7
»Zimmer acht«, sagte die Schwester auf der neurologischen Station und deutete mit einer Kinnbewegung in die Richtung, sie hielt in ihrer Beschäftigung inne und musterte mich, als hätte ich etwas an mir, das die Diagnose unterstützte und wahrscheinlich machte. Obwohl es schon Nacht war und die Zimmer dunkel, sagte sie nicht, dass ich die Ruhe der Kranken störte, ich wusste nicht, warum sie nichts sagte und warum sie mich so anschaute, mein Ausschnitt war angemessen, ich hatte keinen Riss im Rock oder sonst etwas Auffälliges, ich nahm an, dass sie etwas wusste, was ich nicht wusste.
»Neben dem Fenster«, rief sie mir nach, damit ich in der Dunkelheit kein fremdes Gesicht oder fremde Gliedmaßen berührte. Schwerer, als es meinem Gewicht entsprach, betrat ich Zimmer acht, tastete mir einen Weg durch die stickige Luft zwischen den eng stehenden Paravents, durch schwere Atemzüge und flackernde Geräte, bis ich das Bett neben dem Fenster erreichte. Der Mann im Bett war nicht meiner. Er schlief, und im Gegensatz zu seinem Nachbarn atmete er ruhig. Der Mond, der mir gestern auf dem Friedhof ein bisschen geleuchtet hatte, stand hoch über dem Krankenhaus und schickte einen dünnen Strahl zu dem durchsichtigen Schlauch, durch den eine Flüssigkeit in seine Adern tropfte, sein Gesicht lag in der Dämmerung, seine Wange und sein Kinn waren auf das Kissen gedrückt. Ich stand vor seinem Bett, wollte seine Faust öffnen und seine Finger befreien, damit die Flüssigkeit frei durch seine Adern fließen konnte und nicht in den zusammengedrückten Venen stockte. Wer konnte mir etwas sagen, er schlief, die Schwester war nicht da, und wenn etwas passierte, lag die Verantwortung bei ihr, sie war es, die mir die falsche Auskunft gegeben hatte, sie war verpflichtet, die Kranken gegen das Eindringen von Fremden zu schützen, und dass ich mich hier bei dem Fremden aufhielt, war nur dazu gut, um Luft zu holen für das Treffen mit Gideon, der vielleicht im Zimmer neun oder vier lag, bewusstlos oder nicht. Ich werde sanft die geballte Faust berühren, die auf der Decke liegt, die zarte Berührung wird vom Gehirn registriert werden, die Handmuskeln werden reagieren und sich entspannen. Doch andererseits wäre dieser Mann hier nicht in die Neurologie eingeliefert worden, wenn er nicht eine Störung des Gehirns hätte, ich kann nicht wissen, was eine leichte Berührung bei ihm auslöst, ob seine Nerven nicht vielleicht krankhaft reagieren und welchen Auftrag sie den Muskeln geben und was dann für ein Durcheinander entsteht. Ich konnte dem Wunsch nicht widerstehen, meine Hand löste sich von dem Riemen meiner Schultertasche, näherte sich der geballten Faust und spürte die Härchen, die sich aufrichteten, ich erstarrte, bevor meine Hand auf seiner lag.
»He, was machst du hier?«
Die Stimme war Gideons Stimme, der Tonfall fremd, gleichgültig und schwach. Meine Hand sank fest auf seine Faust und umschloss sie von oben, dann kam die zweite Hand von unten.
»Du bist bei Bewusstsein.« Ich lachte erschrocken.
»Soviel ich weiß, ja.« Seine Stimme klang, als sei er die ganze Zeit wach gewesen und habe mich beobachtet. Ich zog den Vorhang zurück, um das schwache Mondlicht hereindringen und auf sein Gesicht fallen zu lassen, um mir zu beweisen, dass dies mein Gideon war. Der Mond hatte sich schon entfernt, aber die helle Nacht des Negev erfüllte das Fenster, zeigte seine blassen Formen, die eingefallenen Wangen, das länger gewordene Gesicht, das spitze Kinn, den geschrumpften Hals.
»Was ist passiert, warum hat man dich hierhergebracht?« Ich konnte meine Stimme nicht beherrschen, sie kam zu aufgeregt aus meinem Mund.
»Sie haben gedacht, dass ich versucht habe zu sterben, aber ich wollte nur schlafen.«
Ich brachte meinen Mund zu seiner armseligen Faust, ich biss hinein, küsste sie, er sagte, er habe viele Nächte hintereinander nicht geschlafen und dieses ständige Wachsein habe ihn ganz verrückt gemacht, er habe dagelegen und Schäfchen gezählt, Sterne, er sei aufgestanden und habe Kognak getrunken, er sei durch die Straßen gelaufen, habe sich bis zum Umfallen ermüdet, aber sein Gehirn habe auf »play« gestanden, habe weitergearbeitet, es sei unmöglich gewesen, zu stoppen. Er habe gedacht, Schlaftabletten würden etwas ändern, würden ihm Stunden des Schlafs bescheren und er würde aufstehen und sich wie neu fühlen. Nein, er wusste nicht, wie viele er geschluckt hatte, er erinnerte sich nicht, und sie hatten es ihm nicht gesagt, gut, sie glaubten ihm nicht, sie gingen von einem Selbstmordversuch aus, und er hatte sich nicht bemüht, ihren Fehler zu korrigieren. Sie sind ein intelligenter Mann, sagten sie, haben Sie nicht gewusst, dass man davon sterben kann? Ich habe nichts gewusst, antwortete er, verstehen Sie doch, ich hatte ein paar Nächte lang nicht geschlafen, ich war vollkommen erledigt, ich wäre bereit gewesen, einen Elefanten zu schlucken, nur um zu schlafen. »So war’s, deshalb bin ich hier.«
Seine Sprechweise war leise und flach, als läse er die Gebrauchsanweisung für einen Mixer vor oder eine Zeitungsanzeige. Ich drückte seine Faust an meine Brust, ich küsste ihn auf die Stirn, ich hätte mich am liebsten zu ihm ins Bett gelegt und die Decke über uns beide gezogen, damit wir schlafen und wie neu aufstehen könnten.
»Du glaubst mir auch nicht«, sagte er trocken und zog seine Hand zurück. Im Nachbarbett, auf der anderen Seite des Paravents, wälzte sich jemand herum und sagte »ach, Mama« zum Laken und drehte sich wieder um. Ich knöpfte seine Pyjamajacke auf, schob meine Hände hinein, streichelte seine Schultern und spürte, wie wenig Fleisch er auf den Knochen hatte.
»Merke dir, dass ich zu dir halte. Hast du gehört? Egal, was passiert, ich halte zu dir.«
»Was das betrifft, hältst du zu ihnen.« Seine Schultern ergaben sich mir nicht, sie wichen nicht zurück, sie hatten ihn mit Beruhigungsmitteln abgefüllt, sie hatten seinen Motor ausgemacht, sie hatten Lust und Zorn in ihm ausgeschaltet. Ich schüttelte ihn. »Versteh doch, ich halte zu dir, was spielt es für eine Rolle, was ich glaube, wir sind zusammen«, flehte ich, und der Mann im Bett nebenan murmelte, »was ist das hier, was ist das hier?«
»Nun, und was ist jetzt, warum behalten sie dich hier?« Ich massierte seine Arme, seinen Hals, fuhr mit den Händen zwischen seine Schulterblätter – mit aller Kraft wollte ich ihn in Bewegung bringen, den Lebensfunken in ihm anfachen. Sollte er weinen, mich schlagen, beißen, fluchen, brutal mit mir schlafen, nur nicht so stumpfsinnig sein, nur um Gottes willen nicht diese Apathie. Vielleicht hatten sie in ihm jedes Gefühl abgetötet, damit er nichts mehr spürte, weder Freude noch Verzweiflung, damit er keinen weiteren Selbstmordversuch unternahm, das ist alles egal, hatten sie gesagt, Hauptsache, er bleibt am Leben, sie hatten den ärztlichen Schwur geschworen, sie hatten sich verpflichtet, den Menschen am Leben zu erhalten. Wie? Wozu? Darauf sollten Philosophen und Ethiker und Moralisten antworten. Mit jedem Moment hasste ich sie mehr, und zugleich glaubte ich ihrem Misstrauen mehr und mehr.
