewesen war. Sein Rücken war gerade, die Brust nach vorn gewölbt und gespannt, er brachte ein Messer und einen Teller, teilte die Guave in der Mitte und sagte: »Halbe-halbe.« Er schlug die Zähne hinein und drehte das Gesicht zu mir. »Nun, warum isst du nicht?«

»Ich bin hergekommen, um meine Schuld zu bezahlen, wenn ich jetzt esse, bleibe ich dir wieder etwas schuldig.« Trotzdem schnitt ich mir ein Stück von der geteilten Guave ab.

Er schmatzte vor Vergnügen. »Der September riecht immer nach Guaven.«

»Auch der Elul«, sagte ich, aber ein schneller Blick durch seine Junggesellenwohnung zeigte mir, dass der zwölfte Monat des jüdischen Kalenders nicht mehr zu seinem geistigen Repertoire gehörte. Der Korb mit den Zeitungen war voller Ausgaben in Englisch und Französisch, und in seinem Bücherregal stand eine zerfledderte Bibel, ein Relikt aus seiner ersten geistigen Reinkarnation, eng gequetscht zwischen dickbändigen Werken der Philosophie, der Geschichte, der Soziologie und Kunstbänden. Die Bibliothek eines gewöhnlichen westlichen Intellektuellen. Er sah, wie ich seine Bücher prüfte, lächelte und kniff die Augen zusammen.

»Heute ist der erste Elul«, sagte ich.

»Er tut mir leid.« Er deutete hinauf zur Decke und meinte den Himmel. »Am Ersten des Monats fallen ihm die Sephardim schon ab nachts um drei zur Last, und am Monatsende gesellen sich die Aschkenasim dazu.« Ein letztes Licht fiel aus dem Fenster auf die Guave, in die seine Zähne ein tiefes Relief geschlagen hatten. »Du musst dich auch für deinen wunderbaren Zopf entschuldigen, den du einfach abgeschnitten hast.« Mit geübter, natürlicher Selbstverständlichkeit strich seine Hand über meinen nackten Nacken, streichelte die Haut, glitt über die Wirbelsäule und blieb liegen. Ich hustete wegen des Guavestücks, das in meiner Kehle stecken blieb, bevor es hinunterglitt. Wie eine Kaskade von Dominosteinen schlugen meine Zähne gegeneinander, die Haut erinnerte sich und ignorierte das, was die Seele verdrängt hatte, damit es vergessen werden konnte.

»Aber warum hast du dir die Haare so kurz schneiden lassen?« Er berührte mein Ohrläppchen. »Haare bedeuten  Kraft. Denke an Samson.« Er näherte sich mit den Lippen meinem Hals, und mir lief ein Schauer über den Rücken. Draußen wurde es dunkler, der Stoffschirm der Stehlampe warf einen Lichtkreis, aber die Bücher, die Guavestücke und wir befanden uns im Dämmerlicht. Ich spannte mich, und mit einer plötzlichen Bewegung drehte ich mich zur Seite, mein Nacken schüttelte die fremde Hand ab, die ihn berührte. Sein Telefon klingelte, er streckte die Hand nach dem Gerät aus, und ich ging ins Badezimmer. Aus dem Spiegel blickte mir eine fremde Frau entgegen, mit kurz geschnittenen stoppeligen Haaren, die die Form ihres Kopfes freilegten. Sie war erregt wie ich, aber jünger und schöner, auch sie hatte kurze Haare, und an ihrem Hals und in ihrem Ausschnitt waren noch abgeschnittene Härchen zu sehen. Ich drehte den Hahn auf und wusch mir den Hals, und die abgeschnittenen Haare blieben im Waschbecken, Dunst stieg auf und beschlug das Spiegelbild, die Frau verschwand. Ich trocknete mich mit dem einzigen Handtuch ab, das dort hing. Es war vom häufigen Waschen hart, die Farbe verblasst. In diesem Badezimmer waren keine weiblichen Utensilien zu entdecken. Eine einzige Zahnbürste, Deodorant, der Bademantel eines Mannes, Hausschuhe eines Mannes. Seife und Shampoo waren einfache Artikel aus dem Supermarkt, ein Kamm, in dessen Zinken noch ein paar Haare hingen, die nur von einem Mann stammen konnten. Ich zog mit dem Finger Furchen in den beschlagenen Spiegel und schrieb das Wort Elul hinein. Im vom Dunst befreiten Teil des Spiegels sah ich asymmetrische Lippen und starke Zähne. Scha’ul Harnoi stand hinter mir und atmete in meinen nackten Nacken.

»Wie viele Kinder hast du?«, fragte ich, mit dem Rücken zu ihm.

»Drei.«

»Sind sie bei ihrer Mutter?«

»Was spielt das jetzt für eine Rolle.« Der Anblick wurde klarer, das Wort Elul zeigte sich im Dunst wie mit dem Finger in Staub gemalt.

»Du hast recht. Es geht mich nichts an. Ich gehe jetzt.« Ich drehte mich zu ihm um. Er trat zur Seite, um mir den Weg in den Flur freizumachen.

»Hör zu, diese ganze Geschichte mit der Guave war überflüssig«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was mir eingefallen ist.« Ich griff nach meiner Tasche.

Er lachte. »Und am Schluss bleibst du mir wieder etwas schuldig.«

»Ich schulde dir gar nichts.«

»Eine halbe Guave«, sagte er, und diesmal lachte er nicht. Seine Augen blitzten wie früher, wenn er seine Gegner bei ideologischen Diskussionen besiegt hatte, wenn er ein semantisches oder philosophisches Kaninchen aus dem Hut gezogen und eindeutig gesiegt hatte. Ich verließ ihn mit einer Eile, die deutlich zeigte, dass ich kein Interesse an irgendeiner Abschiedszeremonie hatte. Ich schloss die Tür hinter mir, und er konnte von seiner Wohnung aus meine Sandalen hören, als ich leichtfüßig wie ein Kind die Treppe hinunterlief. Er würde mich vom Fenster aus auch sehen können, wenn ich in den Mazda sprang. Ich fühlte mich so leicht, als hätte ich ganze Kilogramme und Jahre auf dem Fußboden des Friseurladens zurückgelassen. Scha’ul Harnoi stand an seinem Fenster im zweiten Stock und sah zu, wie meine Sohlen kaum den Asphalt berührten. Er konnte mich nicht beschuldigen, betrunken zu sein, schließlich war er mit seiner Nase bei meinem Mund gewesen, und er konnte nichts anderes gerochen haben als Guave. Mit dem Haareschneiden war Gewicht von mir abgefallen, als hätten die Haare auch meine Seele belastet. Nun, da die Haare weg waren, hätte ich wie Mary Poppins über die Dächer schweben und den Mond mit einer Regenschirmspitze aufspießen können. Doch ein dumpfer Schlag unterbrach meine Fantasien. Eine eingewickelte unreife Guave knallte auf das Dach des Mazda, und auf dem Einwickelpapier stand:

