3

Die Augen hinter dem Fenster gegenüber verfolgten alles, was wir taten, in ihnen wechselten sich Licht und Schatten ab, sie wurden von Lidern bedeckt, zogen sich im Wind zusammen, und manchmal schlossen sie sich auch von allein. Nadav sagte, es sei wirklich lästig, dass der Alte die ganze Zeit am Fenster stehe.

Die Abende im August waren lang, bis sieben oder acht Uhr abends hielten wir uns draußen auf, betrachteten den großen Auftritt der Sonne, wenn sie unterging, den roten Glanz, den sie über den Wald breitete. Uns blieb weniger als eine Woche bis zum letzten Monat des Jahres, dem Monat der Gebete um Vergebung und des Erbarmens, danach würden die Uhrzeiger verschoben, und wir bekämen eine melancholische Stunde umsonst geschenkt. Einstweilen vermischten sich die Gebote des Staates und des Himmels noch nicht, die Tage waren einfach, und noch vor der Zuteilung der Zeit und des Erbarmens schaffte ich es, Petersilie zu säen, Geranien zu pflanzen und Zyklamenzwiebeln in die Erde zu stecken.

Vögel versammelten sich auf dem Dach des Alten und hielten aufrecht und schweigend Wache zu Ehren des vergehenden Tages. Der Alte bewegte den Kopf nach links und nach rechts und bewachte unsere Schritte. Nadav warf ihm heimlich einen Blick zu und murmelte zornige Worte vor sich hin. Er spielte mit seinem roten Feuerwehrauto auf dem Sandweg zwischen dem Haus des Alten und dem, das wir von ihm gemietet hatten, stieß an- und abschwellende Sirenengeräusche aus, rettete Ameisen vor dem Feuer, bis er das Auto quietschend anhielt, erschreckt von der befehlenden Stimme: »Zieh deine Schuhe aus, Junge, sie sind neu, sie haben viel Geld gekostet, mach sie nicht dreckig.« Der Motor des Feuerwehrautos erstarb, das Feuer erlosch, Nadav hockte sich hin und verbarg das Gesicht zwischen den Knien.

»Sind sie auch Größe achtundzwanzig?«

Nadav nickte, aber der Alte sah es nicht. Er beherrschte den Weg von oben, aus einer Höhe von mindestens zwei Metern.

»Sag, achtundzwanzig oder siebenundzwanzig? Was für eine Größe hat man dir gekauft?«

Der Junge schob den Kopf noch tiefer, bis seine Ohren von den Knien gequetscht wurden.

»Ich fresse keine Kinder. Heb den Kopf, los, Junge, hast du nicht sprechen gelernt?« Der Hals des Alten reckte sich in die Länge. Die Ameisen machten sich daran, Nadav aus seiner Lähmung zu holen, sie krochen über die neuen Schuhe und krabbelten an seinen nackten Beinen nach oben. Er schlug nach ihnen und schüttelte seine Beine, rieb seine Oberschenkel aneinander und klopfte sich die winzigen Angreifer von der Hose, aber der Hausbesitzer ließ nicht locker.

»Wirf mir einen Schuh herauf, ich will die Nummer sehen.« Wieder beugte er sich vor. Meine Geduld sank wie eine schlechte Aktie an der Börse, nicht nur wegen des Alten, der sich um Nadavs Schuhe kümmerte und ihm Angst machte, sondern auch wegen Nadav, der ihm auswich und den Kopf zwischen den Knien vergrub, statt dass er aufstand, frech wurde und schrie, ich will nicht, lass mich in Ruhe, Mama, sag es ihm. Ich nahm die Ameisen als Zeugen dafür, dass ich ihn nicht zu weich und zerbrechlich aufwachsen lassen wollte. Das Leben verachtet zerbrechliche Menschen, drückt sie zur Seite, kümmert sich nicht um diejenigen, die den Blick senken und nachgeben.

»Gib mir einen Schuh.« Ich stand über meinem Jungen und griff mit erdverkrusteten Händen nach ihm, zog ihm einen Schuh aus und warf ihn zum Fenster des Alten hinauf. Vögel erschraken vor dem seltsamen Vogel, flatterten auf und flogen in die Dämmerung, schrien und sahen aus, als wären sie dem Schädel des Alten entflogen. Der Schuh flog an seinem Ohr vorbei, landete mit einem Krachen im Haus, und der Alte folgte dem Schuh. Der Junge kämpfte mit den Tränen, er betrachtete den schuhlosen Fuß, zog den Strumpf nicht hoch, der heruntergerutscht war und an den Zehen hing.

»Warum hast du mir den Schuh weggenommen? Er wird ihn mir nicht zurückgeben«, jammerte er. »Ich will, dass Papa kommt.«

Weil er so unglücklich aussah, umarmte ich ihn nicht. Ein fünfjähriger Junge muss ein kontrolliertes Maß an Leid aushalten. Wenn er es nicht von Zeit zu Zeit übt, die Zähne zu fletschen und zuzubeißen, würden die Raubtiere ihm bald irgendwo auflauern und ihn verspotten. Eine kontrollierte Dosis, Worte aus der Apotheke, ein Kilo Zorn, siebenhundert Gramm Kränkung? Wie viel Wärme und Zuneigung würde ihn auf das richtige Leben vorbereiten? Und wie verteilt man das Herz zwischen ihnen? Meine Hand ignorierte die Zukunft und berührte ihn, die Zyklamenerde mischte sich mit seinen Tränen, und der Schmutz verschmierte seine Wangen. Sein Weinen wurde lauter, als habe er jetzt die Erlaubnis bekommen. Ich biss mir auf die Lippe, er hatte keine Geschwister, er hatte in diesem abgelegenen Nest keine Freunde, seine Großeltern mütterlicherseits waren tot, die Großeltern väterlicherseits kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, sein Vater war zu den Fischen gegangen, ich experimentierte mit der Belebung eines Lebensmittelgeschäfts, und wir alle zerstörten ihm unabsichtlich das Leben. War es ein Wunder, dass er sich über die neue Kusine freute, die bei uns aufgetaucht war? Ich wusste nicht, was besser war, ihn zu schütteln und anzuschreien, hör schon auf zu weinen, oder ihn in den Arm zu nehmen. Schließlich verschob ich sein Training für das Leben, das er noch nicht gelebt hatte, auf später und umarmte ihn.

»Achtundzwanzig, innen und außen«, verkündete der Alte von seinem Beobachtungsposten aus und hielt den Schuh in seiner runzligen Hand, als hätte er eine Taube gefangen.

Der Junge hörte auf zu weinen.

