8
Vier Tage schlief ich auf dem Laken, auf dem Amos geschlafen hatte, ohne es zu wechseln. Nach vier Tagen, am Vorabend des Neujahrsfestes, packte ich einen kleinen Koffer für Nadav und mich, und wir fuhren zu Jonathan und Tamar, um die Feiertage bei ihnen zu verbringen und um mit Gott zu hadern, der über uns ist. Die Hoffnungen und der Jubel waren stark und glatt aus der Kehle des Schofars, aber sie ließen mein Herz nicht erzittern, denn mein Herz war woanders. Gott möge mir verzeihen, dass ich auf dem Höhepunkt des Neujahrsfestes nicht an seine Größe und meine Nichtigkeit dachte, und dass ich, statt aufgewühlt vom Schofar zum Himmel zu schauen, meine Fingernägel betrachtete und an Gideon und an das dachte, was uns geschah. Tamar nahm an, ich wäre tief bewegt, weil an diesem Tag die Welt geboren wurde und uns vor Gericht stellte. Sie vergoss eine Träne vor lauter Freude und fürchtete um ihre Schwangerschaft und liebte Gott ihretwegen.
Vor dem Fest hatte ich zu Gideon gesagt, komm, bitten wir die Ärzte der Neurologie, dass sie dir für das Fest freigeben, aber er atmete tief und blies die Luft aus wie eine Last, die er loswerden musste, und sagte: »Lass mich, wozu sollte ich weggehen und wiederkommen und das alles, ich ziehe es vor, diesen ganzen Krankenhausaufenthalt an einem Stück hinter mich zu bringen.«
»Und wenn es vorbei ist, kommst du dann nach Hause?«
»Erst sollten wir damit fertig sein. Eins nach dem anderen.«
Er zog die Decke bis zum Hals und sagte, er sei todmüde, vielleicht fehle ihm ja irgendeine Substanz im Körper, und es sei gut, dass sie an den Festtagen keine Untersuchungen machten, die Abteilung wäre bestimmt halb leer und es wäre still, er könne zwei Tage lang schlafen, und wenn er aufwache, sei er wie neu. Ich brachte ihm ein Glas Honig, einen Apfel und Kuchen, ein Messer und einen Teller von unserem festlichen Service und eine kleine Flasche Wein. Er bedankte sich, obwohl er nicht nachschaute, was ich gebracht hatte, seine Augen waren geschlossen, und als er sie öffnete, blickte er hinauf zur Decke.
Ich legte eine Hand unter dem Laken auf seine Brust. »Was ist mit dir los, Gideon?« Er zog das Zwerchfell ein.
»Woher soll ich das wissen? Ich bin müde, das Medikament … keine Ahnung …«
Ich konnte sehen, wie mein Mann sich entfernte, ich berührte seine Brust, und er zog das Zwerchfell ein und verkroch sich in sich selbst, und wenn ich ihn frage, wird er sagen, ich bin müde, wenn ich ihn berühre, wird er vor mir zurückweichen.
»Morgen ist Neujahr, wir fangen an, die Zeit neu zu zählen.« Ich strich mit der Hand über seine Stirn.
»Morgen ist Neujahr?«, fragte er gleichgültig und schaute mit erloschenen Augen zum Fenster, als sei ihm alles egal, drinnen, draußen, Licht, Dunkelheit, einfach alles. Im Fenster war der Ende-Elul-Himmel zu sehen, niedrig und staubbedeckt.
»Wir sind Partner in allem, Gideon, was ist passiert, dass …« Ich hielt inne. Es war sinnlos, weiterzusprechen. Ich musste warten, bis sich der Staub gesenkt hatte und im Fenster ein anderer Himmel zu sehen war, aber man musste es versuchen, man durfte nicht zulassen, dass das Leben bergab ging und dabei immer mehr Geschwindigkeit gewann. »Vielleicht sollten wir irgendwohin fahren, nur wir beide, wir lassen den Jungen bei meinem Bruder, wir reden, wir schweigen, wir werden verstehen, was und warum …«
»Wir werden gar nichts verstehen. Was gibt es zu verstehen? Die Dinge geschehen einfach, man braucht keine geheimnisvollen Gründe zu suchen.« Er hatte wieder die Stimme von früher, wie vor dem Gericht, wenn sein Argument das Urteil bestimmte. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab, sein Mund schloss sich am Satzende, um zu zeigen, dass es keine Berufung gab, die Oberlippe verzog sich zu einem dünnen, triumphierenden Lächeln, dann wurde sie wieder ernst. Früher war ich in meiner Freizeit hingegangen und hatte zugeschaut, wie er einen Mandanten bei Gericht verteidigte. Ich sah ihn auf dem Podium und war so stolz und hätte am liebsten der ganzen Welt verkündet, das ist mein Mann, hört ihr? Verehrtes Publikum, dieser großartige Mann, der euch in Grund und Boden geredet hat, den ihr mit offenem Mund anstaunt, hat mit mir geschlafen, dieser Mann, der in der schwarzen Robe aussieht wie ein römischer Senator, macht in der Nacht Liebe mit mir. Ich wartete, bis er fertig war und die Papiere in die schwarze Ledertasche gepackt hatte, die ich ihm zum Ende seines Praktikums gekauft hatte, damit wir zusammen das Gericht verließen, dann zog er seine Krawatte aus, und wir küssten uns, wir überquerten die Straße und gingen in ein Café, er nahm einen griechischen Salat, und zum Nachtisch aßen wir zusammen ein Stück Kuchen, mit einer Gabel, er stach Stücke ab und fütterte mich und fragte, wie war ich, gut, nicht wahr? Ich wischte ihm ein Stück Käse vom Kinn, und er nahm meinen Zopf, zog ihn nach vorn und legte ihn auf meine rechte Brust …
Nun lag mein Senator im Bett, zugedeckt mit einem Laken, welches das Logo eines Krankenhauses trug, und sein Zwerchfell war flach, sein Mund entspannt, mit einer haarbreiten Öffnung zwischen den Lippen, kein Wort wird über sie kommen, auch kein Seufzer, kaum die Luft, die von seinen Lungen eingesaugt und wieder ausgestoßen wird. Ich küsste ihn auf die Lippen und sie verzogen sich, versuchten unaufrichtig, mir zu antworten.
»Ich wünsche uns ein gutes neues Jahr, Gideon«, sagte ich und sah das Fenster mit dem gelblichen Himmel, der sich in seinen Pupillen spiegelte.
»Hoffentlich«, sagte er, gleichgültig dem neuen Jahr gegenüber. Ein Jahr ist eine Zeitspanne für gesunde Menschen. Ich nahm seine Hand, fuhr ihm mit einem flatternden Finger über die Stirn, bemüht, nicht zu drängen und nicht so weit zu gehen, bis ich das Schild »Betreten verboten« erreichte, das vor seiner Seele hing. Ich zog den Nachttisch mit dem Honig und dem Kuchen näher zu ihm, sagte Bye und erschrak vor der Hohlheit dieses Bye und ging. Im Flur quietschte schon der Wagen mit dem Essen, vier Kranke saßen vor ihren Tischen und warteten auf die Suppe, das Püree, die Frikadellen. Im Vorbeigehen verabschiedete ich mich von ihnen, und sie freuten sich über diese nichtssagende Geste, einer winkte mit der Hand, der zweite sagte, alles Gute, der dritte verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln, und der vierte wartete auf seine Suppe.
Im Radio sprachen sie über ein Attentat, aber ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt und drehte das Radio leiser, ich atmete tief ein und rief Gideons Eltern an, ich erzählte ihnen von ihrem Sohn, der dehydriert ins Krankenhaus eingeliefert worden war, in die Neurologie.
»Wir haben es euch ja gesagt, wir haben von Anfang an gewusst, dass das zu nichts Gutem führt«, sagte seine Mutter, und sein Vater fragte, was ihm denn gefehlt hatte, dass er zu diesem Loch gehen musste, und warum plötzlich Be’er Sheva, man hatte ihn von Eilat hingebracht, was, hat er denn nicht gewusst, dass man in Eilat viel trinken muss? Er verstand ihn nicht, wer nimmt schon eine Auszeit von seiner Karriere und bremst mitten im Aufstieg? Wer weiß, wie viele Mandanten und wie viel Geld er dadurch verloren hat. Aber du wirst sehen, er wird mit großem Appetit zurückkommen, dieser Gauner, ich kenne ihn, er wird all seine Kollegen ohne Salz verspeisen …
»Ich bin nicht so sicher, dass du ihn kennst«, sagte ich in dem Versuch, ihn auf die Veränderung zwischen dem Sohn, den er im Kopf hatte, und dem, der auf der neurologischen Station lag, vorzubereiten.