»Ich möchte schlafen, Amiki, entschuldige.« Trocken und sauber wie ein abgenagter Knochen war sein Amiki, distanziert und von kalter Höflichkeit, und erinnerte an sein früheres Verhalten bei Gericht.
»Du hast überhaupt nicht nach dem Jungen gefragt.« Ich nahm meine Hand von ihm, und wenn ich gekonnt hätte, hätte ich auch meine Worte zurückgenommen. Der Mann ist krank, es geht jetzt nicht um den Jungen, lass ihn doch, er hat dir gesagt, dass er todmüde ist. Ich stellte mich ans Fenster, drehte das Gesicht zur Nacht, die sich zwischen den lang gestreckten Klinikgebäuden räkelte. Da und dort waren Gestalten zu sehen, die sich auf die Fensterbank stützten und sich hinausbeugten, genau wie ich, die in die Nacht starrten und auf den Morgen warteten.
»Morgen, Amiki, morgen …« Seine Stimme erlosch, versank im Schlaf, sein Atem ging ruhig und tief.
Was ist morgen, wirst du dich morgen nach dem Jungen erkundigen? Wirst du wieder zu dir kommen? Wirst du dich dafür interessieren, wie es mir geht? Wirst du dich daran erinnern, wie viele Tabletten du geschluckt hast und warum? Warum hatte mich diese Lebensform, die er gesucht hatte, nicht misstrauisch gemacht, warum war ich nicht darauf gekommen, dass sie der Anfang von etwas Schlimmem war. Warum hatte ich wegen der seltsamen Art, wie er seine schwarze Robe behandelte, keinen Verdacht geschöpft, er hatte sie so heftig geschüttelt, dass sie Falten schlug, und damit Vögel vom Balkon verjagt, er hatte sie gründlich gebürstet und keine Naht ausgelassen, er hatte sie ganz genau zusammengefaltet, sie wie zu einer ehrenvollen Beerdigung vorbereitet und dann in die Schublade gelegt. Wieso war mir seine mangelnde Konzentration nicht aufgefallen, seine Vergesslichkeit, wieso …
»Im Vorratsraum gibt es Decken und Laken, Sie können sich etwas holen«, sagte die Schwester, die kam, um die Dosierung der Infusion zu regulieren. Sie sprach mit einer Stimme, als wäre es mitten am Tag, als hätten die neurologischen Patienten einen Trank bekommen, der sie vor jedem Lärm abschirmte. Ich verließ hinter ihr den Raum und packte sie im Flur am Ärmel. »Sagen Sie mir, was hat er?«
»Medizinische Informationen gibt nur der Arzt.«
»Und was lassen Sie in seine Adern laufen?«
»Flüssigkeit, der Mann ist völlig dehydriert hier eingeliefert worden«, sagte sie und sah ein Licht neben der Tür eines Zimmers flackern, ging dorthin und ließ auf dem Weg ein paar Worte fallen: »Er wird jedenfalls noch immer untersucht, also …« Sie wurde von dem dunklen Zimmer verschluckt. Im Schwesternzimmer beugte sich eine andere Schwester über Krankenblätter und machte Notizen.
»Entschuldigung, kann ich Sie etwas fragen?«
Sie hob den Blick nicht von den Papieren. »Ja, natürlich.«
»Welche Untersuchungen werden mit Gideon aus Zimmer acht gemacht, das heißt, was vermuten Sie, was er hat?«
»Tut mir leid, aber medizinische Informationen geben nur die Ärzte, sie beantworten nachmittags die Fragen von Familienangehörigen.« Sie hob den Blick von den Unterlagen und schaute mich teilnahmsvoll an. »Aber hören Sie, er ist in guten Händen, übrigens, wenn Sie bis zum Morgen bleiben wollen, es gibt neben seinem Bett einen Sessel, da können Sie ein bisschen schlafen.«
Fragen von Familienangehörigen, was soll das heißen, höchstens eine Frage, und zwei, wenn es mehrere sind, die Frage, was im Gehirn ihrer Lieben schiefgelaufen ist und ob es für immer sein wird. Das kann man vor dem nächsten Nachmittag nicht beantworten?
»Können Sie mir seine Patientenkarte zeigen?«
»Nein, tut mir leid.« Sie legte den Ellenbogen auf den Stapel Papiere, als könnte ich sie ihr gleich wegreißen.
»Die Krankheit gehört ihm, nicht Ihnen, wenn er entlassen wird, wird er Ihnen nichts davon dalassen, er wird sie mitnehmen und mit mir teilen, warum kann ich seine Karte dann nicht jetzt schon einsehen?«
»Hören Sie, so sind die Vorschriften, ich habe sie nicht gemacht.«
»Vorschriften, Vorschriften, lassen Sie den Menschen ein bisschen Spaß, wenn er schon …«
»Was soll ich machen.« Sie lächelte hilflos und schützte noch immer die Patientenkarten mit ihrem Körper.
Ich wusste nicht, ob es gut war, bis zum Morgen zu warten, neben seinem Bett gab es ein riesiges Fenster, die Sonne würde mit ihren Heerscharen an Strahlen hereindringen und jede Pore und jede Bartstoppel beleuchten, bedenkenlos die Haut und jedes Äderchen bloßlegen, würde einen Projektor auf seine Nieren und seine Eingeweide richten und ihn so durchsichtig machen wie seinen Infusionsschlauch. Er wird an seinem Laken ziehen, er wird sich das Gesicht bedecken und mich bitten, ihn in Ruhe zu lassen, er wird sagen, ihm fehlten nur tausend Stunden Schlaf, er wird versprechen, dass er, wenn er ausgeschlafen habe, wie neu aufstehen und wieder so sein würde, wie er vor dem Tablettenschlucken gewesen war.
»Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
Ich wusste nicht, wodurch ich das Mitleid der Schwester geweckt hatte, die mit ihrem Ellenbogen die Patientenkarten schützte, sie hätte mir nichts angeboten, hätte sie nicht gewusst, was mich auf dieser Karte erwartete, die sie mir vorenthielt. In ihren Augen lag tiefer Ernst, eine junge Frau, die schon viel Schlimmes erlebt hatte, Schlimmes, das bei ihr Zwischenstation machte, um dann den Platz für neue Sorgen zu räumen. Ich hätte gern gewusst, ob sie vor dem Spiegel noch die Lippen vorschob, ob sie sich durch die Haare fuhr und ihren Hals prüfte, ob ihr die Schönheit des Fleisches noch etwas bedeutete, nachdem sie hier Tag für Tag seine Vergänglichkeit sah. Sie vertraute meinem Anstand, ließ die Papiere im Stich und kam mit einer dampfenden Tasse zurück, gab sie mir, und ich trank, und nie war mir ein vergleichbarer Tee über die Lippen gekommen. Kochendes Wasser und ein Teebeutel, Trost und Wohltat aus einer Tasse zur späten Stunde. Wer kann wissen, wie viele schmerzende Lippen die Welt verflucht haben oder wie viele den Segensspruch gesagt haben, gesegnet seist du, Gott, durch dessen Wort alles entstand, wenn sie aus dieser orangefarbenen Plastiktasse tranken, wie viele haben sich gequält und darauf gewartet, dass ihnen jemand einen Trinkhalm gibt, damit sie trinken können, wie oft hat sich die Tasse im Geschirrspüler des Krankenhauses verbrüht, mit Wasser, das heißer und stärker ist als das Fleisch und das Blut, die sich an sie drücken.
Ich trank sie bis auf den letzten Tropfen leer und erkannte erleichtert, dass ich im Moment von niemandem hier gebraucht wurde.
»Ich werde nicht bis zum Morgen warten«, sagte ich zur Schwester.
»Wie Sie wollen.« Sie war sensibel genug, nicht nach dem Grund zu fragen.