»Von außen sind es achtundzwanzig, innen haben sie ein bisschen geschwindelt, da fehlt ein Viertelmillimeter.«

Er verkündete das Ergebnis der Untersuchung, die er angestellt hatte, und warf uns den Schuh so vorsichtig zu, dass er uns vor die Füße fiel. Nadav berührte den Schuh nicht, der neben seiner offenen Hand lag, mit der Oberseite nach unten, mit der Sohle zum Himmel.

»Der Schuh«, sagte ich. »Los, zieh den Strumpf hoch und schlüpfe hinein.«

Es ärgerte mich, dass er gehorchte und tat, was ich ihm befohlen hatte. Der Alte folgte jeder seiner Bewegungen.

»Morgen ziehe ich die anderen Schuhe an«, verkündete Nadav, als wir das Haus betraten. Er hatte Angst, dass der Alte ihm die neuen Schuhe wegnehmen könnte, er packte sie ein, schob die Schachtel weit unter das Bett und fragte, ob der Alte einen Schlüssel für unser Haus habe und ob er sich noch bücken könne. Er prüfte das Versteck und stopfte seine Zudecke in den Raum zwischen dem Bett und dem Fußboden. Man muss sich dieses Jungen einfach annehmen, a mentsch aus ihm machen, sagte ich, als würde ich selbst die Oberhand behalten. Und angenommen, ich wollte es wirklich tun, wo würde ich anfangen?

Kinder? Gott? Liebe? Karriere? Gnade? Reichtum? Ehre? Im Fernsehen haben sie mal eine kaukasische Weberin gezeigt, die vom Webstuhl zurücktrat und prüfte, was ihre Hände geschaffen hatten, sie wusste genau, wie viele Säcke Mehl ein gut gelungener Teppich wert war. Auch ich trat einen großen Schritt zurück, von der Bank zum Laden, und prüfte mein Leben, um zu sehen, was ich damit anstellen musste, damit es gelingen konnte, und bis heute war mein eigentlicher Verdienst der Himmel. In der Bank hatte ich ein Modell des Himmels auf zwanzig mal sechzig Zentimeter, der Himmel, den ich von der Ladentür aus sah, war zu breit und zu schwer für ein einziges Augenpaar. Ganz zu schweigen vom Himmel über dem Dorf.

Kinder? Ich habe es erwogen. Bestimmt waren sie etwas, für das es sich lohnte zu leben und auch zu sterben. Ich hatte ein Kind, außerdem hatte ich zwei Anfänge von Menschen gehabt, die nicht fertig wurden. Spontane Abbrüche nennt man das, als hinge es vom Menschen selbst ab, ob er das Rennen aufgibt, bevor es begonnen hat, als ob er beschließen könne, sich aufzulösen, bevor er groß genug war, herauszukommen und zu kämpfen. Schon lange bettelte das einzige Kind, das wir hatten, um einen Bruder, sagte, es mache ihn sauer, dass alle anderen Geschwister hatten, nur er nicht. Ich war jung, auch Gideon war jung, wenn die Fische seine Sicht auf das Leben nicht änderten, würde er weitere Kinder wollen. Wir könnten versuchen, Nadavs Wunsch zu erfüllen, und zwei oder drei Kinder haben, wir würden uns bemühen, sie vor allen Krankheiten und Plagen zu bewahren und all ihre Fragen zu beantworten, so schwierig sie auch sein mochten. Aber was würden wir tun, wenn das Leben ihnen trotzdem Schmerzen zufügen würde? Wir könnten ihre Erschaffung nicht rückgängig machen und sie dem Nichts zurückgeben, in dem sie vor ihrer Existenz gewesen waren, und wenn wir in Not wären, müssten wir uns die Frage stellen, ob es nicht besser für den Menschen war, nicht geboren zu werden.

Gideon erfuhr alle Details des Tages am Telefon, von der Petersilie bis zum Schnürsenkel. Ich wusste nicht, von wo aus er mir zuhörte, vom Deck eines alten Fischerboots, aus der Lobby eines billigen Hotels, aus einer dämmrigen Bar oder von einem Korallenriff. Ich beschrieb ihm Nadavs Nachgiebigkeit und Zartheit und meine Hände, die zugleich schlagen und streicheln wollten.

»Willst du, dass ich zurückkomme?«

»Nein. Komm dann, wenn du meinst, dass du deine Auszeit erschöpft hast.« Ich fragte nicht, ob er zu einer Schlussfolgerung gekommen war und neue Lebenseinsichten gewonnen hatte, ob er sich nach seiner schwarzen Robe sehnte, nach zu Hause, nach mir. Wir erwähnten diesmal auch weder Gott noch den Laden, ich wollte über den Jungen sprechen.

»Er möchte einen kleinen Bruder.«

»Nun, man kann nicht sagen, wir hätten es nicht probiert.«

»Wir können es noch einmal probieren.«

»Wir sollten lieber erst schauen, wo wir stehen«, sagte er, und ich hörte, dass er etwas trank, vielleicht Whisky.

Möglicherweise hatte er wieder angefangen zu rauchen. Während seiner Zeit in der schwarzen Robe hatten ihm die Zigaretten nicht mehr gereicht, er war auf Zigarren umgestiegen, und trockener Wein hatte ihm nicht so gut geschmeckt wie der erlesene Whisky, den er in der gut sortierten Weinhandlung kaufte. Aber als er mit dem »wer und was bin ich« anfing, hatte er sich die Zigarren abgewöhnt und den Whisky ins Spülbecken gekippt und den Ausguss besoffen gemacht, die ganze Küche roch nach Kneipe. Er sagte, sein Kopf sei voll genug, auch ohne Alkohol und Nikotin.

Bis er das Haus verließ, hatte er durchgehalten. Woher sollte ich wissen, was jetzt war? Er besaß einen anderen Himmel, eine andere Zeit, eine andere Dunkelheit, eine fremde Matratze, einen anderen Geruch, er besaß T-Shirts und Flipflops, keine Ahnung, welchen Einfluss all diese Dinge auf seine Neigungen und seine Bedürfnisse hatten. In schweigendem Einverständnis stellte ich keine Fragen, und er fragte ebenfalls nichts.

»Und wie geht es dir?«, fragte er am Schluss.

»Mir geht es prima.«

Ich hatte ihm nicht gesagt, dass ich vorhatte, meinen Zopf abzuschneiden.

Nadav war der Erste, der ihn bemerkte, als wir am nächsten Tag von der Arbeit zurückkamen. »Da ist Papa!« Er riss sich von meiner Hand los und rannte auf das Haus zu, beim Rennen hüpfte der Proviantbeutel mit den Pflaumen, die er nicht gegessen hatte, auf seiner Brust.