»Süße, ich will ja nichts sagen, aber wie viele Jahre bist du mit ihm zusammen, sieben, acht? Ich schon plusminus vierzig.«
Alisa erklärte einem Kunden die Vorzüge von Springbrunnen und kam zurück, um über ihren Sohn zu sprechen, sie sagte, Dehydrierung ist keine große Sache, man gibt Flüssigkeit über eine Infusion, das ist alles, sie verstehe nicht, warum man ihn über die Feiertage dort behielt. Bezalel sagte: »Was heißt warum, sie wollen noch ein paar Cents aus der Krankenkasse herausschlagen, er kostet sie nichts, und sie bekommen gutes Geld für ihn. Warte, ich sage ihm, er soll ihnen einen kleinen Skandal machen, dann lassen sie ihn gehen. Er ist ja wirklich gescheit, aber es gibt ein paar Dinge, die er noch nicht gelernt hat. Einen Moment, Alisa, dieser Springbrunnen ist nicht im Sonderangebot …«
Sie stellten die Springbrunnen ab, verschlossen die Tür von »Babek« und fuhren zu ihm. Geschockt von dem, was sie vorgefunden hatten, riefen sie mich auf dem Rückweg an. Warum ich nicht erzählt hatte, dass er so abgenommen hatte, dass er so schwach war, er habe ihnen kaum geantwortet, keine zehn Worte hätten sie aus ihm herausgebracht. Und es gab dort niemanden, mit dem man sprechen konnte, so etwas hatten sie noch nie gesehen, man hatte ihnen gesagt, er würde noch untersucht, also Negev ist Negev, dort arbeitet man im Tempo von Beduinen. Man muss ihn in ein Krankenhaus im Zentrum des Landes bringen, einen Privatarzt nehmen und die Sache beenden. Ist es euch so schlecht gegangen, dass ihr euch auf so ein Abenteuer einlassen musstet? Wenn er diese Angelegenheit hinter sich hat, kehrt ihr zu eurem normalen Leben zurück. Wenn schon nicht euretwegen, dann wegen des Jungen …
Ich war nicht wütend, ich konnte sie verstehen. Wenn mein Junge in ein paar Jahren alles stehen und liegen lässt, wenn er sich abkapselt und schwach und ausdruckslos daliegt, werde auch ich die Wände hochgehen, ich werde Beschuldigungen ausspucken, ich werde Vorschläge machen und nicht wissen, wie mir das alles geschehen konnte.
Nadav fragte, ob sein Vater zu den Feiertagen kommen werde, ob er wieder gesund werde, ob er sterben werde. Er sprach mit ihm am Telefon und erzählte ihm, dass bei uns ein Mann geschlafen habe, der Amos heiße. Er hat in Mamas Bett geschlafen und Mama bei mir im Zimmer. Der Mann ist der Sohn von Herrn Levi, und Herr Levi liegt im Krankenhaus, sein Herz macht Probleme, und vielleicht schläft der Mann auch an Neujahr hier, Mama hat ihm den Schlüssel gegeben, weil wir zu Tamar und Jonathan fahren. Weißt du, dass ich Wodka dressiere, Stöckchen zu fangen …
Dann wurde er plötzlich müde und gab mir das Telefon. Das Gerät war warm von seinem kleinen Mund, der seine Geschichten und Wünsche hineingepresst hatte.
Gideon erkundigte sich nach dem Jungen. »Hi, geht es ihm gut?« Kein Wort über den fremden Mann, der in meinem Bett geschlafen hatte, oder über Herrn Levis krankes Herz.
»Es geht ihm gut. Er pinkelt nachts nicht ins Bett, er stottert nicht, er macht keine Szenen.«
Ich drückte dem Jungen das Telefon in die Hand. »Hier, wünsch Papa ein gutes neues Jahr.« Als hätten Wünsche aus dem Mund eines kleinen Kindes größere Chancen. Er zuckte mit den Schultern und malte ein Dreieck in sein Malbuch, drückte den Stift fest auf das Papier und zog dicke Striche. Ich ließ nicht locker, denn wer konnte wissen, was die guten Wünsche eines Jungen an der Börse des Schicksals wert waren. »Komm, lass die Stifte einen Moment liegen und wünsch Papa ein gutes neues Jahr.«
»Ich will nicht.« Er tauschte den roten Stift gegen einen blauen und zog das nach, was er schon gemalt hatte.
»Lass ihn doch«, hörte ich die schwache Anweisung auf der anderen Seite.
Ich platzte. »Ich will das nicht, du sollst mir nicht sagen, was ich zu tun habe, Gideon.« Der Junge hob erschrocken den Kopf vom Blatt, und ich beeilte mich, ihm über den Nacken zu streicheln. »Komm, Schatz, sag ein gutes neues Jahr zu Papa«, flehte ich, ich hatte das Gefühl, dass unser Leben davon abhing, dass er diese paar Worte herausbrachte. »Los, tu’s, nur eine halbe Minute, sag’s und Schluss.« Ich konnte nicht mehr zurück, ich musste uns irgendeine Form von Zukunft sichern. »Ich bitte dich darum, ist es denn so schwer, Papa ein gutes neues Jahr zu wünschen? Du willst doch, dass er gesund wird, nicht wahr? Also sag ihm ein gutes neues Jahr …« Aber als ich ihn quälte, brach es aus ihm heraus: »Ich will nicht, du sollst mir nichts befehlen.« Sein Vater hörte dort in seinem Bett unserer Diskussion zu, und selbst wenn er das Telefon weit vom Ohr hielt und sogar wenn er es aufgelegt hatte, konnte er nicht anders, als bei dem »Ein gutes neues Jahr« zu erschrecken, das der Junge schließlich ins Telefon brüllte, ein gutes neues Jahr, das die Adern an seinem Hals anschwellen ließ, er knallte das Handy auf die Farbschachtel, warf die Küchentür hinter sich zu, floh in den Garten und warf Steine gegen die Schaukel. Wer wusste schon, welchen Eindruck dieser Schrei auf das Schicksal hatte und wie es das Jahr beeinflussen würde, das es uns bereitete.
Auch der Alte brauchte gute Wünsche. Der Katheter hatte gezeigt, dass die Wege zu seinem Herzen verstopft waren, man musste den Brustkorb öffnen und Bypässe legen. Dieser Katheter verschaffte uns erneut einen Besuch seines Sohnes Amos. Der Junge hörte, wie an die Tür geklopft wurde, und verkündete aufgeregt: »Mama, das ist der Sohn von Herrn Levi, der Sohn von Herrn Levi!«
Ich hörte einen Mann an der Tür lachen und wunderte mich, dass dieser faltige Hals so ein lautes und befreites Lachen hervorbringen konnte. Ich ging ebenfalls zur Tür. Amos stand dort, aufrecht, schon wieder ernst geworden, man würde, wenn es keine andere Möglichkeit gäbe, den Alten an den Feiertagen operieren, und die Anwesenheit eines Familienmitglieds sei erforderlich. Der Alte weigere sich beharrlich, ihm die Schlüssel zu seinem Haus zu geben, er versperre jeden Zugriff auf die kleinen Schuhe, die er schon seit zehn Jahren gefangen hielt. Seit Jahren hatte er nicht mehr mit seinem Vater gesprochen, und plötzlich war er seine einzige Stütze geworden.
»Du kannst hier bei uns wohnen, wir fahren über die Feiertage weg.« Ich gab ihm den Reserveschlüssel zu dem Haus, das ursprünglich einmal ihm gehört hatte und wieder sein Eigentum werden würde, zusammen mit allem, was der Alte nach seinem Tod hinterließ.
»Kaffee? Saft?«
»Nein, ich muss rennen.«
»Renne durchs Tal, flieg auf den Berg …«, witzelte ich, und die Clint-Eastwood-Falten wurden tiefer, er schnaubte, als bediente ich mich ohne Erlaubnis seines Privatbesitzes. Nadav betrachtete unseren Besucher, der den Schlüssel in die Tasche steckte, er freute sich, dass der Mann unsere Toilette benutzte, und hoffte, er würde auch in dieser Nacht hierbleiben. Er wollte, dass ich neben ihm schlief, und vor allem wollte er ein Haus mit dem Lärm von drei Personen, wie es früher gewesen war.
»Ziehst du ihn allein auf?«, fragte Amos, als er von der Toilette zurückkam, sein Hemd zurechtzog und zur Tür ging.
»Ja, nein, eigentlich nicht.« Ein Schwächegefühl ergriff mich, ging aber sofort vorüber.
»Du musst dich entscheiden.«
»Vorübergehend allein.«
Er verlangte keine Erklärung, die Wipfel des Waldes, die sich in der Tür zeigten, erhoben sich hinter ihm, die Sonne drang durch die Zwischenräume zwischen ihm und dem Türstock herein, einen Moment lang wurden seine schwarzen Augen von der Sonne getroffen, ein dunkelblauer Blitz fuhr auf, dann war es vorbei, sie lagen wieder tief in den Höhlen, der dichte Bogen der Brauen verdunkelte sie und machte sie düster.
»Was ist, Junge, möchtest du ein Papierschiffchen?«
Nadav flog ins Haus, er brachte das Papier mit den wütenden Dreiecken, die er gemalt hatte, und hielt es ihm hin. Der Sohn des Alten faltete das Papier mit der Geschwindigkeit eines Origamikünstlers und reichte ihm ein Schiff mit gespannten Segeln und spitzem Bug, seine Augen folgten den kleinen Händen, die das Boot durch die Luft fliegen ließen. Der kleine Seemann widerstand Stürmen, nahm Seeräuber gefangen, fing Wale und faszinierte den Gast. Der Adamsapfel von Levis Sohn bewegte sich auf und ab, er fuhr sich mit nervöser Hand durch lichter werdendes Haar, beugte den Hals zu dem Jungen und beobachtete, was er tat. Offenbar ist nur Gott gefeit gegen das Lachen von Kindern, von seiner Höhe sieht ihr Lachen aus wie banale Smileyaufkleber. Aber unser Gast war von hier, und das Lachen kam zu ihm, als würde ihn sein toter Sohn aus der Erde heraus anlachen. Er richtete sich auf, sagte ein hastiges Bye und lief mit schnellen Schritten zum Tor, und unser Schlüssel mischte sich mit den anderen Schlüsseln in seiner Tasche und klirrte gemeinsam mit ihnen. Plötzlich versank das Boot, der Seemann rettete sich an festes Land, stand auf dem Kai an der Tür, und seine Augen folgten dem Schiffsbauer, der im Sturm den Hof verließ, das Tor öffnete und losließ, sodass es krachend zufiel.
»Wann kommt er wieder?« Nadav sah aus, als wäre er mitten in einem Vertragsabschluss und die andere Seite wäre plötzlich aufgestanden und weggegangen. Das Heulen einer Katze brachte Wodka dazu, sinnlos zu bellen und das Fell zu sträuben. Nadav vergaß seine Frage und beobachtete den Streit der Tiere. Schon seit jeher sind Hunde und Katzen Feinde, aber diesmal lag in dieser Tatsache eine besondere Gnade.