Der Kuss, den ich auf Gideons Stirn drückte, wurde von der Haut nicht aufgesaugt und weckte ihn nicht, er wachte auch nicht auf, als ich seine Faust löste und meine Finger in seine verschränkte. Gut, dass sein Kopf nicht auf »play« eingestellt war und er Schlaf nachholte, gut, dass Flüssigkeit in seinen Körper bis zum Gehirn tropfte und ihn von der roten Linie fernhielt, gut, dass sein Bett neben dem Fenster stand und er, wenn es Morgen wurde, den neuen Tag als Erster sehen würde.
Nadav fragte, ob sein Vater gestorben sei, ich sagte, wieso denn, um Gottes willen, er braucht nur ein bisschen Schlaf. Maja-Mirjam sagte, wie leicht doch ein Mensch austrocknet, unser Sommer ist gefährlich, zwölf Gläser Wasser am Tag, das ist das Mindeste, was man trinken muss. Kim sagte, ich habe deinen Vater noch nie gesehen, vielleicht hast du überhaupt keinen. Ich bedankte mich bei Maja-Mirjam und sie sagte, gern geschehen, er ist so ein bequemes Kind, bring ihn ruhig vorbei, wann immer es nötig ist.
Ich brachte Nadav zum Kindergarten für Kinder, deren Eltern auch in den beiden Ferienwochen im August niemanden zum Aufpassen für sie hatten. Ich sagte, ich würde mit ihm in den Zoo gehen und ihm ein Eis kaufen und im Zooladen auch ein Plastiktier, aber heute müsse ich den Playknopf ausschalten und schlafen, Amjad war im Laden, und wenn Madonna sich den Kopf nicht mit Wodka vernebelt hatte, war sie früher aufgestanden, und sie würden zusammen die Zeitungen ordnen, ich könnte die Rollläden herunterlassen, das ganze Haus verdunkeln und nachholen, was ich in der Nacht versäumt hatte. Ich stellte den Wecker, damit er mich mittags weckte, zu der Zeit, zu der die Neurologen den Familien antworteten, bis dahin konnte ich ganz ruhig sein, falls die Welt weiter ihre Bahnen zog und die Kontinentalplatten nicht aneinanderstießen, ich konnte die Tür abschließen, Zähne putzen, mich ausziehen, die Rollläden herunterlassen, das Telefon abstellen, nein, nicht abstellen, es musste bereit sein für irgendwelche Katastrophen, die möglicherweise vom Krankenhaus im Süden mitgeteilt würden, oder vom Laden oder dem Kindergarten hier weiter nördlich. Der Mensch kann sich der Schwerkraft seiner Lieben nicht entziehen, auch wenn er es möchte. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Hälfte der Menschheit den ersten Kaffee trank, hob ich meine Beine ins Bett und streckte mich aus, und als ich endlich eine passende Kuhle für meinen Kopf gefunden hatte, blinkte der Nachrichtenmelder am Handy. Ich machte mir keine Sorgen, Katastrophen werden nicht per SMS mitgeteilt, niemand wird dir simsen, dass jemand gestorben ist oder Prügel bekommen hat. Die Nachricht konnte von der Bank kommen, oder es handelte sich um eine Werbeaktion der Telefongesellschaft, oder es war ein Rabattangebot von Superpharm. Hab keine Angst, lies die Nachricht, lösche sie, geh schlafen. Andererseits, warum sollte ich mich dieser Technologie unterwerfen und immer erreichbar sein, was war schlecht an der Stille, bevor sie die elektronischen Heuschrecken erfunden haben. Ich zog mir die Sommerdecke über den Kopf, um eine Trennung zwischen mir und der geschäftigen Welt herzustellen und endlich zu schlafen. Wenn etwas Schlimmes passiert, werden die Türpfosten beben, und die Bewegung wird mich wach rütteln. Ich schloss die Augen, aber die Nachricht blinkte in meinem Unterbewusstsein weiter wie ein Flugzeug, das seine Landung ankündigt. Ich trat die Decke von mir, ich werde die Nachricht lesen und löschen, Schluss damit, ich nahm den Apparat vom Nachttisch und legte ihn sofort wütend wieder zurück, nein. Telefonanbieter und Superpharm oder andere elektronische Büros sollten nicht in mein Leben eindringen. Wieder zog ich mir die Decke über den Kopf, schloss die Augen und murmelte mein Mantra zur Entspannung, vom Meditations-Workshop, let’s go, let’s go … Aber das Flackern des runden Auges hörte nicht auf. Ich gab nach. Du kannst sie nicht besiegen, befreunde dich mit ihnen. »Ich brauche Ihre Hilfe. Amos«, stand auf dem Display.
Amos? Amos? Wer war Amos? Amos! An was ich mich erinnerte, war eine Wirbelsäule, die einen Schlag vom Leben bekommen hatte und erstarrt war. Sein Gesicht hatte ich nicht wirklich gesehen, auch seine Hände nicht, und jetzt würde ich auf jeden Fall schlafen, was konnte er von mir wollen? Dass ich den Staub vom Grab fegte? Dass ich den Grabstein mit Wasser kühlte? Er hatte seine Angelegenheit mit dem Leben hier erledigt, und die Angelegenheit der Toten konnte warten. Ich machte das Telefon aus, zog die Decke über meine kurz geschnittenen Haare, und eine Sekunde später wusste ich nichts mehr. Der Wecker klingelte zum Zeitpunkt, an dem man in der Neurologie die Fragen der Familie beantwortet.
Ich rief an. Der Arzt war so kurz angebunden, dass ich ihn festnageln musste, um ihn zurückzuhalten. Was vermuten Sie, was er hat? Welche Untersuchungen …
»Verstehen Sie, ich sage Ihnen noch einmal, wir wissen es noch nicht, Ihr Mann hat Tabletten geschluckt und kam dehydriert hier an. Das sind die Fakten, ja? Wir wissen nicht, ob es einen psychiatrischen Hintergrund gibt, ob er vorher dehydriert war und dann die Tabletten schluckte, Sie müssen geduldig sein.«
»Es gibt keinen psychiatrischen Hintergrund, Doktor, er war Offizier beim Militär, er ist ein erfolgreicher Rechtsanwalt, er …«
»Meine Dame, es ist schade um unsere Zeit, ich sage Ihnen noch einmal, wir werden mehr wissen, sobald wir alle Untersuchungsergebnisse haben.«
»Seine Beurteilung bei der Armee war absolute Spitze, sowohl physisch als auch psychisch, Doktor, woher soll das Psychiatrische kommen …«
»Zum dritten Mal, meine Dame, es gibt noch keine Diagnose. Ich verstehe Sie ja, aber Sie müssen auch mich verstehen. Es tut mir leid, hier warten noch andere …«
Ich verstand ihn. Er hatte keine Zeit. Und wie sollte er auch? Sieben Jahre hatte er in die Medizin investiert, weitere sechs Jahre als Assistent, so viel Zeit, um zu lernen, was die Funktion des Gehirns störte und was es vernichtet. Dieser Doktor wird nur dann, wenn er krank wird, einen Moment Zeit finden, einen Sonnenuntergang zu betrachten oder mit seinen Kindern Seifenblasen zu machen. Möge er gesund sein, aber was geht mich dieser Doktor an, mir geht es um Gideon, und was Gideon betrifft, wenn die Seele das ist, was ich glaube, dann sollen sie ihn in Ruhe lassen, er ist gesund. Ich kenne ihn. Und wenn ich mich irre, und die Seele besteht aus Blut und Hormonen und elektrischen Impulsen und all dem, sollen sie ihm Chemie geben, die repariert, was kaputtgegangen ist, eine kleine Tablette zweimal am Tag, es kann nicht sein, dass sie nicht etwas Passendes vorrätig haben.
Aber vielleicht ist es trotzdem nicht die Seele, vielleicht haben ihn die vielen Tage, die er bei den Fischen verbracht hat, gelehrt, dass das Leben keinen Sinn hat und ohne Sinn wertlos ist, und deshalb hat er Tabletten geschluckt, um die Zeit abzukürzen. Der Sinn des Lebens, hat irgendjemand eine Ahnung, was das ist? Am liebsten hätte ich ein Fenster aufgemacht und laut geschrien, hallo, kennt jemand den Sinn des Lebens? Aber wenn ich es aufmache, wird nur der Alte zu seinem Fenster kommen und sagen, der Sinn des Lebens ist die Sehnsucht nach den Toten. Als ich an den Alten dachte, fiel mir Amos ein.