Gideon saß auf der Haustürtreppe, er hatte gesagt, er würde uns nicht überraschen, aber er überraschte uns doch. Es lag etwas Mitleiderregendes in der Art, wie er das Kinn auf die Knie drückte, an dem trockenen Zweig, mit dem er in den Sand malte, an dem leeren Rucksack, der ihm über den Rücken hing. Er hörte die Pflaumen an Nadavs Brust schlagen, er hörte das Klappern der kleinen Schuhe und richtete sich auf. Als er den Jungen sah, lächelte er ihm entgegen und breitete die Arme aus, um ihn aufzufangen. Er sah auch mich und winkte mir zu. Sein Unterarm war unerwartet dünn, er hätte Muskeln bekommen müssen von der Arbeit. Seit er weggegangen war, band er Schilfrohr zusammen, befestigte Haken, warf Gewichte mit Ködern aus, zog Netze ein und erledigte alle möglichen anderen Arbeiten, für die kräftige Arme nötig waren. Er hob Nadav in die Höhe und rieb sein Gesicht am Hals des Jungen, dann machte er eine Hand frei, zog mich an sich und drückte mir einen Kuss auf die Haare.

»Du hast gesagt, du würdest nicht überraschend auftauchen.« Ich lächelte und achtete darauf, nicht den geringsten Vorwurf in meine Stimme zu legen.

»Wirklich? Das habe ich vergessen.«

»Du wolltest keinen Schlüssel.«

»Ja, je weniger Schlüssel, umso besser.«

Der Alte stand in seinem offenen Fenster wie ein Zugschaffner auf seinem Wachposten. Er beobachtete uns misstrauisch, sein Körper war angespannt und nach vorn geneigt, er hielt sich am Fensterbrett fest, um vor lauter Neugier nicht hinauszufallen.

»Wer ist der Herr?«, fragte er Gideon mit barscher Stimme. Nadav verbarg sein Gesicht am Hals seines Vaters und stieß ihn mit den Schuhen an, um ihn zur Eile anzutreiben.

»Ich bin Gideon, der Mann Ihrer Mieterin und Vater des Jungen«, antwortete Gideon. Ich hatte die Tür aufgeschlossen, wir waren schon mit einem Fuß im Haus.

»Interessant. Meine Mieterin bekommt jeden Tag neue Verwandte. Was ist, Junge, warum hast du heute nicht deine neuen Schuhe angezogen?«

Nadav schwieg, wir gingen ins Haus und machten die Tür zu.

Wir hatten uns lange nicht gesehen, aber es war, als hätten wir uns erst gestern getrennt, es gab keine Dramen und keine persönlichen Bekenntnisse und keine tiefgründigen Diskussionen über den Prozess, oder was immer es war, was Gideon durchmachte. Wir unterhielten uns über einfache, alltägliche Dinge, wie früher, wenn Gideon von seiner Kanzlei zurückgekommen war und ich von der Bank, doch statt um Verbrecher ging es jetzt um Fische und die Rettung, und statt um Gewinn- und Verlustrechnungen um den Laden. Ich fragte: Nescafé oder aufgebrühten? Welche Fische habt ihr in eurer Zucht? Magst du Toast? Er fragte: Wie geht der Laden? Geht dir dieser Hausbesitzer nicht auf die Nerven? Nadav redete mehr als wir beide, und wir unterbrachen ihn nicht. Er zeigte sein Schuhversteck, erzählte von den echten Pistolen der Polizisten, von den neuen Verwandten, die wir bei der Polizei gefunden hatten, und er verriet auch die Parole. »Du musst nur ›kleine russische Hure‹ sagen und sie kommen. Madonna hat mir das beigebracht. Kennst du sie?«

Gideon trank Kaffee, aß und sprach wie früher, wie immer, aber sein Bariton war kratzig, als wären seine Stimmbänder von der stärkeren Sonne im Süden angesengt oder vom Salz verätzt worden. Sein Arm war dünner geworden, der Abstand, der sich zwischen dem Uhrenarmband und dem Handgelenk auftat, war neu. Seine Augen suchten meine, wenn ich schwieg, und wichen mir aus, wenn ich ihn anschaute. Ein Mann, der einen guten Platz vorn im Autobus gehabt hatte und plötzlich beschloss auszusteigen und der seither keinen richtigen Platz fand. Er ging mit Nadav hinaus auf den Hof und erzählte ihm von den Fischen, und in seiner Stimme lag etwas Gezwungenes. Ich schaute ihnen vom Fenster aus zu, er klopfte Nadav auf die Schulter, los, wir gehen in den Wald, und der Junge fing vor Freude an zu hüpfen wie eine Laubheuschrecke, hielt inne, um sich zu versichern, dass sein Vater ihm folgte, und hüpfte weiter. Ich hätte schwören können, dass sich sein Herz bei jedem Fisch, den er dem Jungen beschrieb, zusammenzog, bei jeder Umarmung, bei jedem Streicheln und jedem eingebildeten Anzeichen männlicher Verbrüderung. Wo also hatte der Fehler angefangen? Wäre er weiter in den Hallen der Gerechtigkeit ein und aus gegangen, hätte er uns eine geachtete Existenz gesichert, und wäre er da gewesen, für mich und das Kind, hätte es ihn von innen angenagt. Nun, da er sich eine Auszeit von allem genommen hatte, nagte es ihn ebenfalls von innen an. Wie man auch handelt, man ist nie frei von Fehlern und Schuld. Wann ist ihm der Fehler unterlaufen? Als er Jura studierte? Als wir geheiratet haben? Als der Junge geboren wurde? Was spielte es für eine Rolle, der Zwang, Fehler zu begehen, liegt tief in uns, er ist so stark wie Hunger und Sex.