An Neujahr, wenn alle ihre Vergangenheit bedenken, bedachte ich gegen meinen Willen unsere Zukunft, was man mit Gideon tun könnte, damit er wieder zu sich selbst zurückfand, und was wir tun konnten, wenn er nicht mehr zu sich zurückfand und ein anderer wäre. Vielleicht waren die beiden leeren Tage in der Neurologie ja gut für ihn, er würde schlafen, bis in die letzte Zelle seines Körpers, und erholt aufwachen und sein Leben wieder in die Hand nehmen. Inzwischen würden die Untersuchungen in den Labors weitergehen und zu einer klaren Diagnose führen, man würde herausfinden, was ihm fehlte oder wovon er zu viel hatte. Ich schaltete das Telefon während der Feiertage aus, zwei Tage lang würde er kein Wort von mir hören und ich keines von ihm. Ich machte mir keine Sorgen, er wurde gut bewacht, sowohl von der Hand Gottes als auch von den Menschen, es bestand keine Gefahr für sein Leben. Wenn ich mir um jemanden Sorgen machen musste, war es Herr Levi, dessen Leben in diesen beiden Tagen auf der Kippe stand. Als man in den Synagogen das Schofar blies, wurde auf dem Operationstisch sein Brustkorb geöffnet, und die Ärzte sahen seine Trauer, seinen Zorn, wühlten in seinen Sehnsüchten, berührten seinen Hass, umgingen Hindernisse und ertasteten sich den Weg zu seinem Herzen. Amos schlief zwei Tage in meinem Bett, er lief in unserem Haus herum, und unser Haus war voller Anzeichen eines lebendigen Jungen, Feuerwehrautos, kleine Unterhosen im Badezimmer, Mickymäuse, Sandalen der Größe achtundzwanzig, Plastikbecher mit Trinkrohr, ein Fußschemel vor dem Spülbecken, eine Taucherbrille am Badewannenrand, Aufkleber von Pinguinen und Seehunden auf den Kacheln, wohin er sich auch wandte, das Leben eines fünfjährigen Jungen blickte ihm von den Wänden entgegen, vom Fußboden, von den Möbelstücken. Auch das Leben einer Frau über dreißig. Im Badezimmer, im Schrank, bei der Wäsche, auf der Toilette, in Form von Unterhosen, die auf der Wäscheleine geblieben waren. Wenn er es darauf anlegte, konnte er sich ein vollkommenes Bild unseres Lebens machen. Doch dafür war er nicht gekommen, zehn Jahre lang hatte er sich nicht für seinen Vater interessiert, er tat es auch jetzt nicht. Er war hier, weil die Klempner der Kardiologie um die Anwesenheit eines Familienmitglieds gebeten hatten, an dem Tag, an dem sie die alten Rohre reparieren wollten. Schoschana konnte nicht kommen, denn sie hatte eigene kardiologische Probleme, sie bekam keine Luft beim Treppensteigen, ihr linker Arm schmerzte, und der Arzt in Herzlija hatte ihr strenge Ruhe verordnet. Sie befolgte die Anweisung des Arztes, fand aber keine Ruhe, sie rief an, weinte, bat mich, ein Auge auf ihren Vater zu haben. Amos, ihr Bruder, habe seine eigene Last zu tragen, sagte sie, er sei unfähig, ihrem Vater auch nur ein Glas Wasser zu reichen, zehn Jahre, hörst du, zehn Jahre hat er keinen Kontakt mehr zu ihm, er hat keine Ahnung, wie sein Vater aussieht, und von allen ist ausgerechnet er da, in den schwersten Stunden, denn es gibt keinen anderen, alle sind gegangen, mein Vater hat seine Frau verloren, die Schwiegertochter, den Enkel, alle … Du darfst mich nicht falsch verstehen, ich gebe Amos keine Schuld, nicht die geringste, Gott bewahre uns vor dem, was er mitgemacht hat … Ihre Stimme am Telefon brach. Wäre sie neben mir gewesen, hätte ich ihr eine Tasse Kaffee angeboten, kaltes Wasser, irgendetwas, aber weil ich keine Wahl hatte, stieß ich banale Trostworte aus, alles wird gut, Schoschana … Du wirst sehen, aus diesem Schlimmen wird etwas Gutes sprießen … Nach einer Weile beruhigte sie sich, wenn auch nicht durch meine Worte, sondern durch den ehrlichen Ton, den sie wahrnahm.
Die Sonne bewegte sich träge an den Feiertagen, und wenn der erste Tag langsam verging, dauerte der zweite ewig. Die Schatten wurden länger, ein violetter Streifen tauchte langsam am westlichen Himmel auf, Licht klebte am Horizont und verblasste mit nervenzerreißender Langsamkeit. Ich wartete darauf, dass der zweite Tag des neuen Jahres zu Ende ging, dass Jonathan den Segensspruch zum Ausgang des Festtages sprechen und das Telefon einschalten würde, damit ich erfuhr, wie es wem in den ersten Tagen des Jahres ergangen war.
Nadav stand auf den Zehenspitzen, als es endlich so weit war, und stellte sich enttäuscht auf die ganzen Sohlen, er wollte Feuer im Wein löschen, er wollte den Wein zum Schäumen bringen und das erstarrte Wachs abkratzen, doch die Hawdala war ohne Glanz, ohne Gewürze und ohne Feuer. Wer ein so banales Ende für das Ende der beiden hohen Tage ausgewählt hatte, wollte uns wieder an den Alltag gewöhnen. Jonathan und Tamar umarmten sich, ein Jahr mit einer guten Botschaft erwartete sie. Ich umarmte den Jungen, küsste ihn auf die Stirn, auf den Mund, auf den Hals, und er überließ sich meiner Zärtlichkeit. Auch uns stand eine Botschaft bevor, aber wir wussten nicht, welcher Art sie sein würde.
»Komm, packen wir unsere Sachen ein.« Ich zog ihn hinter mir her, um meinen Bruder und seine Frau ihrem Glück zu überlassen.
»Schauen wir mal, was auf der Welt passiert ist«, sagte ich, faltete mein Festtagskleid zusammen, legte es in den Koffer und griff nach meinem Telefon. Sechzehn verpasste Gespräche. Die Mailbox lief über. Ich sortierte die Nachrichten im Kopf, die beste, die ich mir vorstellen konnte, war, dass Gideon wieder bei sich war und zu uns zurückkam. Auf der Liste der schlechten Nachrichten standen mehrere ganz oben. Die am wenigsten schlechte war, dass der Laden abgebrannt wäre. Keine Katastrophe, ich war versichert, und er war sowieso am Ende, ein Brand wäre eine Superlösung. Ich schluckte das bisschen Spucke, das ich noch im Mund hatte, versuchte, Gnade von oben auf uns zu ziehen, sagte, ich will den Kelch des Heils nehmen und keine Angst haben, und drückte auf den Anrufbeantworter.
Sie werden gebeten, im Krankenhaus anzurufen.
Bitte rufen Sie dringend im Krankenhaus an.
Bitte rufen Sie bei uns an …
Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann das Krankenhaus auf eigene Verantwortung verlassen hat.
Ich setzte mich auf das Klappsofa, auf dem der Junge und ich geschlafen hatten, sagte »Shit« und dann »Gott«, dann atmete ich tief, und dann verfluchte ich Gideon mit geschlossenem Mund, sagte, er solle zum Teufel gehen, und was er wolle, dass wir losliefen und ihn suchten?
»Los, Mama, pack schon, ich möchte nach Hause.« Er versuchte, seinen Pyjama zusammenzulegen, gab es auf, knüllte ihn zu einer Kugel und stopfte ihn in den Koffer.
»Ich will zu Wodka.« Er legte sein Feuerwehrauto auf mein Feiertagskleid, nahm mein Nachthemd, packte es auf das Feuerwehrauto und drückte die Ärmel zurecht, damit sie nicht heraushingen.
Gideons Telefon verkündete, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Nadjas Telefon funktionierte, aber sie wusste nichts und erschrak. »Was Sie nicht sagen, oh weh, wenn er kommt, rufe ich sofort an.« Die Fische im Roten Meer hatten keinen Anschluss, unser Telefon zu Hause sagte, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, das Telefon des Krankenhauses wies mich an zu warten, bis eine Leitung frei würde. Die Telefonistin in der Zentrale verband mich, als ich endlich dran war, mit der Abteilung, die Abteilung verband mich mit dem Schwesternzimmer, eine Schwester sagte: »Einen Moment, bitte … Ja, womit kann ich Ihnen helfen? Endlich, wir suchen Sie schon den ganzen Tag, warten Sie einen Moment, ich gebe Ihnen den Arzt, sprechen Sie mit ihm.« Sie verband mich mit dem Arztzimmer. Der Arzt sagte »Ja«, sachlich und hörbar unter Druck, los, fassen Sie sich kurz und kommen Sie zur Sache.
»Ich bin Gideons Frau …«
»Ja, ja, hören Sie, der Mann ist aufgestanden und weggegangen, er hat seine paar Habseligkeiten genommen und ist verschwunden. Wir haben versucht, ihn umzustimmen, die Untersuchungen und die Behandlung sind noch nicht zu Ende, er bringt sich selbst in Gefahr, aber er ließ nicht mit sich reden. Er ist gegangen und hat noch nicht einmal das Formular unterschrieben, dass er auf eigenen Wunsch das Krankenhaus verlässt. Und erlauben Sie mir eine Bemerkung, weil es einen Suizidversuch im Hintergrund gibt, ist es wichtig, dass Sie alles erfahren.«
»Einen Moment, Sie sind für ihn verantwortlich, nicht wahr?«, platzte ich heraus.