»Wenn du eine Verkäuferin bist, bin ich ein Frosch.«

»Dann bist du ein Frosch«, schrie ich zu seinem Fenster hinauf. Er hob die Hände über den Kopf zum Zeichen der Unterwerfung. Mein Schreien hatte Köpfe an die Fenster gelockt, neugierige Augen verfolgten die Szene und wurden enttäuscht, die Szene eines Fremden ist das beste Mittel, dich von deinen eigenen Szenen abzulenken. Der Mond über der Feigenstraße hing als weiße Sichel verlassen am schwarzen Himmel, klein wie der abgeschnittene Fingernagel eines Säuglings, ich hätte ihn herunternehmen und als Ohrschmuck verwenden können. Schon lange hatte ich mich nicht mehr so stark und energisch gefühlt, Wind blies mir durch die kurzen Haare und drückte sie an meinen Kopf. Ich war glücklich, eine Ladenbesitzerin zu sein, glücklich darüber, dass ich den Mut hatte, eine Ladenbesitzerin zu sein, die den größten Teil ihres Lebens noch vor sich hatte, ich war glücklich, mit Brot, mit Margarine und Mehl zu handeln. Nein, ich vergaß nicht, dass ich einen Mann hatte, mit mageren Armen, und einen Sohn, dessen Seele zu zart für dieses Leben war, und dass es eine gewisse Nadja gab und außerdem auch Wodka. Und dennoch, an jenem ersten Elul, an dem Tag, an dem mein Kopf leer geworden war, war ich glücklich. Ich suchte nicht nach einer Rechtfertigung für dieses Glück, von mir aus konnte es auf biochemischen Gründen beruhen, auf dem zerbrechlichen Gleichgewicht der Enzyme, der Hormone, der Elektrolyse und Ähnlichem. Das Samson-Syndrom funktionierte bei mir komplett anders, als Scha’ul Harnoi es mir vorausgesagt hatte. Ich war voller Kraft. Die Scheren, die meinen Kopf berührt hatten, hatten Wunder bewirkt. Ich hob den Blick nicht zum zweiten Stock, um zu sehen, ob er noch dort stand, ich stieg in den Mazda und fuhr los.

Das orangefarbene Licht der Straßenlaternen nahm ab, je weiter ich Richtung Süden fuhr, auf der Straße, die sich bis zum Dorf schlängelte. Ein schwarzer Ärmel tauchte plötzlich am dunklen Straßenrand auf. Mein plötzliches Bremsen erschreckte die Gestalt, sie verschwand im Gebüsch und tauchte wieder auf. Ein Mann in Schwarz machte die rechte Vordertür des Mazda auf, so selbstverständlich, als handle es sich um ein Taxi, das er bestellt hatte, er setzte sich auf den Beifahrersitz, schloss die Tür, schnallte sich an und fragte nicht, wohin ich fuhr. Auch ich fragte nichts, ein Blick hatte mir genügt, sie sofort zu erkennen. Ich nahm den Fuß von der Bremse und fuhr weiter. Mir war egal, was sie wollte, welche Pläne oder bösen Absichten sie hatte, ich wusste, dass mir in dieser Nacht nichts Schlimmes passieren konnte. Die Harmonie zwischen mir und der Welt war vollkommen. Die erste Nacht des Elul und ein winziger Mond waren in mir. Madonna bewegte sich nicht und sagte kein Wort, ihr Blick war auf die Straße gerichtet, als gäbe es für sie nichts Wichtigeres auf der Welt als das Ziel, auf das sie sich hinbewegte. Wenn sie reden würde, würde ich ihr antworten. Nein, nein. Wegen meiner neuen Frisur und der Dunkelheit im Auto hatte sie mich nicht erkannt. Obwohl wir kein Wort wechselten, störte mich die Gestalt, die rechts neben mir atmete, dabei, die Fahrt in die Freiheit, die mir das vorübergehende Alleinsein bescherte, zu genießen. Wir erreichten die lange Straße, die durch das Dorf führte, und sie sagte nicht, bleib hier stehen, oder ich muss da oder da hin. Sie saß schweigend neben mir, und weil sie nichts sagte, stellte ich auch keine Frage. Ich blieb neben dem letzten Haus stehen, machte die Scheinwerfer und den Motor aus und sagte: »Hier.« Beide stiegen wir aus, gemeinsam, wie die Leibwächter einer hochgestellten Persönlichkeit, das Licht der Straßenlaterne fiel auf mich und auf das weiße Gesicht Madonnas.

»Was suchst du hier?«

Sie legte die Hand auf den Mund und brach in Lachen aus. »Ich soll tot umfallen, du bist es? Wow, wie kurz. Bist du lesbisch geworden oder was?«

Ich ließ nicht locker. »Was suchst du hier?«

»Ich möchte Wodka besuchen.«

»Er ist in Eilat.«

»Was, habt ihr ihn weggegeben?« Sie erschrak, ihr Hals reckte sich, sie bewegte den Kopf hin und her und spähte suchend in die Dunkelheit.

»Er kommt in drei Tagen zurück.« Ich drückte auf die automatische Türverriegelung und wandte mich zum Tor. Das Haus sah aus wie eine Briefmarke auf dem schwarzen Waldumschlag. Ich zog die Post aus dem Briefkasten, die seit dem Morgen auf mich wartete, das Papier war feucht vom Tau, ich knüllte es zu einem Ball und steckte ihn in die Tasche wie eine Karte, die man zur Kontrolle aufbewahren muss. Ich machte das Tor auf und trat ein, ich hörte ihre Schritte, die mir folgten, und ging weiter. Im Haus des Alten war Licht, und seine Gestalt klebte am Fenster, hinter den Ritzen des Rollladens. Ich wusste nicht, ob er seit dem Morgen am Fenster stand oder ob Madonnas Stimme ihn herbeigelockt hatte. Ich hob die Hand, um ihn zu grüßen, als salutierte ich vor seinem Leben hinter dem Fenster und vor der Hartnäckigkeit, mit der er an ihm festhielt. Ich öffnete die Haustür und trat ein, sie folgte mir.

»Ich muss aufs Klo«, sagte sie.

»Du weißt, wo es ist.« Ich wollte, dass sie ging. Sie sollte im Badezimmer verschwinden, sollte sich duschen, schminken, Hauptsache, ich hatte einen Moment für mich. Ich machte das Licht in der Küche an und bedauerte, dass ich kein Baguette oder Brötchen aus dem Laden mitgebracht hatte. Ich war hungrig. Während mir Mary-Poppins-Flügel gewachsen waren, hatte ich nichts gebraucht, doch jetzt, nachdem die Flügel verwelkt waren, sehnte ich mich nach Baguette mit Rührei, nach Schnittkäse und Oliven, und danach noch ein Brot mit Avocado und Zwiebeln, und sogar ein drittes hätte das Loch in meinem Bauch wohl nicht gestopft. Als sie in die Küche zurückkam, war der Tisch schon für zwei Personen gedeckt, in der Mikrowelle tauten bereits sechs tiefgefrorene Brotscheiben auf und in der Pfanne brutzelte ein Omelette, eine doppelte Portion. Wie leicht war es doch, den Magen zu beruhigen, im Vergleich zu dem, was die Seele benötigte, um zur Ruhe zu kommen.

»Setz dich«, sagte ich.

Sie setzte sich, zog das schwarze Jackett aus und entblößte nackte runde Schultern und muskulöse Arme, deren Kraft aus einem Fitnessstudio oder von dem gewalttätigen Spiel des Lebens stammen musste. Ihre Muskeln passten nicht zu ihren zarten Händen. Ich führte ein Messer zu dem runden Omelette und zerteilte es mit einem energischen Schnitt, als würde ich das Schicksal zwischen uns teilen.

»Wie viel hast du für den Zopf bekommen?«, fragte sie und nahm eine Scheibe Brot.