Ich bereitete eine große Schüssel Salat vor, würzte ihn und fügte Sonnenblumenkerne und gehackte Walnüsse hinzu. Sie kamen zurück, und wir aßen. Nadav war müde, sein Vater brachte ihn ins Bett, wie früher, aber der Junge schlief ein, bevor die Geschichte zu Ende war. Drüben beim Alten waren die Rollläden heruntergelassen, wir ließen auch unsere herunter und gingen ins Bett. Wir sprachen sehr wenig. Innerhalb von Sekunden wussten unsere Körper, was sie verlangen und was sie geben mussten. Wir liebten uns wie früher, wie immer. Vielleicht war es etwas mehr als früher, aber nicht viel. Und dann stand er auf, ging zum Fenster und zog den Rollladen ein Stück höher. »Ich möchte dich sehen.« Er beugte sich über mich und betrachtete im schwachen Licht, das von draußen hereinfiel, meinen nackten Körper, zeichnete mit einem unsicheren Finger meine Konturen nach, beginnend an der Stirn und entlang der Linie, die über meinen ganzen Körper führte, und alle Poren und Körperöffnungen wurden berührt und öffneten sich, und alles, was Ausscheidungen hatte, war da, einschließlich der Tränen. Wir begannen von Anfang an und dachten nicht darüber nach, warum seine Hand so mager geworden war, und warum sein Bariton nicht mehr war wie früher, und auch nicht darüber, was war, oder über umfassende Einsichten zur menschlichen Existenz, wir überließen uns der Lust, die mit uns machte, was sie wollte, sie schwemmte uns davon, und danach waren wir erschöpft und schliefen wie Kinder.

Am Morgen benahmen wir uns wie immer. Eine Familie, die gründlich die Zähne putzt, zwei Tassen Kaffee und eine Tasse Kakao trinkt, Cornflakes isst, sich die Reste der Cornflakes aus dem Mund spült, sich kämmt, das Haus verlässt und mit dem familieneigenen Mazda losfährt. Genau wie Millionen anderer Menschen in der westlichen Welt. Auch an diesem Morgen schaute der Alte aus dem Fenster, er spähte uns unter halb gesenkten, geschwollenen Lidern hinterher, auch an diesem Morgen lugte ein Blatt Papier aus dem Briefkasten und verkündete: »Die gestohlenen Wasser sind süß, und das verborgene Brot schmeckt wohl.«

»Jeden Tag wirft man bei uns solche Zettel rein«, sagte Nadav.

Auch aus dem Briefkasten des Alten und anderen Briefkästen ragten Blätter. Gideon sah und hörte uns zu, sagte aber nichts. Ich chauffierte, und er saß neben mir und betrachtete die Häuser, an denen wir vorbeifuhren, die gepflegten Gärten, die Rasenflächen, auf denen Tau glitzerte, die Holzschilder, auf denen die Namen der Bewohner standen.

»Das ist das Haus von Schoschana«, verkündete der Junge von seinem Sicherheitssitz auf der Rückbank aus. Er erzählte Gideon, dass Schoschana die Tochter dieses lästigen Mannes sei, der die ganze Zeit Fragen nach seinen Schuhen stelle. Er erzählte auch von Schoschanas Kindern, die langsam seine Freunde würden, aber Gideon hörte nicht zu, er versuchte, mit den Zähnen ein Stück Fingernagel abzureißen. Seine Schultern hatten an Straffheit verloren, seit er Fischer geworden war und sich den ganzen Tag zu den Fischen bückte. Der Junge redete und redete, sein Vater kämpfte mit dem Fingernagel, und ich empfand einen plötzlichen Impuls zu bremsen, damit wir alle durcheinandergeschüttelt würden.

Wir brachten Nadav zum Kindergarten, dann fuhren wir zum Laden, und dort küssten wir uns, wie sich Paare auf der westlichen Hemisphäre küssen, wenn sie sich morgens voneinander verabschieden. Ich stieg aus, und Gideon wechselte auf den Fahrersitz. Ich betrat den Laden, und Gideon fuhr zu seinen Eltern, Bezalel und Alisa, den Großeltern unseres Sohnes, die in der Scharonebene leben, in einer hoch entwickelten Stadt, mit Duplex und in einer Wohnung mit Fenstern nach allen Himmelsrichtungen. Sie handeln mit Beleuchtungskörpern, und ihre blühende Firma heißt Babek (die Anfangsbuchstaben von: Bezalel Alisa Beleuchtungskörper). Ihre fünf Angestellten tragen braune Hemden mit dem Aufdruck »Babek, für alle, die schon alles haben«. Und mit Recht. Nur wer schon alles hat, wird sein Geld für einen Beleuchtungskörper in Form eines Frauenkörpers ausgeben, bei dem das Licht aus den Brüsten kommt, oder in Form nackter Männer, die aus ihrer Männlichkeit leuchten, oder für Nymphen, deren fettes Hinterteil Licht gibt. Für Kleinkinder, die schon alles haben, stellen sie Pinocchio-Lampen her, bei denen das Licht aus den Nasenlöchern kommt, oder Aschenputtel, deren gläserne Schuhe rosa flimmern. Zu Nadavs Geburtstag hatten sie ihm ein Hündchen mitgebracht, das Licht bellte, wenn man es mit der Steckdose verband. Bei unserem Umzug ins Dorf nahmen wir das Hündchen nicht mit, es blieb schweigend und mit gezogenem Stecker in der Stadtwohnung zurück.

Bezalel und Alisa hatten ein gutes Leben, wie man so sagt, sie wurden geboren, als der große Krieg auszubrechen drohte, sie in einem Kibbuz, er in einer Kooperative im Scharon. Zu der Zeit, als sie hier lauthals sangen »Das Land, das unsere Väter begehrten«, wurden zwei Kinder im gleichen Alter, Jizchak und Channa, die woanders zur Welt gekommen waren, zu Feinden der Menschheit erklärt. Später brachten sie mich und Jonathan auf die Welt und eröffneten einen Lebensmittelladen für Kunden, die nicht alles hatten.

Vor vielen Jahren hatten sich die beiden Paare getroffen, um ernsthaft über meine und Gideons gemeinsame Zukunft zu sprechen. Bezalel und Alisa waren angezogen wie zum Konzert, sie trug ein blaues Chiffonkleid und hatte sich die Haare gewellt, und er hatte einen eleganten Anzug und eine weinrote Krawatte an und brachte eine große Babek-Schachtel mit. »Das ist für euch«, sagte er, hielt meinem Vater die Schachtel hin und lachte. »Das ist ein Geschenk aus unserer Produktion.« Im Wohnzimmer meiner Eltern brannten zwei Lampen mit 40-Watt-Birnen und in der Küche eine schmale Neonröhre, die immer lange flimmerte, bevor sie mattes Licht verströmte.

»Packt aus«, drängte Bezalel, und mein Vater, in seiner guten Hose und einem seiner drei Hemden, die er sonst zu Elternversammlungen, zu Beerdigungen und zu Schoah-Gedenkfeiern trug, riss den Verschluss der Schachtel auf, und zum Vorschein kam ein Marmorspringbrunnen mit einer Löwenfigur in der Mitte und einem weißen runden Sammelbecken.