»Meine Dame, er ist nicht zwangsweise eingeliefert worden und nicht auf Anordnung eines Psychiaters, wir behalten Kranke nicht mit Gewalt hier.«
»Wie lange ist es her, dass er gegangen ist?«
»Sieben, acht Stunden, ungefähr. Wir haben einen ausführlichen Bericht geschrieben, die Schwester kann Ihnen alles genau sagen.« Er war trocken und distanziert, möglicherweise lehnte er tief in seinem Sessel, suchte mit einem Zahnstocher zwischen seinen Zähnen herum und hatte die Füße auf den Tisch gelegt, vielleicht war er erschöpft, unterdrückte ein Gähnen, musste den Kopf stützen, damit er nicht auf die Tischplatte sank, er hatte die ganzen Feiertage über gearbeitet und vor ihm lag noch ein Stapel Formulare, und dabei war er fix und fertig und sehnte sich danach, heimzugehen. Ich wusste nicht, was ich ihn oder die Schwester noch fragen konnte, die Verantwortung lag jetzt bei mir. Ich brauchte sie nicht, damit sie mir sagten, das ist jetzt Ihr Problem.
Wohin könnte er gegangen sein? Hatte er Geld? Eine Zahnbürste? Unterhosen zum Wechseln? Einen Rasierapparat? Kopfschmerztabletten?
»Mein Papa ist aus dem Krankenhaus weggegangen.« Der Junge rannte los, um Tamar und Jonathan mitzuteilen, was er verstanden hatte, und die beiden waren einen Moment später im Zimmer und sahen auf einen Blick, dass die Mitteilung stimmte. Sie setzten sich ebenfalls auf das Klappsofa, Tamar legte die Hand auf den Bauch, um das Ungeborene vor der Bedrängnis des Lebens zu schützen. Jonathan schlug die rechte Faust in die linke Hand, und bevor er den Mund aufmachte, gab ich ihm ein Zeichen, vorsichtig zu sein und den Jungen nicht zu beunruhigen. Beide, er und Tamar, überlegten, was sie sagen sollten, und wie man über die Katastrophe in Anwesenheit eines fünfjährigen Kindes sprechen sollte. Ich machte das Telefon an und aus, um zu kontrollieren, ob es funktionierte, ob der Ton eingeschaltet war, ob nicht eine SMS gekommen war, ob die Batterie noch geladen war. Jonathan sagte: »Man muss die police einschalten, eine Vermisstenanzeige aufgeben, ich möchte dich nicht kränken, Amia, aber es ist möglich, dass der Mann nicht im Gleichgewicht ist …«
»Schlag dir das aus dem Kopf«, fuhr ich ihn an. »Er hatte zwei Tage, um nachzudenken, und er hat seine Entscheidung getroffen. Wo und was, das werden wir bald wissen. Er ist verantwortungsbewusst, und er wird mich nicht in der Luft hängen lassen, schlag es dir aus dem Kopf, radiere einfach das ›nicht im Gleichgewicht‹ weg. Er ist hoch vier im Gleichgewicht. Der Mensch ist einfach nicht angepasst, na und? Der Mensch verabscheut das System, es stinkt ihm, mit der ganzen Herde Heu zu fressen, das ist sein gutes Recht, oder?« In meinen Worten lag keine Logik, aber ich hatte keine Wahl.
»Was für eine Herde, Mama, ist Papa Hirte geworden? Ist er kein Fischer mehr?« Nadav schaute von mir zu Jonathan und wieder zu mir.
»Nein, das ist nur als ob, ich werde es dir bald erklären.« Ich zog ihn an mich, sodass er zwischen meinen Knien stand. »Willst du ein Eis? Tamar, ist noch ein bisschen Eis da?«
Tamar stand auf und ging zur Küche, aber er wollte kein Eis, er wollte diese angespannte Diskussion nicht, das wenige, das er verstand, erschreckte ihn, und das, was er nicht verstand, erschreckte ihn noch mehr. Er wollte, dass wir endlich nach Hause fuhren. Tamar kam zurück, setzte sich wieder auf das Sofa und legte die Hände auf ihren Bauch. Sie betrachtete Nadav, dann Jonathan, vielleicht kam sie insgeheim zu dem Schluss, dass die Chance gleich null war, dass ihr Ungeborenes jemals solchen Szenen beiwohnen müsse.
Jonathan ging zum Fenster und schaute in die Nacht hinaus, dann drehte er das Gesicht zum Zimmer und sagte, es sei besser, übertrieben vorsichtig zu handeln, statt es später zu bereuen: »Und außerdem ist es auch eine Frage des religiösen Gebots, Amia. Es steht geschrieben: Du sollst auch nicht stehen wider deines Nächsten Blut. Auch wenn du beschließt, dass du nicht … Ich werde es tun …«
»Keine Frage des religiösen Gebots. Hier steht niemand auf Blut, denn es gibt kein Blut, und hör damit auf, die Religion in alles zu schieben.« Religiöse Gebote. Endlich hatte ich den Sündenbock gefunden, um Dampf abzulassen. Keinen atmenden, lebendigen, verletzlichen, keinen Ziegenbock. Religiöse Gebote. Ein Sandsack, man kann machen, was man will, er wird alles überleben. Verfluche ihn, verleumde ihn, schrei ihn voller Verachtung an, und was tut er? Nichts. Er schwillt von Tag zu Tag an, gewinnt an Gewicht, und die, die in seinem Namen sprechen, vermehren sich.
»Halte die Religion draußen, Jonathan. Begnüge dich mit der Vernunft. Du wendest dich an keine police, es eilt doch nicht, oder?« Meine Worte entsprachen nicht meinem Bauchgefühl. Ich hatte eine Todesangst. Es fiel mir schwer, zuzugeben, dass Jonathan recht hatte, Gideon war nicht mehr der Mensch, den ich geheiratet hatte, und den neuen kannte ich nicht. Wohin war er gegangen, warum war er weggegangen, hatte er einen großen Vorrat an Tabletten aus dem Krankenhaus mitgenommen, was würde er mit ihnen tun? Und wie gehören Herde und System hierher? Angenommen, der Mensch wurde plötzlich von dem Abscheu vor einem bürgerlichen Leben und noch einigen anderen Grundsätzen und Werten gepackt, was hatte das mit der Trennung von dem Jungen zu tun, von mir, von seinen Eltern? Ein normaler Mensch findet irgendeinen Weg, mit der Verantwortung, dem Gefühl und der Lebensführung zurechtzukommen, er verlässt kein Bett im Krankenhaus und verschwindet. Was ist die Schlussfolgerung? Dass Gideon nicht mehr normal ist? Dass er kurz davor ist, sich in irgendein Wasser zu stürzen? Sich in einer öffentlichen Toilette die Pulsadern aufzuschneiden? Einem Wachmann eine Pistole zu stehlen und sich eine Kugel in die Schläfe zu jagen? Ein Flugzeug zu entführen? Ich drückte meine Knie gegen die Hüfte des Jungen, ich klammerte mich an das einzig Reale, das ich besaß, und der Junge spielte mit, er kam näher und drückte sich an meine Brust.
»Gut, Jonathan, tu das, was du für richtig hältst.« Ich senkte die Stimme und hob die Hände. Ich stand auf, suchte die Dinge zusammen, die noch im Zimmer herumlagen, schloss den Koffer, die Beschläge schlugen gegeneinander, und der Junge ging zur Tür. Wir verzichteten auf einen gefühlvollen Abschied, das Drama, in dem wir steckten, war schon groß genug, wir verhielten uns, als würden wir uns jeden Tag treffen und jeden Tag verabschieden. Die Luft draußen war klar, der neue Mond stand am Himmel, schmal und golden wie die Wimper eines Säuglings, in der Ferne bellten Hunde, Geschirr klapperte in Spülbecken, schreiende Babys wurden ins Bett gebracht, die Welt ging einfach weiter, der Atem, der in einer einzigen Brust stockte, konnte sie nicht rühren.
»Los, ins Auto«, sagte ich zu dem Jungen.
Tamar wünschte uns gute Nachrichten, auch Jonathan sagte »gute Nachrichten« und küsste den Jungen. Sie winkten, wir stiegen ins Auto, und wie andere übernatürliche Phänome, die manchmal vorkommen, spielte das Radio »Ich hatte einen Freund, ich hatte einen Bruder, er reichte mir in der Not die Hand«. Ich weinte. Es war dunkel im Auto, und der Junge sah nichts, er saß angeschnallt in seinem Rücksitz, ließ Autos über den Sitz fahren und summte Autogeräusche. Aus Sicherheitsgründen ließ ich meinem Weinen nicht freien Lauf, Tränen waren gefährlich, ich bemühte mich, den Blick auf die freie Fläche zwischen den Trübungen zu konzentrieren. Wer hätte gedacht, dass wir am zweiten Tag des Jahres von einem großen Unglück getroffen würden. Wieso denn das. Wir wurden nicht von einem großen Unglück getroffen. Ein großes Unglück war ein Junge, der von einem Auto totgefahren wurde, und das größte Unglück war, dass er vom Geländewagen seines eigenen Vaters überfahren wurde. Was war denn schon passiert? Ein Mann war aus dem Bett gestiegen und hatte das Krankenhaus verlassen, ohne es mir mitgeteilt zu haben. Das war alles.