»Gar nichts.«

»Was heißt da nichts? Er war mindestens fünfhundert Schekel wert. Gib ihn mir, ich werde ihn für dich verkaufen, und ich komme nicht mit weniger als sechshundert zurück.«

»Ich habe ihn beim Friseur auf dem Boden liegen lassen.«

»Entschuldige, aber du bist echt bescheuert, ich hatte auch mal lange Haare, blonde, dickere als du, und weißt du, wie viel ich dafür gekriegt habe? Siebenhundert.«

Ich betrachtete diese junge Frau mit ihren schwarzen Rabenhaaren und nahm an, dass der Verkauf ihrer blonden Haare eine Lüge war, die sie mir gerade verkaufte. Sie senkte den Blick, sie war ausgehungert, ich hatte das Essen noch nicht angerührt, da riss sie sich mit den Fingern schon Stücke aus dem Omelette, nahm die Gabel und stopfte sich den Mund voll. Wer weiß, wovon sie sich in der Gosse ernährte, in der sie sich herumtrieb. Sie aß, als wäre dies ihr erstes Omelette seit Jahren, wischte mit Brot das Fett aus dem Teller und vertilgte vier der sechs Scheiben Brot, die ich aufgetaut hatte. Das Leben hatte sie gelehrt, schnell zu nehmen, was ihr geboten wurde, keine Zeit mit Erklärungen und mit Dankbarkeit zu vergeuden. Als wären wir alle gleichberechtigte Teilhaber an den kosmischen Ressourcen, als gäbe es kein Mein und kein Dein, als würde dich die Welt nicht nach der Größe des Brockens einschätzen, der auf deinen Namen eingetragen ist. Nicht, dass ich eine große Sozialistin gewesen wäre, schließlich hatte ich in der Bank ein eigenes Büro gehabt, und von meinem Schreibtisch aus hatte ich Menschen beraten, wie man anderen am besten die Decke von den Beinen zog, und für jeden Geldbeutel, den zu füllen es mir gelang, gab es einen anderen, der leerer wurde. Doch nun, da ein hungriger Mensch sich so selbstverständlich an meinen Tisch setzte, als gehöre er zur Familie, und sich ohne Manieren und Berechnungen vollstopfte, dachte ich, dass es einigermaßen gerecht sei, letztendlich ist Gott der Herr über die Materie, und was in der Welt existiert, ist das, was es gibt, und seine Untertanen sollen zusehen, wie sie damit zurechtkommen, und Madonna kam damit zurecht. Aber anscheinend nicht immer, wie sonst war sie so mager, und warum konnte man die Rippen unter dem billigen Unterhemd erkennen, das sie trug, und woher kam dieser Heißhunger, und warum schlug sie sich den Magen so voll, als gäbe es kein Morgen.

»Wie alt bist du?«

Ein großes Stück Schnittkäse rutschte in ihre Hand, bereit, verschlungen zu werden. »Sagen wir mal achtzehn.«

Ihr Alter war eine Lüge, genau wie ihre blonden Haare. Sie bewahrte das wenige, was ihr gehörte, sorgfältig für sich, Alter, Haarfarbe und andere biografische Daten. Und was spielte es schon für eine Rolle, ob die Sonne seit ihrer Geburt die Erde achtzehn oder neunzehn Mal umrundet hatte? Hätte Nadav achtzehn gehört, hätte er vor der Leistung den Mund aufgrissen, jetzt saß er mit seinem Vater und Wodka am warmen Strand und zählte Sterne. Der Mond über ihren Köpfen ist schmal wie Draht, und Nadav fragt, was damit ist und wo dieses Stück jetzt fehlen mag. Gideon nimmt zwei Steine und erklärt dem Jungen, wie ein Stein, der nichts Eigenes besitzt, Licht zurückwirft, das er von woanders bekommt, wie die Rücklichter eines Fahrrads. Er beschreibt ihm die kalte, unfruchtbare Steinwüste, die kaum Schwerkraft besitzt, und nachdem er ihm den nackten, armen Mond erklärt hat, gibt er ihm etwas von seiner verlorenen Ehre zurück und singt das Lied vom Mond, der jede Nacht herunterschaut.

»Du denkst, dass ich Russin bin, nicht wahr? Alle glauben das.«

»Kaffee?« Ich erhob mich, um Wasser aufzusetzen.

»Kakao.«

Nun, und wenn sie nicht aus Russland kommt? Russland, Kanada, Marokko, Indien, was spielt das für eine Rolle, ob der Bauch, der sie geboren hat, eine Djellaba getragen hat, einen Sari oder ein kurzes, durchsichtiges Chiffonkleid? Das Einzige, was eine Rolle spielte, war, ob das Herz über jenem Bauch sich für sie geöffnet oder zusammengekrampft hatte.

»Es ist mir wirklich egal, woher du kommst. Kalten oder warmen Kakao?«

»Kalten. Nur damit du es weißt, ich bin nicht aus Russland. Wenn die Polizisten ein junges Mädchen mit weißer Haut und angetrunken aufgreifen, sagen sie sofort, eine Russin. Ich habe gesagt, von mir aus, soll es so sein. Ich bin zum Innenministerium gegangen und habe meinen Namen geändert. Sie haben mich gefragt, was für einen Namen ich möchte, und ich habe gesagt, Madonna Solschenizyn. Die fromme Angestellte fragte, ob ich sie auf den Arm nehme. Wissen das deine Eltern? Das ist doch egal, es geht dich nichts an, ob sie es wissen oder nicht, habe ich gesagt, tu, was ich gesagt habe.«

Sie sprach schnell, das R artikulierte sie künstlich, ein falscher Hinweis auf einen Ort, der nicht zu ihrer Vergangenheit gehörte. Ihre Augen funkelten mich an, als wäre ich die Angestellte im Innenministerium, sie schwieg, und es war, als würde ihr der schwarze Lippenstift den Mund brutal verschließen.

»Wie war dein Name früher?«

»Mein früherer Name ist tot. Madonna Solschenizyn, so heiße ich.«

Madonna verschwand, und ich ging zu meinem feuchten Platz auf der Schaukel. Von der Ecke aus, in der sie stand, war das Haus des Alten außerhalb des Blickfelds, er müsste schon eine Wand herausbrechen, um etwas zu sehen. Vor einer Stunde war sie gegangen und ich war endlich allein. Ich überließ mich dem leichten Schaukeln, dem kühlen Gefühl auf dem Kopf, der Stille, die vor so viel Leben vibrierte, dem Schrei einer Eule, platzender Baumrinde, lautem Zirpen, herabfallenden Blättern. Am liebsten wäre ich Teil dieses atmenden Lebens gewesen, unbewusst, ohne nachzudenken, ohne zu planen, ohne Freude und ohne Bedauern. Ich reckte das Gesicht zum Himmel und lud die Sterne ein, auf mich herunterzufallen wie Konfetti bei einer Hochzeit, aber statt der Ferne kamen meine Nächsten auf mich zu, schritten in das offene Bewusstsein, Gideon, Nadav, Maja, Wodka, Madonna, Scha’ul Harnoi, der Alte, sie suchten sich einen Platz und ließen sich im Amphitheater meines Gehirns nieder, drängten und kämpften in meinem Schädel. In diesem Moment hätte ich gerne Whisky getrunken oder etwas anderes Scharfes, um die Geister zu vertreiben. Liebe Madonna Solschenizyn, ich kann kein böses Wort über deine innige Beziehung zur Flasche sagen, im Gegenteil, wenn man keinen anderen Ausweg hat, ist Alkohol ein wunderbarer Retter des Gehirns.

»Ich gehe«, hatte sie vor einer Stunde gesagt, nachdem sie den Kakao ausgetrunken hatte.

»Wohin?«

»In die Stadt.«

Sie stand auf, schob die Hände aus den Ärmeln ihres Jacketts, breitete die Arme zur Seite, und unter ihrem Unterhemd war ihre flache, kindliche Brust zu erkennen.