»Schließt es an den Strom an, und ihr werdet die Effekte sehen.« Der Gast war begierig und ungeduldig. Mein Vater brachte eine Verlängerungsschnur und steckte den Stecker in die Dose. Strahlendes Licht fiel aus der Mähne des Löwen, und beleuchtete Wasserstrahlen sprangen aus seinem Maul und prasselten auf den Beckenboden. »Spitze«, sagte ich, weil die anderen schwiegen, und Gideon stieß mich mit dem Ellenbogen an, senkte den Kopf und unterdrückte ein Kichern. Nachdem wir das Produkt der Gäste betrachtet hatten, brachte meine Mutter ihr Produkt, einen zusammengefallenen Käsekuchen, und mein Vater öffnete eine Flasche Kirschlikör, die er aus dem verstaubten Flaschenfach des Ladens mitgebracht hatte. Mutter schnitt den Kuchen auf, und Alisa betrachtete die Lebensmittelhändlerinnenhände, denen man ansah, dass sie sonst mit Salzheringen und geräucherten Makrelen hantierten. Wir stießen an, wir aßen Kuchen und lehnten nicht von ungefähr eine zweite Portion ab. In meinem Stück, zum Beispiel, war noch ein nicht durchgebackener Mehlklumpen. Wir beendeten die Bewirtung und gingen dazu über, das Wann, Wie und vor allem Wieviel zu besprechen. Mein Vater sagte: »Wir bezahlen ihr das Studium bis zum ersten Staatsexamen und kaufen einen Kühlschrank, einen Herd und eine Waschmaschine.«

Bezalel sagte: »Wir bezahlen ihm das Studium bis zum Doktorat und eine halbe Wohnung.«

Gideon stieß mich an und flüsterte: »Anything you can do I can do better.«

Meine Mutter zerdrückte eine Papierserviette, und mein Vater sagte: »Vergesst nicht, dass wir nicht hier geboren sind. Wir haben bei null angefangen, was ich gesagt habe, ist das, was wir haben.«

»Wir haben bei null angefangen? Nein, Jizchak, wir haben bei unter null angefangen«, stellte meine Mutter richtig und bearbeitete die Serviette, bis nichts mehr von ihr übrig war.

Alisa richtete sich auf und ließ die gefalteten Hände in den Schoß sinken. »Wieso, habt ihr keine Wiedergutmachung bekommen? Eine Rente? Irgendetwas?«

»Wir haben nichts angenommen. Wer unsere Eltern umgebracht hat, kann uns nicht mit Geld kaufen.« Mein Vater hatte sich vorgebeugt, seine Augen verfolgten die dünnen Wasserstrahlen, die aus dem Löwen sprangen, und meine Mutter sah aus, als würde sie jetzt lieber im Laden stehen und zweihundert Gramm Schnittkäse schneiden.

Alisas Gesicht wechselte den Ausdruck, ihre selbstgefällige Miene zeigte deutlich, was sie nicht aussprach: Gut, wenn ihr freiwillig auf eine Rente verzichtet habt, seid ihr vermutlich gar nicht so schlecht dran. Ihr habt zwei Kinder zu versorgen? Nun, dann strengt euch eben an. Gideon verstand den Wechsel im Gesicht seiner Mutter und schnappte nach Luft. Mein Vater senkte den Blick auf seine Schuhe und plante eine Rede, die bald auf diesen Staat übergehen würde, der ohne die sechs Millionen, die ins Gas gegangen waren, nicht entstanden wäre. Wer hier geboren wurde, schulde jenen viel, die dort waren, ohne die sechs Millionen wärt ihr noch unter britischem Mandat. Ohne die Schoah hättet ihr für eure Firma die Genehmigung des britischen Gouverneurs gebraucht …

»Wir brauchen keine Wohnung, wir bekommen eine Wohnung im Studentenheim«, sagte ich, bevor mein Vater mit seiner Rede anfangen und die sechs Millionen ins Zimmer bringen würde. Ich hatte genug davon, dass immer die Schoah zu Hilfe gerufen wurde, es hing mir zum Hals heraus.

»Geld für Miete auszugeben, das ist, als würde man Geld in den Müll werfen«, verkündete Bezalel und knüpfte seine Krawatte auf.

»Wer hat von Miete gesprochen? Ein symbolischer Beitrag zum Unterhalt, darum geht es. Es gibt dort einen Kühlschrank, eine Waschmaschine, einen Herd, Strom, Wasser, alles auf ihre Kosten.« Gideon wiederholte meine Worte, und wenn es nötig gewesen wäre, ein Zebra zu erfinden, um die Sache zu klären, hätte er ein Zebra erfunden.

Bezalel sagte, umsonst bekomme man nur in der zukünftigen Welt etwas, er wolle wissen, warum man uns etwas geben wolle und was diese Leute davon hätten.

»Was sie davon haben? Sie wollen, dass die Guten bei ihnen bleiben«, sagte Gideon und nahm gewichtig einen Schluck Likör.

»Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?« Seine Mutter schlug die Beine übereinander und legte ihre Tasche auf den Schoß, als wolle sie sagen, gut, wir gehen jetzt.

Sie gingen, und mein Vater war zufrieden damit, dass er ihnen außer dem Käsekuchen auch noch ein Stück Schoah vorgesetzt hatte.

»Bestimmt können wir dir eine halbe Wohnung bezahlen«, sagte mein Vater. »Hast du gedacht, wir könnten es nicht? Wirklich? Wer selbst kein Haus hatte, wird sich umbringen, um seinem Kind ein Haus zu bieten.«

»Warum hast du es dann nicht gesagt?«

»Ich will nicht, dass sie hinterher sagen, da sieht man’s, wie diese Überlebenden im Leben zurechtkommen, es kann gar nicht sein, dass sie ohne etwas angekommen sind, sie machen aus dieser Schoah eine größere Katastrophe, als sie es war. Ich will dir etwas sagen: Nur wer hier geboren ist, kann sich erlauben, pinkelnde Figuren zu verkaufen und damit auch noch Millionen zu verdienen. Wer von dort kommt, verkauft Brot und Oliven.« Zur Feier seines Sieges über die Eltern seines zukünftigen Schwiegersohns goss er sich noch ein Glas ein, und als er es geleert hatte, war die Feier zu Ende. Er zog sich wieder in sich selbst zurück, wurde ernst, schwieg, machte eine der 40-Watt-Birnen aus,  zog  den Stecker des Springbrunnens aus der Dose, rollte die Verlängerungsschnur zusammen und legte sie wieder auf den Stauboden. Der Löwe war für immer ausgegangen, und das Becken wurde im Winter als Behältnis für Orangenkerne benutzt und im Sommer für Aprikosenkerne.