»Komm, Nadav, singen wir. Ein Jahr ist vergangen. Ein neues Jahr kommt. Ich erhebe meine Hände …«
Er ließ sich von meiner Fröhlichkeit anstecken, er stimmte ein und sang aus kleiner Kehle, wir sangen schreiend, so laut wir konnten, wir stießen literweise Luft aus, die uns auf der Brust saß und uns bedrückte, und vor lauter Schreien mussten wir lachen, die Wörter wurden unverständlich und gerieten durcheinander, und wir lachten noch mehr. Uns kamen die Tränen vor Lachen, und diese Tränen hielt ich nicht zurück, Mama, noch ein Lied, »Zehn Finger habe ich, sie wissen alles …« Der Junge geriet ganz aus dem Häuschen, er hüpfte und schlug von hinten gegen die Lehne meines Sitzes, sang aus voller Kehle, brachte sich selbst zum Lachen, um ja nicht zur Ruhe zu kommen. Solange wir im Auto saßen und es mit Lärm füllten, würden die schlechten Nachrichten draußen bleiben. Wir erreichten das Dorf, und je länger wir über die Dorfstraße fuhren, umso lauter wurde er. »Wem es gut geht und wer fröhlich ist, soll in die Hände klatschen.« Aber seine Stimmbänder waren schon geschwollen und aufgeraut, seine Stimme kam heiser und belegt heraus. Wodka erwartete uns nicht, vermutlich stellte er einer zufälligen Geliebten auf irgendeinem Bauernhof nach.
»Ich habe eine Stimme, als würde ich bellen«, sagte Nadav und half mir, den Koffer aus dem Mazda zu laden. Er nahm seinen kleinen Rucksack, in den er ein Kartenspiel und eine Zahnbürste und ein paar bewaffnete Plastiksoldaten gepackt hatte, und ich trug den Koffer. Er lief vor mir den Pfad entlang, der zum Haus führte, den Kopf zum Boden gesenkt, er lief vor mir, und zwischen uns war es still und dunkel. So fängt die Fremdheit an, was wir auch tun, sie wird wachsen, die dünnen Fäden um ihn herum werden sich straffen, und es wird schwerer und schwerer werden, ihn zu berühren, nicht, weil ich daran schuld bin oder er, sondern weil das unser aller Schicksal ist. Und genau aus diesem Grund ist Gideon unfähig, mir zu sagen, was er hat, und ich schaffe es nicht, zu ihm durchzudringen. Wir waren ein Fleisch, wie es die Bibel befiehlt, doch unsere Seelen lebten getrennt weiter, im Guten wie im Schlechten. Es ist eine Dummheit, an eine vollständige Vereinigung zu glauben. Die Bibel weiß genau, warum sie nur vom Fleisch spricht. Ich machte das Licht im Haus an. Vielleicht würden wir ihn ja hier in der Küche finden, grübelnd am Tisch sitzend, oder schlafend in einem der beiden Zimmer. Ich hörte den Anrufbeantworter ab, kontrollierte mein Handy. Nichts.
Das Spülbecken in der Küche war leer, ein einzelnes Glas stand umgedreht auf dem Trockengestell. Ich machte die Tür zum Badezimmer auf, zur Toilette, nichts. Ich ging in die Küche zurück und bemerkte den Zettel, der auf dem Rand des Tischs lag. Ich trat einen Schritt zurück, um das Lesen hinauszuzögern, mein Herz zu organisieren. War er hier vorbeigekommen? Hatte er Sachen mitgenommen und geschrieben, dass er für immer weggegangen war? Hatte er beschlossen, sich umzubringen? Sich von uns zu trennen? Bat er uns um Verzeihung? Dass wir seinen Eltern Bescheid sagen sollten? Ich packte den Zettel, hielt ihn an einer Ecke wie eine brennende Zündschnur und las: »Levi ist gestern operiert worden. Ich war bei ihm. Ich werde spät in der Nacht kommen. Amos.« Ich küsste das Papier, nicht wegen dem, was darauf geschrieben stand, sondern wegen dem, was nicht darauf stand. Ich atmete für zehn Lungen, ich stützte mich auf den Tisch und sagte zu dem Jungen: »Ich werde heute Nacht wieder bei dir schlafen.«
»Kommt der Sohn von Herrn Levi?« Seine Augen leuchteten auf.
Ich will den Kelch des Heils nehmen.
Ich prüfte, ob die Telefone angeschlossen waren, ob bei dem einen der Hörer aufgelegt war und ob das andere an das Ladegerät angeschlossen war, ich zog den Schlüssel aus der Tür, ließ im Flur Licht an und legte mich neben den Jungen schlafen.
Das Drehen eines Schlüssels im Schloss weckte mich. Gideon! Ich stand auf und sah, dass der Schatten im Flur zu Herrn Levis Sohn gehörte, der Zettel fiel mir ein, ich legte mich wieder ins Bett. Er schloss hinter sich ab, und obwohl er sich schnell und auf Zehenspitzen bewegte, hörte ich die kleinsten Geräusche in der Toilette, in der Dusche, das Rascheln von Kleidungsstücken, die ausgezogen wurden und vom Körper glitten, die Schnallen, die an den Sandalen geöffnet wurden, den Körper, der sich im Bett bewegte und nach der richtigen Stellung für die Gliedmaßen suchte, und dann, nach ein paar Minuten, tiefe, gleichmäßige Atemzüge. Wie alt er wohl war? Was spielte das für eine Rolle. Hatte er jemanden, den er liebte? Auch das war nicht wichtig.
Am Morgen, als wir das Bett verließen, war er nicht mehr da. Er war früh aufgestanden, hatte seine Sachen gepackt und war gegangen. Die Anrufbeantworter waren leer, es gab keine akustische Nachricht, keine SMS. Kein Zettel auf dem Küchentisch. Unser neues Leben nahm seinen Lauf. Zerrissene Wolken hingen über dem Wald, Raben flogen kreischend über den Wipfeln, wollten mit den Schnäbeln in die Wolken stoßen, sie zerfleischen.
Der Junge betrachtete sie, einen Fuß schon im Auto, ich drängte ihn, einzusteigen. Nun, da der normale Kindergarten wieder angefangen hatte, durfte er nicht zu spät kommen. Er war stolz auf diese offizielle Verpflichtung, woher sollte er wissen, dass Verpflichtungen im Lauf der Zeit zunehmen und ihm das Leben schwermachen würden.
»Papa ist schon wieder ins Krankenhaus zurückgegangen, nicht wahr?«, fragte er und hängte seine Tasche mit dem Essen an den Haken, er wartete nicht auf eine Antwort, er zog es vor, dass die optimistischere Möglichkeit ihm für diesen Tag erhalten blieb. »Gehst du in den Laden?« Noch ein Zeichen, dass die Welt so war wie sonst. »Wow, du siehst vielleicht aus, was ist mit dir?« Madonna sah mich sofort, als ich den Laden betrat. »Bist du krank oder was?«
Amjad sagte nichts, er senkte verlegen die Augen.
Ich erzählte es ihnen. Ich wollte mich nicht zusätzlich damit belasten, ihnen etwas vorspielen zu müssen. »Mein Mann ist aus dem Krankenhaus weggelaufen, und keiner weiß, wo er ist.«
»Ich will dir ja nicht wehtun«, sagte Madonna, »aber bestimmt ist da eine Frau im Spiel. So sind die Männer. Aber er wird auf allen vieren zu dir zurückgekrochen kommen, mach dir keine Sorgen. Das tun sie alle, ohne Ausnahme, nicht wahr, Amjad?« Sie zwinkerte ihm zu.
»Dort, wo ich herkomme, ist es nicht so.« Er drehte uns den Rücken zu und sortierte die Zeitungen.
»Klar, natürlich«, sagte sie herausfordernd, aber er reagierte nicht, er steckte die Beilagen mit Essen und Mode und Kultur zwischen die Seiten mit Kriegen und Attentaten, mit Politik und Verbrechen, und schwieg. Die üblichen morgendlichen Käufer von Milch und Brötchen kamen und gingen, Madonna, von den Füßen bis zum nackten Hals in enge, schwarze Sachen gekleidet, bediente sie, und zwischen Brötchen und Brötchen warf sie mir verstohlene Blicke zu. Ich wollte nicht, dass sie mich bemitleideten, diese beiden, ich stürzte mich auf den Kühlschrank, räumte das Milchfach leer, wies sie an, die Milch, die aus beschädigten Packungen gelaufen war, aufzuwischen, und während sie damit beschäftigt waren, hörte ich das Telefon ab und hasste die mechanische Stimme der Ansagerin, die ständig wiederholte, dass ich keine neuen Nachrichten hatte. Sie sollten ja kein Mitleid mit mir haben, diese beiden, ich suchte mir Beschäftigungen, ich trennte das Rapsöl vom Sojaöl und ordnete sie in zwei verschiedenen Türmen, ich baute Pyramiden aus Dosen mit Erbsen und kontrollierte das Handy. Die morgendlichen Wolkenfetzen lösten sich auf, die Sonne war nicht bereit, sich dem Gesetz der Natur zu unterwerfen, sie knallte vom Himmel, als hätten wir Juli. Wenn er keine Flasche Wasser mitgenommen hat, wird er austrocknen, wenn er nicht rechtzeitig Hilfe findet, wird er wieder die Besinnung verlieren, wenn …
Jonathan rief an. Ich ging hinaus, vor den Laden, damit das Gespräch vom Straßenlärm verschluckt wurde und es keine Mithörer gab. »Was ist los?«, fragte er, und ich wusste, dass er sich das freie Ohr mit der Hand zuhielt und gespannt zuhörte.
»Einstweilen ist alles in Ordnung.« Ich bemühte mich, meiner Stimme einen kräftigen Ton zu verleihen.
»Ich möchte, dass du etwas weißt, Amia, ich habe bei der Polizei angerufen, aber sie haben gesagt, dass sie erst achtundvierzig Stunden nach dem Verschwinden anfangen, nach einem Vermissten zu suchen. Ich habe auch in den Krankenhäusern angerufen, bei den Unfallstationen, nichts.«
»Das ist in Ordnung, Jonathan, du hast getan, was du für richtig hältst.«
Drei junge Männer betraten den Laden, von weitem sah ich, wie ein Lächeln auf Madonnas schwarz gemalten Lippen erschien, von mir aus, sollte sie lächeln. Ich war dem Schicksal des Ladens gegenüber gleichgültig geworden, er war im Vergleich zu meinen anderen Sorgen ganz nach unten gesunken. Sollte Madonna doch mit ihnen lachen, sollte sie ihretwegen mit Amjad streiten, sollte sie ihnen etwas umsonst geben, sollte sie das ganze Bier wegtrinken, das war mir alles egal.