»Du bist noch keine achtzehn«, sagte ich.

»Warum? Was ist? Hast du noch nie ein Mädchen mit kleinen Brüsten gesehen?«

Sie senkte den Blick auf ihre bescheidene Brust und schlug ihr Jackett zusammen, um das beleidigte Körperteil zu verdecken.

»Schade, ich hätte Wodka gern gesehen«, sagte sie. Ich sagte ihr nicht, dass der kleine Hund, der noch nicht gelernt hatte, draußen zu pinkeln, die Nacht bei einer gewissen Nadja verbringen würde. Ohne Dank und ohne Abschied machte sie die Tür auf und verschwand. Nur Gott wusste, in welche Räuberhöhle sie ging und wo sie Alkohol in ihren dünnen Körper füllte. Und dennoch – als sie Wodka hierhergebracht hatte, hatte sie ihn an ihren Körper gedrückt, als wäre er ein Baby, das sie stillte, und er, in ein Tuch gehüllt, war ruhig gewesen und hatte ihr vertraut. Man könnte weinen, wenn man an die Wärme dachte, die er von ihr bekommen und ihr gegeben hatte. Die Menschen weinen oft wegen eines geringeren Anlasses.

Erst am Morgen, als ich den neuen Zettel aus dem Briefkasten holte, erinnerte ich mich an den zerknüllten vom Tag davor und nahm auch ihn heraus und las auf dem zerknitterten Papier: »Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne?« Auch der neue Schrieb, der von heute, befasste sich mit dem Leid der Welt. »Ob er auch zweitausend Jahre lebte, und genösse keines Guten: kommt’s nicht alles an einen Ort?« Einen Moment lang hielt ich beide Blätter in der Hand, dann warf ich sie in  den Mülleimer, doch sie fielen daneben und trudelten die  Dorfstraße entlang. Der Alte beobachtete mich von seinem Fenster aus, und sein Gelächter ließ den Rollladen erzittern.

»Einen Millimeter mehr und er hätte dir den Verstand abgeschnitten«, schrie er und lachte über meinen geschorenen Schädel. Ich sah ihn zum ersten Mal lachen, und das brachte mich dazu, ebenfalls in lautes und übertriebenes Gelächter auszubrechen, als habe es sich in mir angestaut und sei jetzt froh, eine Öffnung gefunden zu haben. Zwischen dem Mülleimer und seinem Fenster traf sich unser beider Lachen und mischte sich, bis Schoschana mit ihrem Suppentopf kam und rief: »Was ist mit euch?« Der Suppengeruch flog vor ihr her wie eine Wolke.

»Schon wieder Erbsen, Schoschana?« Der Alte ließ ein letztes Lachen zu Boden kollern.

»Was heißt da wieder, gestern war es Kürbis und morgen sind es Süßkartoffeln.«

Schoschanas Gesicht war rot, ihre Haare waren mit einem roten Band zurückgebunden, das Rot, mit dem sie sich die Lippen angemalt hatte, war grell und glänzend.

»Nie sagt er mal Danke«, sagte sie und hob das Gesicht zum Himmel, als wolle sie es der Sonne zeigen, der Ring an der Hand, mit der sie den Topf hielt, blitzte auf und spiegelte sich in dem glänzenden Edelstahl.

»Da arbeitet man, man schleppt, man kauft, man kocht, man rennt, und er – schon wieder Erbsen, Schoschana?« Sie verzog den Mund und ahmte ihn nach, drückte den Topf gegen ihren Bauch und sagte, mit einem Blick zu mir: »Weißt du, ich bin nicht wie er, ich genieße das Leben, und wenn ich mich mal ärgere, habe ich es in der nächsten Minute schon vergessen. Stimmt’s, Papa?« Sie lächelte in Richtung Rollladen, bekam aber keine Antwort. »Nun, ich muss mich beeilen.« Sie lief mit dem Topf weiter. Die Gestalt hinter dem Fenster verschwand, er ging los, um dem Topf die Tür aufzumachen.

Laute Stimmen drangen vom Haus herüber, Worte waren zu hören, Erbsen, Süßkartoffeln, tiefgefrorene Flügel, Putenbrust. Und auch klar, natürlich, erst wird der Messias kommen …

Sie hatte recht. Im nächsten Moment hatte sie es schon vergessen. Sie kam aus dem Haus, die Stufen herunter, strahlte, ordnete das Band in ihren Haaren, zog sich die Bluse über der üppigen Brust zurecht und lachte, als hätte sie sich nicht gerade erst beklagt.

Sie kam näher. »Deine Frisur ist schön. Aber was für ein Mut, wie viele Jahre hast du die Haare wachsen lassen? Es ist mir gleich aufgefallen, als ich gekommen bin, aber mein Vater hat mich geärgert, und ich reagiere immer gleich, ich kann mich nicht gleichzeitig auf einen Zopf und Erbsen konzentrieren.« Sie lachte und lief rasch zu ihrem Auto.

»Möchten Sie einen Kaffee mit mir trinken, Herr Levi?« Ich drehte mich zum Fenster, hinter dem seine Gestalt wieder aufgetaucht war, der Rollladen wurde hochgezogen. Die Hand, die das Ohrläppchen rieb, hielt inne, die Lippen pressten sich zusammen, staunend, als läge ein Gewicht auf ihnen. Außer Schoschana, ihrem Mann und ihren Kindern hatte ich nie irgendjemanden bei ihm ein und aus gehen sehen, und auch ihn selbst hatte ich nicht oft die Stufen herabsteigen sehen.

»Machen Sie einen Witz?« Er fing sich wieder und drückte die gerunzelte Stirn gegen das Fliegengitter.

Hier war ein Mann, der die letzte Stufe des Lebens erreicht hatte, und die hätte er mit Schwung nehmen können, er hätte den Flug seines Lebens machen und satt landen können. Ohne Verantwortung für Mensch oder Tier, wohlhabend, mit einer für sein Alter guten Gesundheit, hätte er mit dem Rentnerclub nach China fliegen und vom Bus aus die schlitzäugigen Reisbauern beobachten können, er hätte Schmetterlinge züchten oder vernünftig im Kasino eines Ferienschiffs wetten können, er hätte einen Sombrero tragen können, eine nicht unbedingt gleichaltrige Liebhaberin finden und Barsche essen können, doch er zog es vor, Vergangenheit und Zukunft auf einen Raum von zehn Bodenkacheln und einem Fenster zu beschränken, Hautfetzen zu reiben und Abscheu zu kultivieren.

»Ich meine es ernst, Herr Levi.« Auch ich war weder für einen Menschen noch für ein Tier verantwortlich. Der Junge und der Hund waren bei Gideon, der Laden lag in Amjads Händen, das Land in den Händen Gottes. Der morgendliche Wind strich mir über den Kopf wie über Gras, ich war fröhlich und energisch und suchte einen alten Menschen, um ihm über die Straße zu helfen, wenn nicht höflich, dann mit sanfter Gewalt.

Er machte mir nicht auf, auch dann nicht, als ich mit der ganzen Hand gegen seine Tür schlug.

»Machen Sie schon auf!« Ich hätte mir nicht vorgestellt, dass meine Hände im Laden so knochig und die Gelenke so hart werden würden.

Er behielt sein Leben für sich, wie Madonna. Man könnte denken, sie hätten wer weiß was zu verbergen. Was war mit ihnen geschehen, was nicht bereits vorher in der Geschichte der Menschheit geschehen war? Angenommen, er hatte einen Haifisch gefressen oder eine Frau umgebracht, oder Madonna war von ihrem Vater vergewaltigt und geschwängert worden und hätte das Kind umgebracht, na und? Das hatte man alles schon gehört und gesehen und wird es hören und sehen, bis man aufhört, es zu hören und zu sehen.