Am Schluss wurde unsere erste Wohnung vom Geld des Porzellans und des Brotes gekauft, zweieinhalb Zimmer und ein Schuppen. Nach vier Jahren, als Gideon sich schon einen Namen gemacht hatte und ich bei der Bank gut vorankam, verkauften wir sie und kauften uns eine Vierzimmerwohnung mit Dachterrasse und Aussicht auf die westlichen Hänge der judäischen Wüste.

Nun war unsere Wohnung abgeschlossen. Gideon hatte bei den Fischen Exil gefunden, der Junge und ich waren im Dorf, Bezalel und Alisa suchten die Schraube, die bei uns locker war, denn wie war es möglich, dass zwei begabte Akademiker mit großen Karrieren auf dem Weg nach oben plötzlich vom Pferd stiegen. Alisa sagte, Gott habe jemandem ohne Zähne Nüsse geschenkt, und Bezalel war der Ansicht, wir hätten besonders gute Zähne gehabt, doch dann wären wir auf den Kopf gefallen und hätten sie uns ausgebrochen.

Meinen Eltern war es gelungen, zu sterben, bevor wir vom Pferd stiegen, sie brauchten nicht nach den Schrauben zu suchen, die wir verloren hatten, und sie brauchten sich auch nicht um unsere dentistischen Probleme zu kümmern. Sie waren nicht älter gewesen als Gideons Eltern, aber ihr Herz arbeitete dreimal so viel und war verbraucht. Früher hatte das Blut für die Beine gereicht, um zu fliehen, dann für das Gehirn, um zu vergessen, und dann, um sich zu erinnern, und am Schluss war die Pumpe vor der Zeit unbrauchbar geworden.

Nachdem Gideon seine Eltern lange nicht gesehen hatte, fuhr er nun mit hängenden Schultern und mager gewordenen Armen zu ihnen, um sie zu besuchen.

Als er zurückkam, holte er den Jungen vom Kindergarten ab und mich vom Laden. Die paar Stunden bis zum Schließen des Ladens konnte Amjad allein bleiben. Der Laden hatte das Hauptgeschäft schon hinter sich, Kinder und alte Leute, das Zielpublikum, meiden die Dämmerung und kaufen lieber am helllichten Tag.

»Wie war’s«, fragte ich. Er beugte sich über das Lenkrad, konzentriert, als würde dichter Nebel den Blick auf die Straße versperren, obwohl die Luft klar war. Die Sonne bewegte sich zur anderen Seite der Welt, ihre Strahlen waren am Horizont noch zu sehen, würden aber bald von Tälern und Wäldern verschluckt werden.

»Wie war was?«

»Wie war’s bei deinen Eltern?«

»Ich war nicht bei ihnen.«

»Warum nicht?«

»Ich hatte keine Lust.«

»Was hast du dann gemacht? Warst du im Büro?«

»Nein.« Er richtete sich auf, straffte die Schultern wie in den Tagen der schwarzen Robe, bereit, etwas zu verteidigen.

Ein rotes Licht flackerte auf, dämpfte die Sonne und erlosch wieder. Wir schwiegen und betrachteten die Straße, die ruhig vor uns lag, von einem Balkon flog ein Papierdrache, ein Auto mit einer ganzen Familie, Vater, Mutter und ein Baby, stand rechts von uns vor der Ampel, eine Frau wartete an einer Bushaltestelle und aß eine Banane, zwischen ihren Füßen stand eine volle Einkaufstüte. Nadav sagte: »Papa, Mama, schaut, ein Militärlastwagen.«

Was hast du den ganzen Tag gemacht? Sollte ich es fragen oder nicht? Wenn du es nicht fragst, sagte ich mir, zeigst du kein Interesse, warum bist du gekränkt, warum bist du zornig. Frag einfach.

»Ich war in unserer Wohnung. Ich habe die Pflanzen gegossen. Ich habe ein bisschen sauber gemacht. Man muss alle paar Wochen mal nachschauen, was los ist, nicht wahr?« Er hatte recht. Man musste ab und zu hingehen, lüften und gießen, aber er hatte nie etwas dergleichen getan. Dafür war ich zuständig. Ich fuhr zur Wohnung, um in Nadavs Spielsachen nach Lego-Polizisten zu suchen und sie ihm zu bringen. Die Pflanzen waren vertrocknet, die Geranien verwelkt, die Zwergorange kaputt, der Gummibaum lag in den letzten Zügen. Man roch, dass die Wohnung lange nicht gelüftet worden war, überall lag dicker Staub, grau und dicht, kein Finger war darübergestrichen.

Ich wollte die Hand auf seinen Nacken legen und sagen, auch wenn du nicht dort warst, ist nichts passiert. Auch verheiratete Leute dürfen sich ein Stück aus der gemeinsamen Zeit schneiden, ohne dass sie dafür Rechenschaft ablegen oder Steuern bezahlen müssen. In meiner Torheit fürchtete ich, eine umfassende Genehmigung zum Lügen zu erteilen, und legte die Hand nicht auf seinen Nacken.

»Grün, du kannst fahren«, sagte ich, denn er war in Gedanken versunken und hatte nicht bemerkt, dass die Ampel umgeschaltet hatte.

»Rot, bleib stehen!«, rief ich erschrocken, denn auch diesmal hatte er nichts bemerkt oder er schien vergessen zu haben, was rote oder grüne Ampeln bedeuten.

Bei seiner Ankunft hatte er gesagt, er würde nur eine Nacht bleiben, doch er vergaß es, er blieb drei Nächte und gab sich Mühe, sich zu Hause zu fühlen. Er briet Rühreier fürs Abendessen. Er las dem Jungen vor dem Einschlafen eine Geschichte vor, er unterhielt sich mit Bezalel und Alisa am Telefon, ja, nein, vielleicht, keine Ahnung, wir werden sehen … Er aß wenig. Zweimal trank er vom 777, den ich aus dem Laden mitgebracht hatte. Abends stützte er die Ellenbogen aufs Fensterbrett und schaute lange zu, wie die Schatten dunkler wurden und die Kiefern von der Dunkelheit verschluckt wurden. Die Zeitungen, die ich ihm vom Laden mitbrachte, interessierten ihn nicht, er schnitt nur Autoreklamen und Bilder von Tieren für Nadav heraus, er schnitt auch die Krawatten aus den Fotos des Präsidenten und der Minister heraus und machte Fische aus ihnen, er suchte mit dem Jungen die Buchstaben seines Namens. Er schlug die Gerichtsberichte auf, schnitt die Waage der Gerechtigkeit aus und stellte sie zu dem Gemüseladen, den der Junge auf dem Teppich eröffnet hatte. Wenn er hörte, dass ich mich dem Teppich näherte, dem Fenster, dem Spülbecken, war er angespannt, als müsse er sofort etwas erklären. Wenn er zum Gericht zurückkehren würde, müsste er seine weißen übergroßen Hemden gegen normal große tauschen. Ich wünschte, er würde zurückkehren. Oder eigentlich nicht. Wie würde er auf jenem tosenden Meer segeln, mit schlaffen Segeln und ohne Wind.