Ich schickte ihm eine SMS: »Womit kann ich Ihnen helfen?« Ich schaute aus dem Fenster und sah, dass der Tag seinen Höhepunkt schon erreicht hatte, die Sonne hatte unsere Hauptstraße überquert und bewegte sich jetzt zur anderen Seite, im Kindergarten des Jungen aßen sie schon das Mittagsbrötchen und tranken Kakao aus der Tüte.
Eine Minute verging, da rief Amos an und bat mich, wenn es mir nichts ausmache, kurz auf dem Friedhof vorbeizuschauen und herauszufinden, ob Chagi Besuch bekommen hatte, ob jemand dort einen Gegenstand oder ein Zeichen hinterlassen hatte.
Ich hätte alle Kraft zusammennehmen und mich der Stimme verweigern sollen, die zu jenen gehörte, denen man fast automatisch gehorcht. Ich wollte sagen, hören Sie, ich habe einen Mann im Krankenhaus, auf der Neurologie, der fast in derselben Lage gewesen wäre wie Ihr Sohn, ich habe ein Lebensmittelgeschäft und keine Ahnung, ob man dort nicht Wodka klaut, ich habe einen Jungen, dem seine Eltern fehlen, ich habe genug am Hals. Ich wollte ihn fragen, was es ihm bringe, wenn ich nach Besuchen von Verwandten am Grab spionierte. Ich sagte nichts, ich fragte nichts, ich tat, was er von mir wollte. Manchmal zerreißt dir das Weinen eines Säuglings das Herz, und manchmal das »Tun Sie mir einen Gefallen, können Sie nicht …«
Ich rief ihn vom Friedhof aus an. »Jemand hat eine Vase mit fünfzehn Teerosen hingestellt. Außerdem hat Ihr Vater einen Zettel mit einer Telefonnummer unter einen Kiefernzapfen gelegt.«
»Sie war also da«, sagte er und bat mich, ihm die Rosen zu beschreiben, und seine Stimme kam so tief aus dem Abgrund, dass ich für ihn die Blätter jeder einzelnen Rose gezählt hätte, wenn er es gewollt hätte.
»Man sieht, dass jede Blüte einzeln ausgesucht ist«, sagte ich. »Die Rosen stehen aufrecht im Wasser, sie öffnen sich nicht, sie sehen aus, als würden sie mit geschlossenen Knospen verwelken.«
»Ja, sie versteht es, auszusuchen«, sagte er und wollte gar nicht wissen, wann die Rosen vermutlich verwelken würden.
»Ihr Vater hat eine Telefonnummer hiergelassen, er möchte wohl, dass jemand sie benutzt, ganz bestimmt nicht sein Enkel …«
Plötzlich musste ich weinen, der Sinn des Lebens steckte in den leeren Schuppen des Kiefernzapfens, den der Alte auf das Grab gelegt hatte. Er war kleiner als eine Faust, dieser Kiefernzapfen, und sein Sinn passte leicht in seinen Hohlraum. Das war’s. Das war der ganze Sinn des Lebens, ein Kiefernzapfen, eine Faust, Samenkörner, die vom Wind davongetragen werden, und Brot und Wein und eine Blase am großen Zeh und eine Blase für Urin, alles hat seinen Moment, der ihm Sinn verleiht, und wer einen grundsätzlichen Sinn sucht, der für alles gilt, soll suchen.
»Was den Alten betrifft, habe ich noch eine Bitte.«
Ich schwieg und verschluckte die Reste des Weinens.
»Hallo, sind Sie noch da?«
Wind pfiff in seine Worte. Er lebte ja auf irgendeinem Bergrücken im Norden, dort bliesen kräftige Winde und beeinflussten die kalten Gemüter der Menschen.
»Ja, ich bin da«, sagte ich und setzte mich auf das Grab wie eine trauernde Mutter, zwei Reihen von mir entfernt beschnitt ein Friedhofsarbeiter ein Zierspargelgestrüpp. Er bemerkte mich, hielt inne, schien zu denken, was hat die bei dem verloren, ich kenne hier doch alle Toten und ihre lebenden Verwandten, er schaute mich an, dann bewegte er wieder die Schere und setzte seine Arbeit fort.
»Was ist mit dem Alten?«, rutschte es mir schließlich heraus, und der Arbeiter drehte den Kopf zu mir, dann wandte er sich schnell wieder dem Zierspargel zu.
»Die Schuhe von meinem Sohn. Ich will sie haben.«
»Dann müssen Sie mit ihm reden, was habe ich damit zu tun?« Ich zog eine gelbliche Rose aus der Vase und erschrak, man hatte sie einem Toten gebracht, nicht mir. Ich verstand nicht, warum ich den Launen eines Fremden, mit dem ich nichts zu tun hatte, gestattet hatte, mich mitten am Tag zum Friedhof zu schicken.
Ich erhob mich von dem Stein. »Hören Sie, das geht mich nichts an.«
»Wenn ich mit ihm spreche, wird er auf stur schalten.« Seine Stimme wurde vom Wind zerrieben, er hob sie und sagte, nur ein Fremder könne seinem Vater die Schuhe abluchsen, und auch das sei zweifelhaft, aber er wolle diese Schuhe unbedingt bekommen, egal wie, wenn nicht im Guten, dann im Bösen. »Sie sind die Einzige, die mit ihm sprechen kann, außer Schoschana, meiner Schwester, aber für Schoschana ist es schon schwer genug, auch ohne das.«
»Einen Moment, und mir ist es nicht schwer? Was wissen Sie überhaupt von mir?«
Die Schere hörte auf, sich zu öffnen und zu schließen, der Arbeiter sagte: »Ein bisschen mehr Ehre, bitte, ein Friedhof ist kein Platz zum Streiten.« Er hatte recht, die hier lagen, hatten ihre Streitereien schon beendet, sie hatten sich zurückgezogen. Ich schämte mich, ich bedeutete ihm mit der Hand, dass er recht hatte und ich mich entschuldigte.
»Ich weiß wirklich nichts über Sie«, sagte der Sohn des Alten.
Ich machte das Telefon aus, wegen der Ehre des toten Jungen und wegen des lebenden Arbeiters, verließ den Friedhof und machte das Telefon wieder an, aber dieser Amos war schon nicht mehr da, vielleicht war er von dort auf dem Bergrücken in ein Café gegangen und überlegte bereits, wie er sich die Schuhe seines Sohnes aus der Festung seines Vaters beschaffen konnte. Fünf Jahre hatte er mit dem Jungen gelebt und zehn Jahre ohne ihn, und jetzt war er in der Stimmung, dass ihm alles egal war, und danach kam der Wahnsinn, und dann war der Himmel die Grenze, wie man so sagt. Er trinkt Kaffee und plant den Angriff auf die Schuhe, er nimmt eine der Papierservietten und notiert die Zufahrten, die Tarnungsmittel, die Fluchtwege …
»Es wird alles gut«, sagte ich, ohne zu wissen, warum und zu wem, und ging den Feldweg hinauf zum Dorf. Mein Bruder Jonathan und seine Frau kamen überraschenderweise im Laden vorbei. Er war noch keine dreißig und hatte schon einzelne graue Haare, ihre schweren, honigfarbenen Haare waren von einem Kopftuch bedeckt.
Sie betrachteten Madonna und fragten im Chor, wer ist das?
»Ich arbeite hier. Und wer seid ihr?«, antwortete Madonna von einer Leiter herab und warf Schachteln mit Frühstücksflocken auf den Boden, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. Ihre schwarz angemalten Augen blickten forschend, suchten nach irgendwelchen Anzeichen, wer die Besucher geschickt hatte, das Finanzamt, die Polizei, das Sozialamt, das Jugendamt …
»Das sind ihr Bruder und seine Frau, mach ihnen einen Kaffee«, sagte Amjad und kam hinter der Theke hervor und brachte Schemel aus dem Lager und eine Holzkiste als Tisch, damit wir zu dritt daran sitzen konnten. »Mach schon«, sagte er, und Madonnas dünne Gliedmaßen wanden sich, geschmeidig wie eine Katze kam sie die Leiter herunter, verschwand im Lager und kam mit dem Deckel eines Olivenfasses wieder, darauf drei Tassen Kaffee, die sie übertrieben theatralisch hinstellte, die schwarz angemalten Lippen zu einem Lachen verzogen, als wollte sie sagen, mach dir nichts draus, dass du sie bedienst, sie werden in diesem armseligen Laden stecken bleiben, aber nicht einmal Gott weiß, wohin du es noch schaffen wirst.