»Bist du noch da, Amia?« Jonathan war ebenso zielgerichtet wie früher, in unserer Kindheit, als es um die Jagd auf Nazis ging, er sagte, von der Polizei sei nichts zu erwarten, wir sollten ihn selbst suchen, denn jede Minute konnte kritisch sein … »Du kennst ihn am besten, hast du eine Ahnung, wo er sich gern aufhält? Wo könnte er hingegangen sein?«
»Keine Ahnung. Ich kenne ihn inzwischen nicht mehr.« Ich erschrak vor dem, was mir entschlüpft war, und noch mehr erschreckte mich das Wort »kritisch«, ich schaute zum Laden hinüber, um mich an Brot und Öl festzuhalten, die nichts Kritisches an sich hatten. Ich sah, dass Madonna die Lippen bewegte, und was sie sagte, amüsierte die Zigarettenkonsumenten, die ihr gegenüberstanden und lachten. Ein solches Lachen am Morgen? Bei ihnen war entweder alles super oder alles beschissen, wer konnte das wissen.
»Mach alles so, wie du es für richtig hältst«, sagte ich zu Jonathan, den die Sorge mit der gleichen Intensität wie die Religion bewegte. Innerlich dankte ich ihm dafür, dass er sich vorläufig des Mitleids enthielt.
Ich ging zum Laden zurück. Amjad betrachtete mich prüfend vom Platz mit den Cornflakes aus, und weil er nichts Besorgniserregendes an mir entdeckte, wartete er nicht auf eine günstigere Gelegenheit und sagte: »Ich fange in zwei Tagen beim Supermarkt an.«
»Viel Erfolg.« Ich sagte es kurz angebunden und lakonisch, aber ich hoffte wirklich, dass er Erfolg haben würde, von meinem Laden konnte er keine große Rettung für seine kleinen Kinder und sich selbst erwarten.
»Morgen ist mein letzter Tag«, fügte er hinzu, als er sah, dass mein Gesicht unbewegt blieb, als hätte ich nicht kapiert, dass die Katastrophe übermorgen stattfinden würde.
Es kommt, wie es kommt. Mir blieb nichts anderes übrig, Madonna würde den Laden einen oder zwei Tage versorgen, bis Gideon wieder in unser Leben zurückkam, was konnte schon passieren? Dass sie Wodka klaute? Dass sie die Kasse leerte? Dass sie aus dem Laden eine Räuberhöhle machte? Sollte sie doch. Das war keine lebenswichtige Frage. Nicht vor dem Hintergrund eines Mannes, der vor über zwanzig Stunden sein Krankenhausbett verlassen hatte und spurlos verschwunden war. Wieder kontrollierte ich die Funktionstüchtigkeit meines Handys und ob Gespräche oder SMS eingegangen waren, und wieder hörte ich den Anrufbeantworter zu Hause ab. Wieder schaute ich die Straße hinunter, ging vom Brot zur Milch, von der Milch zur Schokolade und von dort zum Lager und vom Lager zur Theke, ich fand einfach keine Ruhe. Meine beiden Helfer verhielten sich wie im Haus eines Verstorbenen, sie erledigten ihre Aufgaben in angespannter Ruhe und ließen mich nicht aus den Augen. Sie sollten mich bloß nicht bemitleiden, diese beiden. Ich nahm die Schlüssel des Mazda und meine Tasche, sagte, ich habe noch etwas zu erledigen, und verließ den Laden.
Amos saß zwischen den übrigen Leidenden Zions und Jerusalems in der Lobby, nicht weit von den Aufwachräumen. Ich entdeckte ihn schon vom Eingang aus, er las eine Zeitung und fiel durch seine kalte Distanziertheit und seine übertrieben aufrechte Haltung auf. Obwohl er in der Nacht geschlafen hatte, machte er einen müden Eindruck, er sah älter aus und glich seinem Vater. Ich ging auf ihn zu, bis mein Schatten auf seine Zeitung fiel und er den Blick hob.
»Du siehst schlecht aus«, sagte er.
»Takt ist nicht gerade deine starke Seite«, antwortete ich und blieb stehen, obwohl der Platz neben ihm frei war. »Wie geht es ihm?«
»Einstweilen beschissen, aber er wird es schaffen, er ist ein zäher Brocken«, sagte er.
»Kann man zu ihm rein?«
»Wenn du keine Angst hast. Er ist absolut unsympathisch.«
Ich hätte nicht unterschreiben können, dass der Knochenhaufen in dem Gewirr aus Schläuchen im Bett Nummer drei tatsächlich mein Hausherr war. Aber da gab es den Namen, der am Bett klebte, und die Augen. Erst gingen sie weit auf, drängten die Brauen erstaunt nach oben, bevor sie sich plötzlich schlossen.
»Wozu sind Sie gekommen?«, flüsterte er zornig. Die Narkose, die er hinter sich hatte, hatte seine Kehle trocken und rau gemacht. »Geben Sie ihm ja nicht meinen Schlüssel«, sagte er so langsam und so deutlich, als habe er seine ganze Kraft für diesen Satz aufgespart. Er rang nach Atem, das Laken, mit dem seine Brust bedeckt war, hob und senkte sich mit erschreckender Langsamkeit. »Ich habe eine Schachtel mit Schuhen, er darf sie nicht anfassen, er darf nicht …« Die Luft reichte ihm nicht, er schwieg.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Levi, ich passe auf den Schlüssel auf.«
Er war grau, schwach und unrasiert, auch auf seinem dünnen Hals wuchsen spärliche graue Stoppeln. Seine Lider waren dünn und durchsichtig, die Äderchen darunter rot und geschwollen. Seine großen Ohren waren welk, der Schädel kahl und blass. Alles andere war von einem Laken bedeckt. An Ständern schaukelten Beutel, aus denen Schläuche kamen und unter dem Laken verschwanden, andere Schläuche führten unter dem Laken heraus zu Flüssigkeitsbeuteln, Urin, Blut, der Teufel weiß, was noch. Ich wollte mich erbrechen und protestieren. Es konnte doch nicht sein, dass alles, was Herrn Levi ausmachte, eine Ansammlung von Flüssigkeiten war, die in ihn hinein- und aus ihm herausflossen, und ein Schädel voller Zorn.
Ich bat ihn nicht um Erlaubnis und tastete unter dem Laken nach seiner Hand, bis ich die fremde Haut fühlte, seine Hand war hart, kalt und feucht. Ich gab ihm die Hand, wie man es bei einem Kind tut, er kniff die Augen zusammen, und ein paar vereinzelte Tränen liefen heraus, gelb geworden in den Jahren. Zehn Jahre, wenn nicht länger, hatte keiner mehr nach seiner Hand gesucht und nach ihr gegriffen. Ich fürchtete, die Rührung könnte den Blutkreislauf zu seinem genähten Herzen beschleunigen und die Nähte könnten dem Druck nicht standhalten und würden aufgehen. Ich nahm meine Hand von seiner, strich das Laken an der betreffenden Stelle wieder glatt. »Gute Besserung, Herr Levi. Wir passen auf das Haus auf.« Ich wandte mich zum Gehen und achtete darauf, nicht nach rechts und links zu den anderen Patienten zu schauen, unter denen vielleicht jemand seine Existenz auf dieser Welt schon beendet hatte.
»Gesund oder nicht gesund, das ist egal«, sagte er, wieder zu Atem gekommen. »Am Schluss sterben alle.« Er hustete, sein Gesicht verzerrte sich einen Moment, dann hatte es wieder den zornigen, armseligen Ausdruck von früher.
»Du könntest ebenfalls ein Bett im Aufwachraum brauchen«, sagte Herr Levis Sohn, als ich aus dem Zimmer kam.
»Ich brauche einen Kaffee, das ist alles.«
Wir gingen durch lange Gänge zur Cafeteria, ohne ein Wort zu wechseln. Ich hatte Mühe, mich seiner Geschwindigkeit anzupassen, und atmete schwer. Als ich mein Spiegelbild in der Tür der Cafeteria sah, musste ich ihm recht geben, ich sah schrecklich aus. Wir fanden einen freien Tisch für zwei, tranken Filterkaffee aus Wegwerfbechern.
»Möchtest du Kuchen, ein Sandwich, irgendetwas?«
Ich wollte nichts. Wieder kontrollierte ich mein Handy, und während ich den Anrufbeantworter von zu Hause abhörte, schob mir der Sohn des Alten den Zucker zu, seiner Meinung nach brauchte ich dringend Glukose.
Ein Mann und eine Frau trinken Kaffee und schweigen. Worüber kannst du mit ihm sprechen, wenn dein Mann verschwunden ist, einfach weg? Über das Wetter? Und er, nachdem ihn das schlimmste aller Übel getroffen hatte, was konnte ihn noch bewegen? Man muss sich nicht unterhalten. Man kann schweigen und in den Kaffee starren oder die kranken oder gesunden Gestalten betrachten, die essen, bezahlen, aufstehen und weggehen. Für Tiere ist es kein Problem, nebeneinander zu liegen und zu schweigen, zum Beispiel Kühe. Sie existieren, und das ist alles, sie sind weder traurig noch fröhlich, sie wissen nichts vom Schlachthaus am Ende ihrer Zukunft. Früher, wenn ich mit Gideon in einem Café saß, hatten erloschene Paare zu uns herübergeschielt, erstaunt, dass wir etwas hatten, worüber wir reden konnten, dass bei uns die ganze Sache noch so lebendig war. Wir unterhielten uns über die Zukunft, darüber, was wir anziehen und wo wir wohnen würden, wenn wir reich und berühmt wären, wir lachten über die Vergangenheit, analysierten die Gegenwart, fütterten einer den anderen, saßen nebeneinander, nicht einander gegenüber, und wenn wir plötzlich schwiegen, dann war es, weil der geräucherte Lachs kam und unsere Zungen sich vom Plappern ausruhten und den Fisch genossen.