Nadav saß in der halb gefüllten Badewanne und ließ eine Flotte von Spielzeugenten fahren, und wir saßen nebeneinander auf dem Wohnzimmersofa. Ich legte eine Hand auf sein Bein und wollte mich ihm nähern, er streichelte meinen Arm. Seine Hand glitt nach oben und nach unten, so mechanisch, wie man gedankenlos mit den Fingern trommelt oder mit dem Fuß wippt.

»Was ist los?« Diese Worte kamen abgewogen aus meinem Mund, abgewogen wie auf einer Goldwaage.

»Was meinst du?«

»Du hast abgenommen, du hast keinen Appetit, deine Schultern hängen, du bist nicht zu deinen Eltern gefahren, du warst nicht in der Wohnung, wir reden nicht miteinander … Soll ich weitermachen?«

»Um vier und fünf Frevel des Gideons willen will ich seiner nicht schonen«, sagte er, ohne zu lächeln. Er verschränkte die Arme, löste sie wieder und zog an den Fingern. Die Entenboote stießen in der Badewanne zusammen, Nadav kreischte vergnügt und wir saßen auf dem abgewetzten Sofa und betrachteten den Tisch, denn hätten wir einander ins Gesicht schauen wollen, hätten wir die Köpfe um neunzig Grad drehen müssen. Weil wir uns entschieden hatten, die Köpfe nicht zu wenden, sprachen wir zur Blumenvase.

»Keine Ahnung.« Er starrte das Muster der Blumenvase an und sagte, er brauche Zeit, der Prozess sei mit Krisen und Niederlagen verbunden, man könne nur nach oben steigen, wenn man erst ganz unten im Loch gewesen sei, und er sei schon nahe dran, habe es aber noch nicht erreicht. Er wisse, dass sich das wie der recycelte Monolog eines Mannes aus der Wochenendausgabe einer Zeitung anhöre, aber so sei es nicht.« Wäre ich ein halb verhungerter Inder, der nichts besitzt außer einem Pappkarton, würde ich morgens aufstehen, mir den Eiter von den Lidern reiben und überlegen, wie ich die nächste Scheibe Brot ergattern könnte, aber was soll ich machen, mein Problem ist leider nicht, wie ich eine Scheibe Brot bekomme …«

Er sei enttäuscht von sich selbst, er habe versucht, seine rhetorischen Fähigkeiten zu beleben und habe es nicht geschafft, und je verzweifelter er wurde, umso schneller sprach er und bewahrte dabei Blickkontakt mit der Vase, als sei sie sein Psychiater.

»Tacheles, Gideon, was willst du erreichen, wozu ist diese ganze Geschichte gut?« Ich unterbrach ihn, um uns beiden zu helfen.

»Um das zu finden, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen. Okay?«

»Ein Kind? Eine Frau? Sind diese Gründe nicht gut genug?«

»Sei mir nicht böse, das sind sie nicht. Auch ein Kaninchen hat Frau und Kind.«

Das Wortgefecht ermunterte ihn, wie im Gerichtssaal war der Funke entzündet, und gerade als seine Stimmbänder sich erholten und sein Bariton zu ihm zurückkam, drang Nadavs lautes Rufen aus dem Badezimmer: »Ich bin fertig, holt mich raus.«

Die verbale Flut des Juristen, des Zauberers mit Worten, die Realitäten schafft und Realitäten leugnet, war unterbrochen. Zusammengekrümmt wie ein Embryo ließ sich Nadav in das blaue Handtuch wickeln und auf den Armen seines Vaters zum Bett tragen, sein kindliches Lachen drang aus den Falten des Handtuchs. »Papa, ich möchte mit dir zu den Fischen gehen«, sagte er.

»Nein, Nadav, ich muss dort allein sein.«

»Ich werde dir beim Fischen helfen.«

»Du kannst mir nicht helfen, Schatz.«

»Doch, ich kann  …« Weinen verzog sein Gesicht, er schüttelte sich das Handtuch ab und half nicht beim Anziehen.

»Du hast gesagt, dass du mich mal mitnimmst …« Es war ein schwaches Weinen, keines, das einem zum Sieg verhilft, aber sein Vater war noch schwächer.

Am Morgen fuhren beide zu den Fischen. Eigentlich alle drei.

Aber vor dem Morgen kam die Nacht.

Auch in dieser Nacht schliefen wir zusammen. Nicht gierig wie Menschen, die sich nur kurz treffen und dann wieder gehen, unsere Körper wussten besser als wir, dass wir ein Fleisch waren. Die Wange hatte es nicht nötig, dass der Verstand ihr Anweisungen gab, sie wusste von selbst, in welche Höhlung sie sich legen sollte, die Zunge wusste von selbst, wo sie Süßes und Salziges fand, und die Hände kannten ihren Weg zum Harten und zum Weichen, und alles andere wusste ebenfalls Bescheid, und das ist wohl das, was das Wort »Wissen« bedeutet.

Danach saßen wir draußen auf der Doppelschaukel. Wüstenwind bedeckte den Himmel mit Staub, eine schwache Aureole umgab den Mond, sein Licht brach sich im Staub, der sich um ihn gesammelt hatte, und ließ einen blassen Kreis entstehen. Wie ein Kranker, der nicht über seine Krankheit spricht, sprachen wir nicht über das große Leben, nur über Bagatellen, die es verschönern.

»Ich will mir den Zopf abschneiden«, sagte ich.

»Bist du verrückt geworden?« Er richtete sich auf, löste den Rücken von der Lehne und drehte sich zu mir, mit weit aufgerissenen Augen, im schwachen Licht des Mondes war der Hauch eines Lächelns auf seinem Gesicht zu erkennen. Über einen Zopf, bestehend aus drei Haarsträhnen, ließ sich einfach und leicht sprechen, kurz oder lang, dick oder dünn, welche Horizonte eröffnete schon ein Zopf?