»Du hast Fromme in der Familie? Was für eine unglaubliche Geschichte, er sieht überhaupt nicht aus, als wäre er dein Bruder.« Sie ging zurück zur Leiter, betrachtete uns von dort und machte sich wieder daran, die Frühstücksflocken zu sortieren. Ihr kleines T-Shirt rutschte mit ihren Händen, die sich auf dem obersten Fach zu schaffen machten, nach oben und gab den Blick auf ihre schmalen Hüften frei.
Jonathan wandte den Blick von ihr und fragte: »Was ist los, Schwester?« Tamars Augen folgten den Armen, die sich mit bedachtsamer Akrobatik bewegten. Ich berichtete ihnen von dem Königreich, das mein Mann suchte, und von den Eselinnen, die er gefunden hatte. Ich erzählte alles. Von den Fischen, dem Schweigen, den abgemagerten Armen, den Migräneanfällen, dem Koma, den Tabletten, dem Krankenhaus. Ich ließ nichts aus. Amjad entfernte sich, um nicht zuzuhören, und Madonna konnte es von ihrem Platz aus nicht hören, auch wenn sie es gewollt hätte. Jonathan schwieg, als ginge es um einen Toten, von dem man erzählt, was er in seinen letzten Stunden getan hatte. Ein jugendlicher Kopf tauchte in der Ladentür auf und rief herein: »Madonna, kannst du einen Moment kommen?«
»Was ist? Siehst du nicht, dass ich arbeite?«, rief sie zurück. Eine Frau und zwei Kinder traten ein, hinter ihnen ein Arbeiter von der Müllabfuhr, und die kleine Gruppe ging zur Theke. Madonna gab ihnen Brote, Kaugummis, Zigaretten und Käse, Amjad tippte die Preise in die Kasse, die Schublade mit dem Wechselgeld ging auf. Ich schaute zu Jonathan, der unserem Vater immer ähnlicher wurde, ich wollte ihn beruhigen, nach all dem Bedrückenden, das ich ihnen erzählt hatte, ich legte die Hand auf seine Schulter und sagte: »Alles wird gut.« Ich hatte ihn nicht mehr berührt, seit wir zusammen Kissenschlachten veranstaltet und ich seine Schultern auf die Matratze gedrückt und geschrien hatte: »Ergibst du dich oder nicht?«, und er, der sich auf den Kampf gegen die Nazis vorbereitete, schrie: »Ich ergebe mich nicht«, befreite sich, stand auf und griff mich weiter mit Kissen an. Er war seither sehr gewachsen, seine Knochen waren kräftiger geworden, seine Schultern härter, ich wollte ihn daran erinnern, wie ich ihn einmal mit dem dicken Kissen unseres Vaters beworfen hatte, stattdessen sagte ich: »Es wird alles gut«, Worte, die immer im Mund sind, wie Spucke.
»So Gott will«, sagte er und wich meiner Berührung aus.
»Amia, wenn wir dir bei irgendetwas helfen können, musst du es sagen.« Er schaute mich mit den braungünen Augen unseres Vaters an.
Tamar wandte den Blick von der Leiter und betrachtete ihre Sandalen. Sie dachte sich ihren Teil, sagte aber kein Wort. Erst als sie aufstanden, um zu gehen, fragte sie: »Sehen wir euch bei uns an Neujahr?«
Ich begleitete sie hinaus, ich sagte mir, ich würde bis zur Bushaltestelle mit ihnen gehen und warten, bis sie einstiegen, ich würde Jonathans Schulter noch einmal heimlich berühren, aber statt zur Bushaltestelle zu gehen, blieben sie neben einem alten Mitsubishi stehen und Jonathan sagte: »Das ist unserer.« Er drückte auf den automatischen Türöffner und vier Lichter antworteten ihm. Ein Aufkleber auf der Rückscheibe verkündete, dass wir uns auf nichts verlassen könnten, außer auf unseren Vater im Himmel.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich zu ihren lächelnden Spiegelbildern in der Autoscheibe.
»Es gibt noch etwas Neues. Tamar ist schwanger.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter, und die Scheibe des Mitsubishi spiegelte ein Bild ihrer Verlegenheit wider.
Ich erschrak vor Freude, ich schnappte nach Luft, hatte das Gefühl zu ersticken. Unser Vater im Himmel hatte ihnen geholfen. Endlich hatte Jonathan einen großen Sieg über die Nazis errungen. Los, Sinn des Lebens, erhebe dich aus den Trümmern. Gute Nachrichten erweitern das Herz, sodass mehr Platz für mittelmäßige Nachrichten entsteht. »Nun, sag es ihr schon«, drängte Madonna Amjad, und er senkte den Blick auf die Theke, wurde rot wie ein Kind, das man auffordert, ein Gedicht vorzutragen.
»Soll ich es sagen?« Sie hielt eine Zigarette und ein Feuerzeug in der Hand, ungeduldig, hinauszugehen und zu rauchen.
»Das ist nicht deine Angelegenheit«, sagte er und fuhr mit dem Fingernagel über eine Ritze in dem weichen Holz der Theke.
»Los, es ist mir doch egal.« Sie ging hinaus auf die Straße, zündete sich die Zigarette an und verschwand in der bläulichen Rauchwolke, die sie ausstieß.
»Man hat mir eine Arbeit im Supermarkt angeboten.« Amjad machte eine Kopfbewegung zum Billigmarkt hinüber. »Als stellvertretender Leiter der Gemüseabteilung.« Sein Fingernagel, der durch die Ritze glitt, brach ab und blieb im Holz stecken. Ich wartete, dass er einen abschließenden Seufzer ausstieß, erleichtert, dass er es ausgesprochen hatte, aber er war traurig und versuchte vergeblich, seinen abgebrochenen Nagel aus der Ritze zu fummeln. »Drei Monate Probezeit, Anfangsgehalt viertausend im Monat, danach eine Erhöhung und Überstunden und Krankenversicherung und Vorschuss und all das.«
»Wie haben sie dich entdeckt?«
»Der Ausfahrer der Molkereigesellschaft hat ihnen von mir erzählt. Er kommt jeden Tag erst zu uns und dann zu ihnen.«
»Hast du ihnen eine Antwort gegeben?«
»Ich habe gesagt, dass ich erst mit dir reden werde.«
»Was sagt deine Frau?«
»Dass es nicht gut ist, dir das anzutun, sie sagt, das ist Betrug.«
»Wie macht sie sich?« Ich deutete auf Madonna, die draußen rauchte. »Kann man sich auf sie verlassen?«
»Bis jetzt hat sie, soweit ich gesehen habe, keine Probleme gemacht.« Er wurde jetzt noch röter als vorher. Er war nicht daran gewöhnt, den Charakter anderer Menschen zu beurteilen.
»Was heißt das, sie hat keine Probleme gemacht, schau nach oben, es fehlt eine weitere Flasche Wodka, morgen wird sie mir dafür eine Eidechse oder eine Schildkröte bringen.«
»Sie fehlt nicht. Sie hat die Flasche einem Russen verkauft, und eine Flasche Wein. Sie weiß, wie man mit ihnen spricht.«
»Also, was ist?« Madonna kam zurück, eingehüllt in Zigarettengeruch. »Hast du es ihr gesagt?« Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, richtete sie auf und betrachtete in der Scheibe des Kühlschranks ihr Spiegelbild.