»Zum letzten Mal, machen Sie mir auf oder nicht?« Ich sprach in scharfem Ton, wie er es gewohnt war, und ich lag damit richtig.

Sein Schlüsselbund rasselte, ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und dreimal umgedreht, die Sicherheitskette wurde zurückgenommen und die Tür ging auf.

Ich erschrak. Er war viel dünner, als man es durch das Fliegengitter sehen konnte, das ihn von der Welt trennte.

»Darf ich eintreten?«

»Wofür? Merken Sie sich, wenn ich Ihr Vater wäre, hätte ich Ihnen eine Tracht Prügel verpasst für das, was Sie mit Ihren Haaren gemacht haben.«

»Ich möchte mit Ihnen einen Kaffee trinken und ein bisschen plaudern, über das Wetter, die Regierung, über Schuhe Größe achtundzwanzig, über was Sie wollen.«

»Wer sind Sie? Die Rentenversicherung? Der Verein zur Altenpflege? Die Beerdigungsgesellschaft? Ich brauche keinen Kaffee, und ich muss nicht plaudern.«

Er versperrte mir den Weg in den Flur. Das Licht, das normalerweise nicht hereindringen durfte, fiel durch die offene Tür auf sein Gesicht und ließ jede Falte erkennen, jede Pore und jeden Hautflecken, es blendete ihn und zeigte eine Haut, die ausgehöhlt war, das teigige Gewebe der Lider, die weißen Stoppeln, die beim Rasieren an seinem Adamsapfel zurückgeblieben waren. Das scharfe, grausame Licht betastete jede Wimper und jede Schuppe. Wenn er gekonnt hätte, hätte der Alte kaltblütig die Sonne ermordet. Er zog sich in die Dämmerung des Flurs zurück, doch als ich näher trat, kam er wieder ins Licht, um mich am Eintreten zu hindern. Wenn er gekonnt hätte, hätte er bei der Gelegenheit auch mich ermordet.

»Ich habe doch gesagt, kein Kaffee und kein Geplauder. Gehen Sie und lassen Sie mich die Tür zumachen.«

Der Abstand zwischen uns war nicht so breit wie ein Messer, er verströmte den Geruch von säuerlichem Schweiß, sein Hemdkragen war abgetragen und verschlissen vom vielen Waschen und von den Körperausdünstungen und ließ die klopfende Ader an seinem Hals sehen. Man konnte sich darauf verlassen, dass Schoschana ihn mit neuen Hemden versorgt hatte, er sich aber nicht die Mühe gemacht hatte, sie aus dem Zellophan zu nehmen und anzuprobieren, lieber trug er die zwei, drei alten. Ich bewegte mich nicht, er hätte mich wegstoßen können aus der Tür, er hätte mich mit seinem künstlichen Gebiss beißen können, er hätte mir ins Gesicht schlagen können. Er sagte, ich solle verschwinden, und drohte, den Mietvertrag zu lösen und uns auf die Straße zu setzen, seine Augen, gezeichnet vom grauen Star, quollen ihm fast aus den Höhlen. »Verschwinden Sie von hier, habe ich gesagt.« Seine Stimme war kräftiger als er. Ich wollte sagen, kommen Sie, Herr Levi, machen wir das Radio an und hören das Morgenkonzert auf dem Musiksender, was kann schon passieren? Ich wollte ihn aus der Enge hinter seinem Fenster erretten, aber er, einen Moment, bevor er mich schlug oder anspuckte, zwang mich zu einem Kampf mit Blicken, und blinzelte als Erster. In diesem Moment sprang der verrückt gewordene Hahn auf das Schild »Levi« am Tor, er unterschied nicht zwischen Tag und Nacht, und stieß ein Krähen aus.

Der Alte ballte die Hand und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Das ist das Mistvieh von Horowitz«, zischte er und schwankte zwischen mir und dem Hahn. Wenn er sich um den Vogel kümmerte, wäre der Zugang zum Haus ungeschützt, und wenn er sich um mich kümmerte, würde der da draußen davonkommen  … Er entschied sich zu Ungunsten des Mistviehs von Horowitz, ging an mir vorbei zur Treppe, nahm einen der vertrockneten Kakteentöpfe vom Geländer und warf ihn Richtung Tor. Der Hahn flog erschrocken und mit zitterndem Kamm vom Schild, nicht ohne seinen Darm mit einem heftigen Schwung zu entleeren, sodass auch Spritzer auf den Scherben des Kaktustopfs landeten. In einem Dorf, in dem jedes Huhn einen Personalausweis hat und alle wissen, ob der Vogel zum Freund oder zum Feind gehört, war das eine offene Kriegserklärung. Solche Darmentleerungen galten hier eindeutig als Verletzung des Nichtangriffspakts zwischen den Einwohnern. Und der Krieg hatte eigene Gesetze. »Ich werde dir zeigen, wer hier auf wen scheißt, du Kacker«, sagte der Alte, nahm eine Decke von einer alten Kommode, bewaffnete sich mit einem Küchenmesser und lief, die Decke und das Messer in der Hand, vorsichtig und entschlossen auf das Tor zu. Der Hahn, ermutigt vom Gewinn der ersten Runde, beobachtete, was auf ihn zukam, und schickte ihm ein ausgedehntes Krähen entgegen. Wäre er nur dumm genug gewesen, um aufzugeben, aber er war eifrig und bemühte seine Eingeweide, und die letzte Portion war stärker als die erste, sie verdeckte auf dem Schild jede Spur von »Levi«. Hätte er sein Gefieder nicht so aufgeplustert, hätte er das Tuch des Matadors bemerkt und das Funkeln des Messers hätte ihn dazu gebracht, die Flügel auszubreiten, doch bis er die Augen aufmachte und den Schnabel schloss, war er schon in die Decke gehüllt und wurde hinter das Haus gebracht, seinem Schicksal entgegen. Ein kurzer, spitzer Schrei drang durch die Luft, danach kam der Alte mit leeren Händen zurück, ohne Decke, ohne Messer und ohne Hahn. Er ging zum Tor, betrachtete die graue Masse, die seinen Namen bedeckte, spuckte auf die Erde und kam bedrückt und mit schweren Schritten zurück, blass und geschlagen.

Bevor er sein Haus betrat, stieß er ein »Pfui« gegen die Welt aus, die hinter seiner Tür zurückblieb, dann kam er in den Flur, sah mich, ging an mir vorbei zum Spülbecken in der Küche und rieb sich seine knochigen Hände mit dem Topfreiniger.