Nun schwieg ich, und auch der Mann mir gegenüber schwieg, trotzdem tranken wir langsam, keiner von uns hatte es eilig, den Becher schnell leer zu trinken und die Gelegenheit zu verkürzen. Fremde sind so weit entfernt voneinander, dass es keine Verlegenheit gibt. Doch der Sprecher des Schicksals machte sich einen Spaß und brachte im Radio der Cafeteria das Lied von einem Mann, der über die Terrasse verschwunden war. Amos trommelte mit den Fingern auf den Kaffeebecher in seiner Hand. Es waren die Hände eines Mannes, der den Boden bearbeitet, sie waren rau und bräunlich wie die Erde, trocken, mit tiefen Falten an den Knöcheln und mit starken, bis zur Kuppe heruntergeschnittenen Fingernägeln. Halte daneben die Hände eines Rechtsanwalts oder eines Geisteswissenschaftlers, und du wirst sehen, dass ihre Topografie ganz anders ist, dass sie gepolsterter sind, weicher und glatter.
»Ein schönes Lied«, sagte ich.
»Die Melodie ja, aber der Text? Ich weiß nicht. Kennst du jemanden, der über die Terrasse verschwunden ist?«
»Mein Mann. Nicht über die Terrasse, aber er ist verloren gegangen.«
Er hörte mit der Trommelei auf und schaute mich an. Er überlegte wohl, ob er sich nach dem Was und Wie erkundigen sollte, ob er sich die Beichte einer verlassenen Frau anhören wollte, eine jener Beichten, wie man sie für zehn Schekel in jeder Wochenendbeilage der Zeitungen lesen konnte.
»Er lag im Krankenhaus, in der Neurologie, gestern hat er das Krankenhaus auf eigene Verantwortung verlassen und ist seither spurlos verschwunden.« Ich gab mir Mühe, mich kurz zu fassen und es ihm zu ersparen, sich weiter darauf einzulassen, und ich hörte mich für mich selbst an wie eine Polizeisprecherin, die für die Suche nach einem alten, an Alzheimer leidenden Mann um die Mithilfe der Öffentlichkeit bittet. Doch der Sohn des Alten sollte ja nicht denken, dass der Mann, den ich verloren hatte, hilflos, verwirrt und armselig war.
»Was tust du dann hier? Warum suchst du ihn nicht?« Er schaute mir in die Augen, und ich konnte den Blick nur schwer ertragen. In seinen Pupillen flackerte es wie elektrisches Licht. Das hielt ich nicht aus, ich floh vor seinem Blick zu den roten Geranien, die im Fenster der Cafeteria blühten.
»Ich verlasse mich auf ihn«, log ich, »er weiß, was er tut.«
»Das glaube ich nicht. Willst du noch einen Kaffee?« Er stand auf und brachte zwei dampfende Becher.
»Du liegst richtig damit, mir nicht zu glauben. Ich bin völlig ratlos.« Diesmal wich ich seinem stechenden Blick nicht aus. Bis wir die Becher leer getrunken hatten, kannte er mehr oder weniger alle Fakten, er war informiert über Gideons monatelange Suche nach dem Sinn des Lebens, über die Zeit, die er bei den Fischen verbracht hatte, wusste von den Migräneanfällen, von den Tabletten, die er geschluckt hatte, und dass er dehydriert ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Die umfassende Liste der Tatsachen ergab das Bild eines Sonderlings, dem sein Arbeitsleben schwerfiel. Wie sollte ich ihm erklären, dass der Mann, den ich geheiratet hatte, außerordentlich geschickt bei seiner Arbeit gewesen war und alles, nur kein Sonderling?
»Du beschäftigst dich mit Botanik. Hast du irgendwann Pflanzen erlebt, die plötzlich ihre Natur ändern?«
»Ich habe Pflanzen erlebt, mit denen es die Natur gut meinte, sie hätten allen Grund gehabt, zu leben, und trotzdem wollten sie sterben.«
»Hast du sie gerettet?«
»Als ich merkte, dass es das war, was sie wollten, habe ich nicht versucht, mich ihrem Willen zu widersetzen.«
Die Geranien im Fenster der Cafeteria sahen aus, als würden sie das Leben genießen. Trotz einer Umgebung von Krankheit machten sie nicht den Eindruck, als würden sie plötzlich austrocknen. Der Mann mir gegenüber allerdings schon.
»Möchtest du manchmal sterben?«, fragte ich.
»Sagen wir mal so, nicht immer habe ich Lust zu leben.« Er drückte die Handfläche gegen den Pappbecher, saugte die Wangen mit den Clint-Eastwood-Falten ein und sagte: »Aber ich habe nie irgendetwas in diese Richtung unternommen, ich habe mich nicht auf Eisenbahnschienen geworfen, und ich habe keine Tabletten geschluckt. Übrigens, hast du dich an die Polizei gewandt?«
Ich erzählte ihm von der polizeilichen Regel mit den achtundvierzig Stunden, und inzwischen waren noch nicht mal vierundzwanzig vergangen.
»Bei selbst verschuldeten Unfällen sind sie innerhalb von Sekunden da, der Himmel stürzt auf dich, und sie legen dir auf der Stelle eine Akte an«, sagte er.
Der Sohn des Alten war ein Fremder gewesen, als wir die Cafeteria betreten hatten, und er war fremd geblieben, nachdem wir zwei Tassen Kaffee getrunken hatten. Nun ja, ich übertreibe, ich kannte seine Finger, ich hatte festgestellt, dass es nicht unmöglich war, seinem Blick zu widerstehen, ich hatte ihn viermal verhalten lächeln gesehen und gelernt, dass die Skala seiner Freude am Leben von mittel bis mäßig reichte. Er warf die beiden Pappbecher in den Mülleimer, wir kehrten zurück zum Aufwachraum, um sicherzustellen, dass sich im Leben seines Vaters keine Dramen ereignet hatten. Bevor ich das Krankenhaus verließ, schaute ich noch einmal nach dem Alten. Er lag mit offenen Augen im Bett und bemerkte mich erst, als ich mich über ihn beugte. Seine faltigen Lider hoben sich. »Für den Fall, dass ich sterbe, möchte ich, dass die Schuhe des Jungen in mein Grab gelegt werden.« Seine Stimme klang heiser und entschlossen.
»So schnell werden Sie nicht sterben.«
»Woher wollen Sie das wissen? Sind Sie Gott? Schreiben Sie das, was ich gesagt habe, auf ein Stück Papier und bringen Sie es mir, damit ich unterschreiben kann …« Die Kraft und die Luft verließen ihn.
»Ich übernehme die Sache mit den Schuhen, Herr Levi, Sie können sich auf mich verlassen. Aber jetzt muss ich gehen.« Er schwieg verwirrt, das Versprechen, das er mir abgepresst hatte, übertraf seine Erwartungen.
»Gute Besserung, Herr Levi.« Ich drehte mich um.
»Ist er noch da?«
»Amos? Ja.«
»Gut.«
Was war gut? War es gut, dass keine Gefahr für die Schuhe bei ihm zu Hause bestand, solange Amos im Flur des Krankenhauses saß?
Ich hätte es keine Minute länger dort ausgehalten, ich fühlte mich eingeengt. Ich prüfte, ob mein Handy funktionierte, ob es geladen war, ob es neue Nachrichten gab.
»Ich gehe«, sagte ich zum Sohn des Alten. Ich fragte nicht, ob er auch in dieser Nacht bei uns schlafen würde, ich wollte weg von dort, als wäre eine Feuersbrunst ausgebrochen, als würde mich draußen wer weiß was erwarten.
»Wenn du beim Suchen Hilfe brauchst, ich habe einen Geländewagen mit Vierradantrieb.«
Vor dem Krankenhaus wuchsen wilde Geraniensträucher, so wie jene in der Cafeteria, Beweise für eine gesunde Option an diesem kranken Ort, sie zeigten, dass, obwohl alles schlimm ist, es immer noch andere gibt, die den Mut haben zu leben. Dazu brauchte man nur die dicken Blätter anzuschauen, die roten Blüten und die prallen Knospen. Ein Stück Gesundheit. Was sollte ich mit seinem Vierradantrieb anfangen? In den Felsen herumfahren, durch Flussbetten und über die Hänge der judäischen Wüste? Gewundene Straßen entlangfahren und einen vertrocknenden Wanderer suchen, oder seine Leiche? Nein, danke. Ich ging nach Hause, mir blieben zwei Stunden, bis ich den Jungen um vier Uhr vom Kindergarten abholen würde. Obwohl ich von einem Menschen nicht viel erwartete, der in die Wüste, ans Meer, auf Berggipfel oder in Felsspalten gelaufen war, fort von der Zivilisation, von elektrischem Strom, Computern und Solarantennen, kontrollierte ich meine E-Mails und zappte mich durch die Nachrichten im Internet, vielleicht hatte man einen Ertrunkenen aus dem Wasser gezogen, oder jemand war vom Felsen gestürzt, vielleicht hatte man einen Sonderling gefangen, der die Grenze nach Ägypten überqueren wollte, vielleicht war ein entflohener Kranker in die Klinik zurückgebracht worden. Doch die Nachrichten befassten sich mit schicksalhaften globalen Angelegenheiten, mit Politik, einer Bombe im Gepäck, die nicht explodiert war, und der Scheidung irgendeines Prominenten.