Der Himmel war stumpf geworden, eine Staubwolke hing über der Straße zwischen dem Laden und dem Billigmarkt und wartete auf Wind, um weggeblasen zu werden, oder auf den Tau, der sie schwer genug machen würde, damit sie zu Boden sank. Zwei Kinder kamen herein, stellten sich vor das Regal mit den Süßigkeiten und erwogen, wie viel Gewicht an Glück sie mit der Münze in ihrer Hand kaufen konnten. Madonna empfahl ihnen Überraschungseier, riet von Kaugummi ab, lobte Vanilleeis am Stiel, und dazwischen sagte sie zu Amjad: »Die Entscheidung liegt bei dir, und schlag dir die Sache mit dem Betrug aus dem Kopf.«
Von ihrem Platz vor dem Kaugummifach fragte sie: »Wie viele Kinder hast du, drei? Nur ihnen bist du etwas schuldig. Und deiner Frau und dem Vogel, den ich dir gebracht habe.« Sie wandte sich wieder den Kindern zu, ohne sich darum zu kümmern, welchen Eindruck ihre Worte hinterlassen hatten.
Er wurde lauter. »Das geht dich nichts an.« Die Kinder drehten sich einen Moment lang zu ihm um, dann wandten sie sich wieder der Frage zu, wie viel Glück ihnen Vanilleeis am Stiel im Vergleich zu einem Stück Schokolade bescheren würde, die war blitzschnell aufgegessen. Was hast du, Schokolade, das sind vier Bissen, und aus …
Amjad ergab sich zugunsten seiner Kinder, seiner Frau und des Vogels. Er sagte, er würde bis Monatsende im Laden arbeiten, dann würde er auf die andere Straßenseite umziehen.
Ich müsste mir keine Sorgen machen wegen der Arbeit beim alten Levi, er würde weiterhin zu ihm gehen und sich die Stunden entsprechend der Schicht beim Supermarkt einrichten, so oder so wollte der Alte nichts von ihm, er sagte immer nur, mach das sauber oder das und kauf das oder das ein.
Madonna zog einen schwarzen Lippenstift aus ihrer Tasche, erneuerte die Farbe ihrer Lippen und bereitete sich auf das vor, was noch kommen würde.
»Was ist, arbeitest du ab jetzt jeden Tag hier?«, fragte sie und schaute hinauf zu der Staubwolke, die sich draußen sammelte. »Wow, der Himmel ist verschwunden, das Ende der Welt kommt näher.« Sie verschränkte die Hände, umarmte sich selbst, schützte ihren mageren Körper, ließ dann plötzlich los und rief: »Weißt du, weshalb dein Mieter im Gefängnis gesessen hat?«
»Hat er es dir erzählt?« Amjad riss sich aus seinen Gedanken. »Warst du dort, und hat er dich wirklich reingelassen, nachdem du ihn bestohlen hast?«
»Was für ein Dummkopf du bist. Ich habe nicht gestohlen, ich habe dir doch gesagt, dass ich nur etwas genommen habe. Und ich habe es schon zurückgegeben, ich habe ihm eine weiße Katze gebracht. Die ist mehr wert als hundert Schekel, auch wenn sie hinkt, ein Bein ist zu kurz, er war sofort ganz wild auf sie, kaum dass er sie gesehen hat.«
Zwei junge Leute mit Gel in den Haaren kamen herein. »Hi, wie geht’s? Kannst du jetzt?«, fragten sie Madonna.
»Was soll ich können?« Ihre schwarzen Lippen wurden hart. »Ich arbeite, also haut ab.«
»Was für eine Arbeit?«, fragte der eine lachend und stieß den anderen in die Seite. »Was habe ich dir gesagt? Los, komm, rück eine Marlboro raus.«
Sie warf ihm eine Schachtel hin, er legte einen Geldschein auf die Theke und strich ihn mit dem langen Nagel seines kleinen Fingers glatt. Sie gab ihm das Wechselgeld und knallte die Kassenschublade laut zu.
»Los, komm, ich hab’s dir gesagt. Hab ich es dir nicht gesagt?«
»Du hast es gesagt, was hast du denn.« Sie gingen hinaus und Amjad wandte den Blick von Madonna zu den Rücken, die sich entfernten, dann wieder zu Madonna, wie ein Tennisball, der hin und her springt. Auch sie schaute ihnen hinterher, bis sie in der Dunstwolke verschwunden waren. »Hast du das mit deinem Mieter gehört? Der die Wohnung gemietet hat? Er war Manager von einem Steinbruch, man hat ihn beschuldigt, Sand gestohlen zu haben, und er soll versucht haben, den Wachmann umzubringen. Er hat Berufung eingelegt, und sie haben gesagt, jemand hätte ihn falsch beschuldigt, er wurde freigesprochen. Bestimmt bekommt er jetzt eine Entschädigung vom Staat.«
»Hat er dir das alles erzählt?« Amjad lachte, ein Lachen, das tief unter seinem Zwerchfell gelegen hatte und das er jetzt erst freilassen konnte, nachdem er das Geheimnis mit dem stellvertretenden Leiter der Gemüseabteilung losgeworden war.
»Versteh doch, er weiß nicht, dass ich hundert Schekel genommen habe. Irre, man hat einen Dieb aus ihm gemacht, und er versteht nichts vom Klauen. Er kann noch nicht mal jemandem ein Streichholz wegnehmen. Ein armer Kerl, wegen der falschen Beschuldigung hat ihn seine Frau verlassen, und seine Kinder schämen sich, weil ihr Vater ein Dieb ist, man hat ihm das ganze Leben zerschlagen, nichts hat er mehr, nur die hinkende Katze, die ich ihm gebracht habe.«
»Hast du diesmal auch etwas von ihm genommen?«
»Ich habe dir gesagt, die Katze ist mehr wert als die hundert Schekel, die ich ihm schuldig war, deshalb habe ich die Summe aufgefüllt, ich habe aus seiner Hosentasche im Badezimmer genau so viel genommen, wie die Katze wert ist.«
»Was ist sie wert, sie hinkt.«
»Na und? Geht sie etwa zur Olympiade?«
Amjad lachte befreit. »Sie geht zur Olympiade und bringt Gold, man wird die HaTikwa spielen, und diese, wie heißt sie noch, Livnat, wird aufs Podium springen und der Katze die Ehre erweisen, sie wird die Katze küssen. Ist sie wirklich weiß?«
Madonna lachte, griff sich an ihren flachen Bauch und sagte: »Und ob sie weiß ist, die Katze, wenn sie durch den Schnee geht, wird man sie nicht sehen, leg sie auf einen Stuhl und man wird sie als Kissen ansehen und sich auf sie setzen. Wie komisch.«
Amjad wischte die Theke mit einem Lappen ab und fragte, woher sie all diese Tiere eigentlich hatte, sie betrachtete konzentriert ihre schwarz lackierten Fingernägel und sagte: »Was heißt da, woher, man gibt sie mir.« Dann schwieg sie, und auch er schwieg, und plötzlich waren alle wieder da, wo sie vor der Katze und dem Mieter, den man falsch beschuldigt hatte, gewesen waren, sie stand in der Ladentür, legte die Arme um sich und betrachtete das Ende der Welt, und er stand auf seinem Platz hinter der Theke und betrachtete die Staubwolke, die die andere Straßenseite verdeckte und den Supermarkt verschluckte, als hörte die Welt vor dem Laden auf und als begänne das Weltall direkt hinter den mageren Bäumen der Stadtverwaltung. Die Welt sah aus, als stünde ihr im nächsten Moment ein großes Drama bevor, als wäre Gott auf dem Weg in die Atmosphäre und als wirbelten die Räder seiner Kutsche Staub auf. Vermutlich stand auch der Alte gespannt an seinem Fenster, schaute den Himmel an und wartete. Ich muss ihn warnen, dass er schnell die Schuhe versteckt, denn dieser Amos hat geschworen, wenn es nicht im Guten gehe, dann eben im Bösen. Wenn er in seinem Haus kein Versteck für die Schuhe findet, werde ich ihm meinen Stauboden anbieten. Wer weiß, vielleicht hört er nachts den kleinen Schuhen zu, drückt sie an seine Ohren wie zwei Muscheln und lauscht dem Echo der zerbröckelnden Knochen. Der Staub stand in der Luft, kein Wind trug ihn fort, und wenn er hier schon so dicht war, wie war er dann im Negev? Was sah man aus dem Krankenhausfenster? Vielleicht war das private Ende der Kranken zu vernachlässigen gegen das allgemeine Ende, das sich vor dem Fenster abspielte.