»Wir haben den Monat Elul, Herr Levi, Hähne sind Sühneopfer.«

»Dieser Kacker? Er wäre gestorben, bevor ich ihm meine Sünden aufgeladen hätte, ich kenne ihn, bevor er zum Himmel geflogen wäre, hätte er meine Sünden zu Horowitz gebracht, um sie ihm zu zeigen.« Er spuckte ins Spülbecken, seifte sich erneut die Hände ein und wusch sie. »Diesem Dreckskerl hätte ich noch nicht mal meine Krankheiten übergeben.«

»Welche Krankheiten haben Sie, Herr Levi?«

»Sind Sie etwa von der Krankenkasse? Ich habe, was ich habe.«

Fünf Minuten vergingen, er befahl mir nicht, das Haus zu verlassen, und ich erlaubte mir nun langsame, vorsichtige und wohlbedachte Schritte Richtung Küche. Auf der Schwelle blieb ich stehen, vorsichtig wie ein Schmetterlingsfänger, und lehnte mich an den Türstock, während er versuchte, sich die Schuld des Hahns abzuwaschen und rein zu werden, er hörte gar nicht auf, sich die Hände zu waschen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und spähte in die Küche, die eher einem Laden für Elektrobedarf glich. Ein aufrecht stehender Toaster, ein liegender Toaster, eine Mikrowelle, ein Backofen, ein moderner Kühlschrank, eine Küchenmaschine. Die Geräte blitzten auf einer langen Marmorplatte, dunkel, kalt, die Griffe zusammengeballt wie Fäuste, als wären sie gerade entstanden und noch unbenutzt. Schoschana war eine hingebungsvolle Tochter. Kaufte Kühlschränke, Toaster, Hemden, Mixer. Schade, dass die Einkaufszentren, in denen sie herumlief, keine Elektrogeräte verkauften, die Lust, Appetit und Lebenswille produzierten, aber sie gab nicht auf. Wenn das Pferd nicht zur Tränke gehen wollte, schleppte sie die Tränke zu ihm, schließlich konnte sie die elektrische Ausrüstung, die sie ihm hingestellt hatte, betrachten und sagen, ich habe das Meine getan.

»Sie haben eine gute Tochter«, sagte ich, als würde ich die Leistung beurteilen. Aber ich meinte es so, und ich wollte ein Gespräch mit ihm anfangen.

»Darf ich?«, fragte ich und deutete auf ein Tellerchen mit ein paar vertrockneten Mandeln, höchstens ein Dutzend.

Er schwieg und zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: Es ist mir egal, nehmen Sie sich was oder lassen Sie’s bleiben …

Ich nahm mir welche, kaute, zerkleinerte, zermalmte, meine Kiefer bemühten sich, die Mandeln und die Stille zu zerbrechen, und während meine Zähne ihre Arbeit taten, prüfte ich die Wachstuchdecke auf dem Tisch. Ihre Ränder waren vergilbt vom Alter, gewellt und ausgefranst, die aufgedruckten Veilchen waren abgewetzt und abgeschrammt, verwelkt von heißen Kochtöpfen, durchbohrt von Gabelzinken, zerkratzt von Messern oder von Fingernägeln. Nur Gott weiß, mit wie vielen Worten Schoschana schon versucht hatte, dieses prähistorische Teil loszuwerden, und warum der Alte stur geblieben war. Eine Wachstuchdecke wie diese könnte viel erzählen, von Ellenbogen, die sich auf sie gestützt hatten, von zärtlichen Worten, geflüstert von Menschen, die sich über Teller beugten, und von Beschimpfungen, die sie sich an den Kopf warfen. Wer hatte sie aus allen Wachstuchtischdecken ausgesucht, seine Frau? Sie, die sie gekauft und auf den Tisch gelegt hatte, gab es nicht mehr. Ich vertiefte mich in diese Decke, als sei sie ein Abdruck seiner Seele, ich zählte bis zehn und fragte: »Sind Sie schon viele Jahre Witwer?«

»Wer sagt Ihnen, dass ich Witwer bin?«

»Ich habe es angenommen. Sie leben allein und so weiter. Sind Sie denn geschieden?«

»Ich bin weder Witwer noch geschieden. Ich bin entzweit. Wissen Sie, was das heißt, getrennt? Das Band ist zerschnitten, der Schalter umgelegt.«

»Getrennt lebend also.«

»Entzweit. Verstehen Sie nicht, was man Ihnen sagt? Der Absperrhahn ist vorgeschoben. Haben Sie mal versucht, einen Wasserhahn aufzumachen, und dann kommt kein Wasser heraus? So ist es mit dem Menschen, er macht die Tür auf und niemand kommt ihm entgegen. Das Haus ist leer. Eines Tages ist sie aufgestanden und weggegangen. Sogar die Elektrizitätsgesellschaft warnt einen, bevor sie den Strom abstellt, schreibt, was man tun muss, um die Stromversorgung wieder herzustellen. Und sie? Nichts. Sie hat noch nicht mal ein Stück Klopapier mit der Aufschrift ›Schmock‹ hinterlassen.« Er trocknete sich die Hände ebenso sorgfältig ab, wie er sie gewaschen hatte, Finger um Finger, vom kleinen Finger bis zum Daumen, und dieses Abtrocknen wiederholte er zweimal.

»Nun, was ist? Wissen Sie auf einmal nicht mehr, was Sie sagen sollen? Erst reden Sie und reden, und auf einmal sind Sie stumm?«

»Möchten Sie Kaffee?«

»Wenn man einer Frau etwas Schlimmes erzählt, stopft sie einem den Mund mit Essen, will man Kaffee, will sie Tee. Warum haben Sie heute nicht Ihren Laden aufgemacht? Genieren Sie sich wegen der Frisur, die Sie sich haben machen lassen?« Er setzte sich auf einen Stuhl, seine Beine knirschten, er nahm erst das eine Knie, dann das andere, und stellte die Beine im richtigen Winkel hin. Sein Kopf sank tiefer und sein kahler Schädel bewegte sich zwischen dem Toaster und der Mikrowelle, ein spöttisches Lächeln zog seinen Mund in die Breite. Die Jahre hatten sein Gesicht zerfurcht, er hatte hässliche Falten bekommen. Sein eckiges Kinn war einmal kräftig und kämpferisch gewesen, heute war es ein Knochen mit geringer Dichte, aber noch immer kämpferisch, draufgängerisch.

»Möchten Sie, dass ich etwas sage? Kein Problem. Warum interessieren Sie sich so für die Schuhe meines Sohnes?«

Ich hatte gut gezielt und seine Achillesferse getroffen. Seine Lippen verzerrten sich, sein Kopf wackelte und sein Ohr schlug gegen den Toaster.

»Hören Sie auf, mich durcheinanderzubringen, wenn Sie keine Arbeit im Laden haben, dann putzen Sie das Haus.«

Ich ging.

Nicht zum Laden, und nicht ins Haus, um zu putzen. Ich wollte zum Strand von Tel Aviv. Ich legte den Ring ab, die Kette, die Sandalen, die Brille, ich sagte, ich werde barfuß sein, leer, ich werde nur meinen Führerschein mitnehmen, eine Kreditkarte und das Handy, die Fesseln derer, die von der Zivilisation verurteilt sind. Als Nadav geboren wurde, bekam er, kaum war er draußen, ein Band mit dem Namen und einer Nummer um seinen winzigen Arm, um ihn zu lehren, dass er immer an irgendetwas gebunden sein würde, Eltern, Bürokratie, Gewissen, und eine Befreiung könnte er nur vom Tod erwarten. Ich drückte auf das Gaspedal und auf meine Stimmbänder und sang aus voller Kehle: »Unbekannte Soldaten, um uns Angst und Tod. Alle sind fürs ganze Leben eingezogen. Nur der Tod befreit von der Pflicht.« Bergab stellte ich meinen nackten Fuß auf die Bremse und die Bäume flogen an mir vorbei. »Unbekannte Soldaten …«, sang ich, und der Fahrtwind aus dem offenen Fenster strich über meinen geschorenen Kopf, nahm mir die Worte vom Mund, zerriss sie zu Silben und verstreute sie in der Luft. Das Handy klingelte, ich nahm nicht ab, Gideon, der Junge, der Laden, der Hund, mein Bruder Jonathan – alle konnten warten. »Von der Pflicht befreit nur der Tod.« Ich sang es sechs, sieben, acht Mal, wie eine CD, die stecken geblieben ist. Doch wer mich von mir selbst befreite, war nicht der Tod, sondern die Polizei. Ein Laserstrahl hatte gemessen, ein Streifenwagen verfolgte mich, eine Lautsprecherstimme befahl, ich fuhr zum Straßenrand und blieb stehen. »Wollen Sie sich umbringen? Dann nehmen Sie lieber Tabletten oder trinken Sie Reinigungsmittel«, sagte der Polizist, »dann sterben Sie wenigstens allein und nehmen nicht noch andere mit.« Er hatte gute Gründe für seinen Verdacht, ich könnte aus einer Anstalt geflohen sein und den Mazda gestohlen haben, barfuß, mit geschorenem Kopf, ohne Handtasche, ohne Uhr, ohne Ring. Er stellte Fragen, er prüfte meinen Führerschein, er kontrollierte die Angaben im Polizeicomputer und fand, dass ich wirklich ich war, dass ich nicht irgendwo entlaufen war oder etwas gestohlen hatte, und der Haifisch, den er gejagt hatte, wurde zu einer Sardine, die dreißig Kilometer schneller als erlaubt gefahren war. Er füllte ein Formular aus, wieder klingelte mein Handy, und ich ließ es klingeln. Früher gab es keine Telefone und die Katastrophen warteten auf die Brieftauben oder Kuriere, die sie meldeten, also konnten Katastrophen warten. Der Polizist war fertig, aber noch nicht beruhigt. Das, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, passte nicht zu den Details in meinen Papieren.