Auf keinem Apparat erwartete mich eine Nachricht. Ich rief im Reich von Brot und Margarine an, meiner einzigen stabilen Stütze im Moment. Madonna sagte, es sei alles in Ordnung, es laufe heute sogar wirklich gut, jemand hatte sechs Flaschen Öl gekauft und das ganze Mehl mit Backpulverzusatz, und auch mit dem Käse und dem eingelegten Gemüse klappte es prima. Sie räusperte sich, um von einem Thema zum nächsten zu wechseln, und fragte: »Entschuldige, aber gibt es etwas Neues mit deinem Mann?« Ich wusste nicht, ob Gideons Schicksal ihr ans Herz ging, oder ob sie die Einnahmen und Verluste überschlug, die durch sein Verschwinden zu erwarten waren.
Am Abend erschien sie auf unserem Hof in einem kurzen grünen Kleid. Sie roch nach billigem Parfüm, und ihre nackten Glieder leuchteten im Licht des mageren Mondes und der Straßenlaterne, die ein schwaches Licht auf den Hof warf. Der Junge war ganz aus dem Häuschen, eine Minute davor hatte er vier Dinge aufgezählt. »Ich bin eins, Wodka zwei, Amos drei, Mama vier.« Er freute sich, dass Amos auch in dieser Nacht bei uns schlafen würde, die Welt war sicherer mit einem größeren Forum, und nun war auch noch sie gekommen und vergrößerte seine Freude. Der Hund sprang ihr entgegen, der Junge folgte ihm.
»Das ist meine Hilfe im Laden, sie heißt Madonna«, stellte ich sie Amos vor. Er hob die müden Augen zum Tor. Er saß auf der Treppe und aß eine Guave, die er im Garten seines Vaters gepflückt hatte, betrachtete Madonna, die im Tor auftauchte wie eine kleine grüne Heuschrecke, sie hüpfte zwischen dem Jungen und dem Hund herum, die sich auf sie stürzten, und rief: »Was habt ihr denn? Einer nach dem anderen.«
Und dann rief sie begeistert vom Tor herüber: »Wie schön! Dein Mann ist zurückgekommen! … Oh, entschuldige, ich habe nicht gesehen, dass er es nicht ist.« Sie kam auf uns zu.
»Ich bin gekommen, weil ich sicher war, dass es euch schlecht geht.«
Es war Tischri, der erste Monat des neuen Jahres. Über uns zogen sich Wolken zusammen und betonten ihr weißes Gesicht. Sie stand vor uns, über uns, und von dem umgedrehten Eimer aus, auf dem ich saß, und von den Treppenstufen aus, auf denen Amos saß, sahen ihre Beine länger aus, als sie es tatsächlich waren. Ihre schwarzen Haare waren zu Igelstacheln gegelt und mit vielen glitzernden Nägeln geschmückt.
»Kann ich auf die Toilette?« Sie rannte ins Haus, der Junge und der Hund hinterher.
»Eine Erscheinung«, sagte Amos.
Die Erscheinung kam zurück, trocknete sich die Hände an dem winzigen Stofflappen ihres Kleides. Sie senkte den Kopf und zog das Kleid hoch, um sich das Kinn abzuwischen, und das Dreieck ihrer weißen Unterhose leuchtete in der Dunkelheit.
»Los, dann zeig’s mir«, rief sie dem Jungen zu, und der forderte Wodka auf, seine drei Kunststückchen zu zeigen: Platz, Pfötchen, fass.
Der Hund ignorierte seinen Gönner, er demonstrierte Unabhängigkeit und umkreiste Madonna mit herrischen Schritten.
»He, was ist mit dir? Los, mach, was man dir sagt.« Sie versetzte ihm einen Tritt in den Hintern, er ergab sich, wälzte sich auf dem Boden, erinnerte sich an seine Kinderstube und gehorchte, er hob die Vorderpfote zum Gruß, lief dem Stöckchen hinterher, das der Junge warf, und brachte es zurück.
»Toll!«, rief Madonna, nahm das Stöckchen, hob ihre dünne Hand und warf es aus dem Hof hinaus, sie nahm den Jungen an die Hand, und beide liefen dem Hund hinterher, um zu sehen, was er tat.
»Bei welcher Lotterie hast du sie gewonnen? Sie ist eine Nummer, dieses Mädchen.« Der Sohn des Alten stand auf, lief ebenfalls zum Tor, nahm das Stöckchen und warf es hoch in die Luft, das Stöckchen flog über das Dach des Alten und landete in seinem Hinterhof. Wodka, aufgestachelt von Madonnas Begeisterung, sprang über den Zaun, rannte durch den stillen Hof und verschwand hinter dem Haus, und bis er zurückkam, das Stöckchen im Maul, war es Madonna gelungen, den Sohn des Alten zum Sprechen zu bringen und persönliche Dinge zu erfahren.
»Einen Moment, du bist also geschieden oder was? Gut, das spielt keine Rolle. Ich werde nie im Leben heiraten. Ich lasse mir von niemandem sagen, was ich zu tun habe. Hast du schon mal einen Schmetterling gesehen? Er fliegt dahin und dorthin und tut, was ihm gerade in den Kopf kommt, genauso bin ich.«
Von meinem Platz auf dem Eimer aus beobachtete ich, wie Rivka Schajnbach aus der Jisa-Bracha-Straße den Sohn des Alten verzauberte. Woher sollte er wissen, dass die hundert Schekel, die sie auf dem Weg zur Toilette aus seinem Rucksack genommen hatte, jetzt auf ihrem flachen Bauch hüpften, in der Gürteltasche, die sie umgebunden hatte. Morgen wird er erleben, dass eine Ente oder eine Schildkröte mit ihrer Freiheit dafür bezahlt, oder was sonst zu ihrem Sühneopfer wird.
Bevor sie die grüne Lebenslust zusammenraffte, um sie andernorts zu verstreuen, verkündete sie dem Opfer den Diebstahl und genoss seine Überraschung. »Hör zu, wie heißt du, Amos? Also hör zu, Amos, was ich dir weggenommen habe, kommt morgen zu dir zurück, spätestens übermorgen«, sagte sie ohne eine weitere Erklärung.
Später zählte er sein Geld und sagte, wenn er gewusst hätte, dass sie Geld brauchte, hätte er es ihr gegeben. Er lehnte sich an den Pfosten der Küchentür und gab zu, dass er Menschen mochte, die die normale Ordnung nicht akzeptieren und sich gegen sie auflehnen, wenn er so alt wäre wie sie, hätte er das auch getan. Ich empfand eine leichte Eifersucht und wusste nicht, auf wen, auf Madonna? Ich beneidete sie nicht um ihre Oberschenkel oder um ihre glatte Haut, auch nicht um die Zuneigung, die der Sohn des Alten ihr entgegenbrachte, sondern um die unreife Selbstsicherheit ihrer Worte: »Ich lasse mir von niemandem sagen, was ich zu tun habe.« Und da war noch etwas. Es war dumm, gehörte eigentlich nicht dazu, und trotzdem – ich konnte nicht leugnen, dass er eine gewisse leichte Anziehung auf mich ausübte. Vielleicht wegen Madonna, die seine Härte aufgeweicht und einen zerbrechlicheren, menschlichen Amos hervorgebracht hatte. Er lehnte am Türpfosten, aufrecht, wie es seine Art war, aber nicht angespannt, und faltete die Hände, die ich bereits erwähnt hatte, über dem Kopf und machte nachdenkliche Pausen zwischen den Worten, von den Genen des Alten und dem Unglück, das ihm geschehen war, war nichts mehr zu sehen. Im trüben Küchenlicht arbeiteten auch die tiefen Falten, die das Leben ihm zugefügt hatte, zu seinen Gunsten.
»Ich vertreibe dich schon seit ein paar Nächten aus deinem Bett, wenn der Junge nichts dagegen hat, schlage ich vor, dass ich heute Nacht bei ihm schlafe.«
Nadav reagierte mit großer Aufregung auf diese Neuerung. Er zog schnell seinen Pyjama an, schob beide Füße in ein Hosenbein, lachte über sich selbst, zog die Matratze, die an seinem Fußende lag, so weit, dass sie sein Bett berührte, legte sich auf die Seite, das Gesicht zur Matratze, und betrachtete gespannt den Gast, der die Nacht neben ihm verbringen würde. Was soll man sagen, ein Junge braucht einen Vater, und ein Vater braucht einen Jungen.
Die beiden Bedürftigen unterhielten sich, bevor sie einschliefen, ich konnte nicht hören, was sie sagten, ich nahm nur das wohlklingende Duett aus einer Kinderstimme und einer Männerstimme wahr, die das beschissene Schicksal zusammengeführt hatte. Morgen am Nachmittag werden die achtundvierzig Stunden, die vor der Suche nach einem Vermissten verlangt werden, voll sein, morgen kommt die Polizei ins Spiel.
Ich zog mir die Decke bis über den Kopf, ich wollte nicht daran denken, was die Polizei möglicherweise finden könnte. Plötzlich herrschten Stille, eine wache Stille, und Sehnsucht nach dem familiären Dreieck, das jeder von uns gehabt hatte, bevor alles zerbrochen war. Auch wenn es einen Ombudsmann in der Welt gäbe, der Welten erschafft und zerstört, würde ich ihm keine Erklärung schulden. Die kleine Diebin Rivka Schajnbach hat recht, dass sie ihn überlistet, dass sie seine Ordnung von vornherein austrickst und ihm keine Chance gibt, ihren Lebenslauf zu zerstören und sie mit einem Unglück zu überraschen. Wäre ich so jung wie sie, würde ich ebenfalls ausbrechen.
Am nächsten Morgen stellten wir fest, dass die Sonne, die am Vortag den Kalender durcheinandergebracht hatte, nun zur natürlichen Ordnung zurückgekehrt war, sie hatte die Temperatur gesenkt, das Licht gedämpft und angefangen, sich dem Herbst zu ergeben.