Auch im Kindergarten hatte man alle Schafe in den Stall gebracht, der Hof war leer, die Kinder hatten sich im Haus versammelt, mein Junge saß an einem kleinen Tisch und malte einen Vogel und streute graue Bleistiftpunkte um ihn herum.
»Hast du den Staub gemalt?«
»Wieso Staub. Das sind Körner, ich male dem Vogel etwas zu essen.« Er hob die Augen nicht zu mir, sondern fuhr mit den dichten Bleistiftpunkten fort. »Ist Papa gesund geworden?« Er stach mit der Bleistiftspitze auf das Blatt ein und füllte die Scheune des Vogels.
»Es geht ihm schon besser.«
»Aber ist er gesund?« Er stach in den Vogel und füllte ihn mit Punkten, bohrte mit dem Bleistift Löcher in das Blatt Papier.
»Der Vogel wird durch das Loch wegfliegen.«
»Der Vogel ist schon tot, siehst du das nicht? Wann kommt Papa nach Hause?«
Ich sagte, bald, so Gott will, er müsse sich noch ein bisschen erholen … Der Junge griff nach seinem Brotbeutel, er suchte nach etwas, um sich zu trösten, und fragte, wann Madonna zu uns komme. Wir verließen den Kindergarten, und die Staubwolke ließ ihn vergessen, was er gefragt hatte, er kniff die Augen zu und machte sie wieder auf. »Schau nur, man sieht gar nichts.« Er gab mir die Hand und seine Finger klammerten sich so fest wie möglich an meine.
Der Alte stand nicht an seinem Fenster, sein Rollladen war ganz heruntergelassen, als habe er sich auf Befehl der Stadtverwaltung eingesperrt, die Fenster ohne Rollladen waren geschlossen und verriegelt wie bei einem verlassenen Haus. Der Alte verrammelte sich vor den Zeichen Gottes, verbot dem von seinem Gefährt aufgewirbelten Staub, ins Haus zu dringen. Wodka hatte sich auf der Fußmatte vor der Haustür zusammengerollt, den Kopf auf den angezogenen Pfoten, hatte sich, bis die Gefahr vorbei war, so klein wie möglich gemacht. Als er uns sah, wusste er nicht, was tun vor Freude, er bellte und kugelte sich und folgte uns ins Haus, lief dem Jungen hinterher zur Toilette. Die Dunkelheit senkte sich, und im Haus des Alten wurde kein Licht angemacht. Ich sagte zu dem Jungen: »Herr Levi ist bestimmt eingeschlafen«, und der Junge lachte. »Nur Babys gehen so früh schlafen.« Ein weißer Blitz flammte auf, und heftiger Donner rollte hinter ihm her aus dem Wald, der Junge und der Hund drückten sich an mich, das Licht erlosch für einen Moment, ging wieder an, Blitze und Donner folgten jetzt aufeinander, drängten sich aus den Öffnungen des Himmels, stürzten herunter wie Fallschirmspringer aus einer Flugzeugtür, sanken auf den Wald und auf das Dorf, und Nadav wollte, dass sie aufhörten, und zugleich wollte er, dass sie fortfuhren.
»Der Hausbesitzer ist verrückt geworden«, sagte ich.
»Aber Mama, gerade hast du noch gesagt, er ist eingeschlafen.«
»Ich habe den Besitzer der Welt gemeint, Kind.« Zur Sicherheit gab ich ihm die Hand.
Wodka verkroch sich unter dem Küchentisch und bellte sich die Seele aus dem Leib. Und dann, mit einem Schlag, rissen die Ränder der Wolke auf, die den Himmel verdunkelte, und Regen ergoss sich, eine Überschwemmung aus fernen Orten, eine Überschwemmung, die sich im Ziel und der Adresse geirrt hatte und ein paar Haltestellen zu früh ausgestiegen war. Der Junge erschrak vom Lärm der Welt, vom Wasser, das auf uns niederging, und hielt sich die Ohren zu, der Hund senkte den Kopf, drückte seine Schnauze auf den Boden und zitterte. Wir hatten Elul, die Tage waren nicht furchtbar, Gott schüttelte die Weltkugel, schickte Erinnerungen an alle, die es nötig hatten, eine letzte Warnung vor dem Ausschalten. Stille breitete sich aus, ebenso plötzlich wie der Lärm begonnen hatte. Der Himmel hatte sich mit einem Schlag entleert, und die Erdkugel organisierte sich aufs Neue, Wasser floss aus den Dachrinnen, tropfte, floss in die Gullys. Erst am nächsten Morgen sahen wir die vielen Kiefernzapfen, die durch den Wolkenbruch heruntergerissen worden waren und unseren Hof füllten. Aber am Abend vor jenem Morgen waren wir mit dem Erstaunen des Jungen und mit der Angst des Hundes beschäftigt. »Wenn es weiter so regnet, werden wir wie bei der Sintflut sterben«, sagte Nadav. Ich erinnerte ihn an den Regenbogen und an Gottes Verpflichtung, die er unterschrieben hatte. »Aber das ist lange her, und vielleicht hat er es inzwischen vergessen …« Er drückte die Stirn an die Scheibe des Fensters, das zur Straße ging, und schaute, ob das Wasser schon weg war, ob man die Straße und die Fundamente der Strommasten sah. Ich stand mit ihm am Fenster und sah, dass das Haus des Alten noch dunkel war. Alte Leute haben einen leichten Schlaf, wenn der Lärm der aufbrechenden Wolke ihn nicht geweckt hatte, was würde ihn wecken? Der Junge begleitete mich hinüber, um an seine Tür zu klopfen, Wodka, der noch aufgeregt und verschreckt war, kam, eng an uns gedrückt, ebenfalls mit, klopfte mit den Vorderpfoten gegen die Tür des Alten und zerkratzte sie mit seinen Krallen. Erst klopfte ich nur, dann wurde ich laut, und Nadav ballte die Hände und trommelte dumpfe Schläge, doch es kam keine Antwort. Ich bedeutete den beiden aufzuhören, vielleicht saß der Alte in seinem Bett, wollte gerade aufstehen und tastete mit den Füßen nach seinen Hausschuhen, gleich würden wir seine Schritte Richtung Tür tapsen hören. Aber außer dem Gurgeln des Wassers in den Dachrinnen hörten wir nichts. Unser Klopfen hatte vielleicht den Schlaf unter seinen Lidern erzittern lassen, ihn aber nicht zerrissen, vermutlich döste er noch, wir würden noch einmal kratzen und schlagen, dann würde er bestimmt aufwachen. Aber auch die zweite Runde Lärm weckte, statt des Alten, nur Wodka und stachelte seinen Eifer an, er bellte, stürzte sich auf die Tür und versuchte mit aller Kraft sie zu zerstören.
»Platz, Wodka«, befahl ich, »hör auf mit diesem blödsinnigen Eifer.« Der Mann war nicht zu Hause, oder es war ihm etwas passiert. Wodka gehorchte, er hörte auf und schaute mich an, als wollte er sagen: Und was machen wir jetzt? Er ließ ein schwaches Bellen hören, er hatte wohl verstanden, dass es sinnlos war, er senkte den Kopf und schnüffelte an der Schwelle des Alten. Wir gingen ins Haus zurück, der Junge war aufgeregt wegen allem, was in der letzten Stunde passiert war, der Hund nahm es nicht so ernst, was vorbei war, war vorbei, er zog es vor, draußen zu bleiben und die neuen Gerüche in der Erde zu erschnüffeln, die von der Überschwemmung angespült worden waren.
»Herr Levi hat etwas verpasst, weil er den Wolkenbruch nicht gesehen hat«, sagte Nadav.
Und was, wenn Herr Levi bereits alle Versäumnisse der Welt hinter sich gelassen hatte und in jene Welt gegangen war, in der man nichts verliert und nichts gewinnt? Wen sollte ich anrufen, Schoschana? Nein, sie würde sterben, und was könnte sie von Herzlija aus tun? Sollte ich beim Notruf anrufen? Bei der Polizei? Damit sie kommen und die Tür aufbrechen, vielleicht hatte er ja einen Schlaganfall erlitten und lag da, wo er hingestürzt war, vielleicht einen Herzinfarkt, Eile war geboten, vielleicht hatte er noch etwas zu verlieren und zu gewinnen.