»Warum sind Sie barfuß? Hat man Sie von zu Hause weggejagt?«

»Ich habe ein Problem mit Schuhen«, sagte ich, das Handy klingelte wieder, und ich rührte es nicht an.

Er schaute mich an, versuchte, die Ursache für den Fehler zu finden, gab mir den Strafzettel und sagte: »Ich hätte Ihnen den Führerschein auf der Stelle abgenommen, aber wie sollten Sie zu Fuß gehen? Die Straße ist glühend heiß, Sie würden Verbrennungen dritten Grades bekommen.«

»Sie sind ein guter Mensch«, sagte ich und ließ das Auto an. Ich blieb auf der rechten Spur und fuhr mit der Geschwindigkeit eines Traktors. Es ist nicht diese Straße, Herr Polizist, es ist die Erde, die brennt, sie klopft an die Erdkugel und bittet, eingelassen zu werden. Ja, auch die Erde. Zeigen Sie mir etwas auf der Welt, das nicht irgendwo hineingeht, das nicht gefangen ist, nicht eingesperrt, das nicht versucht, zu zerschneiden, zu zerreißen, zu zerbrechen. Zeigen Sie mir einen Menschen, der nach oben fällt oder einen Totenschädel, an dem Fleisch wächst. Was ich damit sagen möchte, Herr Polizist? Dass es das ist, was mir den Kopf voll macht, wenn ich versuche, meine Lieben herauszubekommen. Unter uns, Herr Polizist, wirre Gedanken sind doch Alkohol und Drogen vorzuziehen, nicht wahr? Wieder klingelte mein Handy. Sollte es doch klingeln. Wenn du ihm dein Ohr leihst, werden deine Lieben in deinen Gehörgang eindringen und dein Gehirn überfallen. Führe Selbstgespräche über Dinge, die nichts mit deinem Leben zu tun haben, zum Beispiel: Vögel laufen nicht über glühende Straßen, hohe Absätze drücken die Gaspedale von schwarzen Jeeps, irgendwo auf der Welt, in irgendeinem Loch drückt das Leben auf einen Mann, und er sagt, wenn es so ist, warum ich, und noch andere zerrissene Sätze.

Heute Abend werden der Polizist und seine Frau Suppe essen, er wird Salz streuen und sagen, was für eine Irre ich  heute angehalten habe, das kannst du dir nicht vorstellen.

Ich fuhr an den Straßenrand, denn das Telefon klingelte schon wieder, ich wartete, bis es aufhörte, dann nahm ich es in die Hand. Drei Nachrichten waren aufgenommen.

»Mama, erlaubst du, dass ich … Mama?«

»Mama, Mama … Es geht niemand dran, Papa.«

»Amiki, lass was von dir hören.«

Der Junge wollte meine Zustimmung zu etwas. Sein Vater benutzte den Kosenamen aus unserer alten Welt. Amiki. Aber es war nicht das laute, lebendige Amiki-Rufen von früher. In der gleichen Recyclingtonne befand sich auch das »Gidi«, so hatte ich ihn früher genannt. Kosenamen, auf die wir verzichtet hatten, nachdem wir unsere Diplome in den Händen hielten und sehr beschäftigt und repräsentativ geworden waren. Hör auf mit den unbekannten Soldaten, Amiki, mit den Vögeln und den schwarzen Jeeps, was du auch tust, du wirst es nicht schaffen, den Kopf zu Hause zu lassen, auch wenn einer mit einem Messer kommt und droht, das mit dir zu machen, was der Alte mit dem Hahn getan hat.

Ich gab mich geschlagen und rief an.

»Schön, dass du mich Amiki genannt hast.«

»So habe ich dich genannt? Das ist mir nicht aufgefallen. Wir haben viele Male versucht, dich zu erreichen, du warst nicht da, ist so viel los im Laden?«

»Vorhin ja, jetzt ist es normal.« Eine weiße Lüge, keine schlimme, weiße Lügen verblassen schnell. Also erzählte ich nichts von meiner neuen Frisur und von dem Alten und dem Hahn und fragte nicht, wer Nadja war, nicht schlimm. Wodka bellte im Hintergrund, und der Junge sagte, Papa, los, ich möchte mit ihr sprechen.

»Gut, sprich erst mit ihm.«

»Mama, erlaubst du, dass ich noch zwei oder drei Tage bei Papa bleibe?«

»So lange du willst.«

Seine Jubelschreie verbreiterten die kleinen Löcher im Handy, sie brachen heraus und verstreuten sich in der Welt.

»Darf Wodka auch bleiben?«

»Klar«, rief Gideon dazwischen. Das Gewicht des Jungen reichte ihm nicht, er brauchte auch den Hund, um die Balance zu halten.

Ich fuhr zum Strand von Tel Aviv, trank eine Flasche Mineralwasser und verkündete dem Mittelmeer: Etwas ist mit dem Mann passiert, den ich geheiratet habe. Er ist verschwunden und hat mir stattdessen einen anderen zurückgelassen. Zufällig kam eine Möwe vorbei, hörte mich, machte den Schnabel zu und unterdrückte ihren Schrei. Hätte sie einen Mund gehabt, hätte sie gesagt, was willst du, es ist sein gutes Recht, sich andere Gewohnheiten zuzulegen, es ist sein gutes Recht, sich zu ändern …