»Scha’ul Harnoi hat gesagt, er sei verblasst.«

»Wer? Ach so, er, na und?«

Der Arm, der die Kette der Schaukel traf, traf auch mich und ließ mir einen heißen Schauer über den Rücken laufen. Er streckte auch den zweiten Arm aus, spannte die Beine und beugte sie, und die Schaukel stieg an, immer wieder, der Schwung nahm zu und wir entfernten uns von der Erde, und weil wir uns dem Himmel näherten, wurde der Zopf vergessen und verschwand, zusammen mit allen, die ihn je berührt oder geküsst hatten, mit allen Verabredungen, für die ich meine Haare geflochten und hinterher wieder gelöst hatte. Und Scha’ul Harnoi verschwand ebenfalls von der Schaukel, ebenso zufällig, wie er hierhergeraten war.

Wir saßen im Hinterhof, vor uns war der rostige Zaun, dahinter begann der Wald, dessen junge Bäume aussahen, als wären sie von den Zaunlatten aufgespießt. Hier konnte uns der Alte nicht sehen, aber er konnte das Quietschen der Schaukel hören, die Luft, die wir durchstießen, und unser plötzliches Gelächter und unsere Ausgelassenheit, und deshalb waren wir auch nicht überrascht, als wir das Tor knarren hörten. Wir hielten inne und warteten auf seine Schritte auf dem Kies und auf das Rascheln von Laub unter seinen Schuhen. Aber die Schritte des Ankömmlings waren leichter als die des Alten, jünger und geschmeidiger, kein Kies wurde zertreten, kein Laub raschelte.

Ein weißes Gesicht und ein weißer Hals schoben sich aus der Dunkelheit. Madonna, ganz in Schwarz, vom Kopf bis zu den Füßen, stand vor der Schaukel, um ihren Nacken lag ein schwarzer, aufgestellter Kragen. Sie hielt ein Bündel an den Bauch gedrückt, so groß wie eine mittelgroße Wassermelone, die sie vielleicht von einem Feld geklaut hatte, oder eine Sprengladung für den Fall, dass es nicht so ablaufen würde, wie sie wollte, oder ein Baby, das sie entführt hatte, um Lösegeld zu verlangen.

»Was machst du hier?« Ich bemühte mich um eine zornige, kalte Stimme. Gideon nahm die Hand von der Schaukelkette und richtete sich auf. »Bleib sitzen, ich kümmere mich um sie, ich habe schon Erfahrung damit«, sagte ich und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Ich bin gekommen, um meine Schulden zu bezahlen.« Sie verströmte einen leichten Geruch nach Alkohol. »Ich habe dir das hier statt Geld gebracht.« Sie schlug das Tuch auf, das sie um das Ding gewickelt hatte, und ein Kopf tauchte aus dem Bündel auf, zwei Augen glitzerten in der Dunkelheit, Kiefer öffneten sich, Zähne blitzten und bissen in die Luft, und ein kurzes Bellen in Richtung Mond ertönte.

»Er ist hundert Schekel wert, mehr oder weniger«, sagte sie, »ein Deutscher Schäferhund.« Und der Kleine auf ihrem Arm bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, war aufgeregt und verschreckt und wich vor der Hand zurück, die Gideon nach ihm ausstreckte, und als er spürte, wie sein Fell berührt wurde, senkte er den Kopf, schob die Zunge aus dem Maul und leckte Gideons Uhrenarmband.

Ich fragte, ob sie den Hund irgendwo gestohlen hätte, und sie sagte: »Nein, ich habe ihn einfach bekommen.« Ich fragte, ob sie ihn auf der Straße gefunden hätte, und sie sagte: »Nein, ich habe ihn einfach bekommen.« Ich fragte, ob sie ihn irgendjemandem zurückbringen müsse, und sie sagte: »Nein, ich habe ihn einfach bekommen.« Jetzt war es Gideon, der mir mit dem Ellenbogen in die Seite stieß, und das atmende Paket befreite sich aus dem Stoff, in das es gewickelt war, und lief zu Gideon. Wir saßen auf der Schaukel, und Madonna stand vor uns, ein dünner, langer Schatten vor dem trüben Himmel, und wartete darauf, was wir mit dem kleinen Hund tun würden, und er, dessen Schicksal auf dem Spiel stand, kauerte sich unterwürfig auf Gideons Knien zusammen, in der trockenen Luft hechelnd. Mein Vater hätte gesagt, ein deutscher Hund? Verflucht soll er sein, ein Enkel von einem der Nazi-Ungeheuer, wer weiß, wie viele jüdische Mäntel der Großvater von diesem Kleinen da zerrissen hat, und in wie viele jüdische Beine er seine Zähne geschlagen hat …

»Übrigens, er heißt Wodka«, sagte sie, und er richtete sich auf, als er seinen Namen hörte, als wäre er zur Fahne gerufen worden.

Sie legte einen weißen Finger auf ihre schwarz angemalten Lippen. »Brav, Wodka. Was hast du? Spiel hier nicht verrückt.« Sie fuhr ihm mit den Fingernägeln über das Fell, und er stellte sich auf die Hinterbeine und bellte lange und laut und störte die Nachtruhe der Vögel. In den Baumwipfeln wurden Flügel zusammengeschlagen, jemand gurrte, jemand hüpfte auf, stieg in die Luft, sank nieder und verschwand in einem Baum.

»Bye, Wodka«, sagte Madonna, wandte sich zum Gehen und sagte noch einmal: »Bye, Wodka.« Sie drehte sich um, wir konnten ihr Gesicht und ihren Hals nicht mehr sehen, schwarz vom Kopf bis zu den Füßen verschwand sie in der Dunkelheit. Der Hund schaute ihr mit gerecktem Hals nach, riss das Maul auf, um ein lautes, langes Heulen auszustoßen, und tat es nicht. Er verstand plötzlich, dass das Leben nun mal so war, die Aufsichtsperson war eine andere geworden, Dinge gingen zu Ende, und andere begannen.

Am Morgen fuhren alle drei zu den Fischen. Gideon mit dem Rucksack, in dem sich die Anziehsachen des Jungen befanden. Der Junge mit seinem kleinen Brotbeutel und in den neuen Schuhen. Der Hund leckte die Füße seiner neuen Herren, versuchte verzweifelt, ihre Liebe zu gewinnen. Beide, der Hund und der Junge, waren außer sich. Einer sprang nach rechts, der andere nach links, sie stießen zusammen und liefen einander hinterher. Sie gingen durch das Tor, und Gideon drehte sich um, betrachtete das Haus, als wolle er sich den Anblick einprägen, um es beim nächsten Mal zu erkennen.

»Los, Papa, komm«, schrie Nadav, und der Hund bellte. Sie gingen die Straße entlang zur Bushaltestelle, und vor ihnen bewegten sich zwei kleine glückliche Schatten und zwischen ihnen ein langer, trauriger, müder Schatten.