»Es geht nicht um Gewohnheiten, Dummkopf, es geht um die Persönlichkeit«, sagte ich, aber die Möwe verlor das Interesse, ließ den Schrei los, den sie unterdrückt hatte, und flog davon. Es war sinnlos, am Ufer des wogenden Meeres zu stehen und die Bruchstücke des Lebens zu beklagen, eine endlose Masse von Wasser und Energie, was ging es sie an. Bevor wir ein Kind bekommen und bevor wir unsere Diplome in den Händen gehalten hatten, waren wir in den Semesterferien abends hierhergefahren, Gideon hatte mich auf den Rücken genommen und war den Strand entlanggerannt und hatte laut gezählt, und wenn er die Zahl 69 erreicht hatte, hatte er mich ins Wasser geworfen und war hinterhergesprungen, war getaucht und hatte weitergezählt, bis er bei hundert war. Wir hatten uns im Wasser umarmt, und ich vergaß Gott, und manchmal erinnerte ich mich eine ganze Nacht lang nicht an ihn. Gideon trug damals Sportschuhe, made in Israel, die beim Gehen quietschten, und ihre Schnürsenkel klatschten. Dann wurde er Rechtsanwalt und trug schwarze Schuhe, made in Israel, und später trug er ausländische Schuhe, ihre Sohlen waren besser und ließen nur ein autoritäres, energisches Tack-Tack hören. Seine Robe, die zweimal im Monat zur Reinigung gebracht wurde, betonte seine geraden Schultern, und ihre Schöße bewegten sich wie die Flügel eines großen schwarzen Vogels, die mittelmäßigen Vögel beim Gericht wichen zurück, wenn er durch die Flure lief. Wenn er vor dem Richter stand und seine Verteidigungsrede hielt, brachte er mit seinen theatralischen Bewegungen die Ärmel zum Schwingen, elegant, düster, und verlieh seinem Klienten einen heiligen Ernst, auch wenn dieser nur ein einfacher Gauner war. Wenn er nach Hause kam, zog er kurze Hosen und Sandalen an, fuhr sich vor dem Spiegel durch die Haare und sagte, ich habe heute eine gute Show geliefert. Er gab an und verspottete sich zugleich. Er liebte und hasste und tat alles mit der gleichen Inbrunst.

Ich hatte das Handy, diesen beißenden Schuldeneintreiber der Aufmerksamkeit, im Auto zurückgelassen. Falls im Laden Feuer ausbrach oder auf dem Roten Meer ein Tsunami erwartet wurde, ich würde es nicht wissen. Eine ältere Frau mit Zellulitisbeinen und einer Karotte in der Hand kam mir entgegen, blieb stehen und sagte: »Sie sollten einen Hut aufsetzen, sonst bekommen Sie noch einen Sonnenstich.« Die kräftig orangefarbene Karotte in ihrer Hand schien zu brennen.

»Ich bin nur für einen Moment hergekommen«, antwortete ich auf ihre mütterliche Fürsorge.

»Warum nur für einen Moment? Das Meer ist ein hervorragender Ort, aber man braucht einen Hut.«

Ich betrachtete ihre dicken Beine, die tiefen Spuren, die entspannte Schwere ihrer Schritte und schlug mir an den Kopf, was war mit mir los? Normale Menschen gehen den Strand entlang und essen Karotten, und ich stehe vor dieser Schönheit und halte Trauerreden auf meinen Mann, als wäre ihm etwas Schlimmes passiert, von dem er sich nicht erholen könnte.

Die Frau nahm die Karotte an beiden Enden, beugte sich vor, zerbrach sie und hielt mir eine Hälfte hin. »Hier, nehmen Sie, das ist gesund.« Ich nahm die halbe Karotte und aß sie, und schon lange hatte mir nichts mehr so gut geschmeckt. Der Monat Elul, eine Frau mit einer Karotte in der Hand und Zellulitis an den Oberschenkeln hatte mir etwas von ihrer Karotte abgegeben, und schon war das Material, aus dem das Leben bestand, weicher geworden. Sie blieb stehen und schaute mir nach, als ich den Strand hinauflief zum Parkplatz, ich drehte mich zweimal um und sah, dass sie immer noch da stand, die brennende Karotte in der Hand, und mir besorgt hinterherblickte.

Ein Polizist und eine Polizistin erwarteten mich am Haustor. Er war zuständig für die schlimmen Nachrichten, sie dafür, Beruhigungstropfen zu verteilen, so war die Prozedur, wenn man Hinterbliebene benachrichtigte. Die Augen des Alten beobachteten vom Fenster aus das Tor. Und wie bei jeder guten Tragödie stand jetzt auf dem Schild, das der Hahn vollgeschissen hatte, ein Rabe und verlieh der Szene eine klare, aber abgedroschene Symbolik.

»Was ist passiert?«, schrie ich.

»Kennen Sie diese Person?« Der Polizist hielt mir ein Foto hin. Mein Seufzer der Erleichterung traf seine Wange, er wich einen Schritt zurück.

Ich wusste nicht, was besser für mich war, Ja zu sagen oder Nein.

»Madonna Solschenizyn«, sagte ich.

Sie fragten, ob sie bei mir geschlafen habe, ob mir bekannt sei, woher sie kam und wohin sie ging. Die Polizistin schrieb alles auf. Der Polizist bat mich, das Haus durchsuchen zu dürfen. Der Alte sah alles und notierte es in seinem Gedächtnis.

»Bitte, ich habe nichts zu verbergen.«

In ihren strengen Uniformen gingen sie hinter mir, der Barfüßigen, her, an ihren Gürteln klapperten die Schlüssel für Handschellen. Sie öffneten die Schränke, suchten zwischen den Büchern, hoben meine Kleidungsstücke hoch, das Kissen, das Laken, drehten die Matratze um und wandten sich dann dem Zimmer des Jungen zu und taten mit seinem Bett das Gleiche, die Polizistin hob die Decke hoch, mit allen Bären darauf, und entdeckte ein dünnes Baby Doll, auf das ein Bild der großen Popsängerin Madonna gedruckt war.

»Wem gehört das?« Der Polizist hob den rosafarbenen Pyjama hoch.

Undankbares Luder. Während ich das Brot auftaute und Rührei briet, war sie zum Badezimmer gegangen und hatte auf dem Weg das Bett des Jungen gesehen, Beweisstücke verstreut und sich ein Alibi beschafft. Und trotzdem stand ich auf der Seite des Bösen, kollaborierte mit ihr und sagte: »Es gehört Madonna. Sie ist am Morgen weggegangen und hat das vergessen.«

»Merken Sie sich, eine Lüge wird als Beihilfe betrachtet«, sagte der Polizist und stellte Fragen, und ich antwortete und wusste nicht, ob ich Madonna damit nützte oder schadete. Zumindest hatte ich einen Rechtsanwalt in der engeren Familie, obwohl er zurzeit am Roten Meer eine Auszeit nahm, aber im Notfall würde er alles stehen und liegen lassen und herkommen.

Der Polizist wischte sich den Schweiß ab und sagte: »Das wär’s vorläufig, es kann sein, dass wir Sie zum Verhör bestellen.« Die Polizistin bat um ein Glas Wasser, und der Polizist sagte: »Gut, wenn das so ist, möchte ich auch eins.«

Dann gingen sie fort.

Der Mann, der Sohn und der Hund waren in Eilat, ich hatte zur Ruhe kommen wollen, war aber mit Madonnas Ärger beschäftigt. Der Mensch steht morgens auf, und dann stellt sich heraus, dass er ein Stamm ist, zwanzig Beine nach sich zieht und mit zwanzig Händen winkt und sein Herz für zwanzig schlägt und er keinen Moment hat, er selbst zu sein.

Der Alte stand ganz offen in seinem Fenster, ohne Rollladen und ohne Fliegennetz zwischen ihm und der Welt, und hatte mit seinen trüben Augen die Polizisten kommen und gehen sehen. Wäre ich Rembrandt, hätte ich mit meinem Pinsel das Licht eingefangen, das auf seine Stirn und seine Augenhöhlen fiel, das kranke Licht einer alt und schwach gewordenen Sonne.

Als der Alte mich sah, wandte er das Gesicht und betrachtete den Raben, der auf seinem Tor saß, auf dem Schild »Levi«, und die getrocknete Kacke des Hahns abkratzte. Er sprang vom Tor auf den Zaun und kratzte weiter an dem Schild und schälte die Erinnerung an die Sünde fort, die sein Artgenosse hinterlassen hatte.