Der Junge wollte, dass wir seinen Vater anriefen und fragten, ob es auch bei ihm einen Wolkenbruch gegeben hatte, doch noch während er sprach, klingelte das Telefon.
»Papa«, schrie Nadav und sprang auf. Ich gab ihm ein Zeichen, sich wieder hinzusetzen.
»Hier spricht Levi. Ich bin nicht zu Hause. Ich komme heute Nacht nicht zurück, also haben Sie ein Auge auf das Haus.«
»Geht es Ihnen gut?« Ich atmete auf, wie bei einer Sirene, die zur Entwarnung heult.
»Was ist das für eine Frage, Sie hören mich doch, oder? Nun, höre ich mich krank an?« Er sagte, das sei alles nur wegen der Panik von diesem Doktor, zu dem er wegen seiner monatlichen Medikamente gegangen sei, der habe ihm ein EKG gemacht und den Papierstreifen betrachtet, der aus der Maschine kam, und einen Krankenwagen für ihn bestellt. Man habe ihn ins Krankenhaus gebracht, er habe ihnen einen Skandal gemacht, damit sie ihn gehen lassen, aber sie seien Kesselflicker, sie würden nicht den Menschen anschauen, sondern nur die Maschinen, sie hätten ihn nicht gefragt und ihn an einen Apparat angeschlossen, der einen ganz verrückt mache. »Was ist das? Was wollen Sie wissen? Welches Krankenhaus? Nun, das Krankenhaus unterhalb vom Dorf, Sie brauchen nur eine Aprikose aus Ihrem Fenster zu werfen und treffen das Krankenhaus …«
Er war gegen seinen Willen ins Krankenhaus gebracht worden und fand in seiner Not auf dem ganzen Erdball nur mich, um es zu erzählen. Obwohl er seine knochigen Schultern gegen die Welt straffte, brauchte auch er eine weiche Berührung. Ein Mensch kann nicht allein leben. Er nicht, Gideon nicht, Madonna nicht, Amos nicht. Amos nicht? Wer hat das gesagt?
Ich ging am nächsten Tag zu ihm, der Mann in der Auskunft des Krankenhauses sagte, er sei auf der zweiten Inneren, die Schwester von der zweiten Inneren sagte: »Sind Sie seine Tochter oder seine Enkelin? Zimmer vier.«
Vorsichtig betrat ich den Raum, als könnte er auf mich schießen.
»Ich bin gekommen, um nach Ihnen zu schauen.«
»Wer bin ich, ein Bild in einer Ausstellung? Was gibt es da zu sehen?« Er zog die Decke über seine Brust, er war nicht rasiert, alt und stoppelig, in einem blauen Pyjama, und bebte vor Zorn, ein gejagtes Wild.
»Wenn Sie schon gekommen sind, dann sagen Sie den Leuten hier, dass Sie meine Tochter sind, schwören Sie ihnen bei Leib und Leben, dass ich immer so war, dass sich mein Zustand nicht verändert hat, sie sollen aufhören, mich zu behelligen, und mich gehen lassen. Was stehen Sie da rum wie … Dort ist ein Stuhl.« Ein säuerlicher Geruch nach Bettwäsche hing im Raum, vier Männer, ans Bett gefesselt, essen, entleeren sich, schwitzen und spucken zwischen ihren Laken. Flimmernde grüne Fäden schlängelten sich über Monitore, zeigten die Tätigkeit schwacher Herzen.
Ich legte eine Tüte mit einer Zahnbürste und Zahnpasta auf seinen Nachttisch, Rasierzeug und einen Kamm, die ich im Krankenhausladen gekauft hatte.
Er betrachtete den Monitor wie Eilmeldungen im Fernsehen, er wusste nicht, was er mit meiner unbedeutenden Geste anfangen sollte, nach Jahren, in denen ihm niemand etwas gebracht hatte.
»Was soll das alles, ich brauche nichts, ich habe nicht vor, hierzubleiben.« Er regte sich über die Tüte auf, über mich und über den Rest der Welt, alle sollten ihn in Ruhe lassen. Die Zunge würde ihm am Gaumen kleben bleiben, wenn er sich bedankte.
»Es passiert nichts, wenn Sie Danke sagen«, sagte ich und überraschte ihn und mich selbst mit diesen Worten, aber er fasste sich als Erster.
»Ich habe um nichts gebeten, und ich brauche nichts.«
»Ich glaube Ihnen nicht. Wir alle brauchen manchmal etwas, Herr Levi.«
Er biss sich auf die Lippe, hielt die Ecken seiner Decke umklammert und brachte keinen Ton heraus, er klopfte gegen seine Schlüsselbeine und seine Rippen, er kämpfte um Beherrschung, strengte sich an, Flüche zurückzuhalten, oder Tränen, das konnte man nicht wissen. Ich hatte Angst, ihn weiter aufzuregen und seine Herztätigkeit noch mehr zu stören. Ich schwieg und wartete auf den richtigen Moment, um aufzustehen und zu gehen, ich wartete darauf, dass eine Schwester hereinkam, um ihm in den Finger zu stechen, dass sie kamen, um die Kranken zu waschen, und mich bitten würden, hinauszugehen, dass die Putzfrau kam, um den Fußboden zu putzen, oder ein Arzt zur Visite, damit mein Besuch ein Ende fände und mir die Zeremonie des Abschieds erspart bliebe. Ich schwieg in der Gesellschaft meines Hausbesitzers, der in seinem Bett lag und die ganze Welt hasste, mich, weil ich gekommen war, und die anderen, weil sie nicht gekommen waren, sein Herz, weil es ihn hier festhielt, den Monitor, der die Wahrheit herausschrie, das Leben, das in einem einzigen Augenblick zerstört worden war, Gottes kalte Schulter.
»Dass Sie ja kein Wort zu Schoschana sagen. Sie soll hier nicht mit ihren Taschen und Töpfen auftauchen und Theater machen.«
Ich stand auf, um zu gehen. »Gute Besserung, Herr Levi.«
»Ich bin nicht krank.« Er ballte die Hände auf dem Laken zu Fäusten und schaute mich an.
»Ihr Junge soll ja nicht ohne Schuhe aus dem Haus gehen, es gibt Schlangen im Hof«, rief er mir nach, als ich schon an der Tür war. »Haben Sie gehört? Nur mit Schuhen …« Außer den Füßen eines Fünfjährigen gab es auf der Welt nichts, was diesen bitteren und ausgedörrten Alten bewegte.
Ob er will oder nicht, der Mensch schafft es nicht allein, und wenn er nichts hat, sucht er sich einen Schnürsenkel und bindet sein Herz daran. Klipp und klar, der Mensch schafft es nicht allein, Levi nicht, Madonna nicht, Amos nicht. Amos nicht? Wer hat das gesagt? Ich blieb stehen, auf dem Weg zu den Fahrstühlen, rief ihn an und ließ ihm keine Zeit, sich zu wundern. »Ihr Vater liegt im Krankenhaus.«
»Na und?«, sagte er mit einer Stimme, die mich niederdrückte, doch diesmal gab ich nicht nach.
»Was heißt da, na und, er ist Ihr Vater, Ihr Vater, der Mann, der Sie gezeugt hat, er ist im Krankenhaus. Wenn er stirbt, werden Sie sich ewig Vorwürfe machen.«
»Die Gefahr besteht nicht. Was hat er?«
»Das Herz.«
»Ach, er besitzt tatsächlich so ein Organ? Gut zu wissen.«
Ich schwieg. Die Aufzugtür öffnete sich, und dumpfe Luft schlug mir entgegen, Menschen strömten heraus und machten sich auf den Weg, jeder zu seinem Nahestehenden, jeder zu seinem Schmerz, der Himmel in dem großen Fenster war blass, von einem durchsichtigen weißen Laken bedeckt. Ich hatte keine Lust, zu predigen, zu diskutieren, zu argumentieren, zu streiten. Eine Frau sagte in ihr Handy: »Na und, dann habe ich eben seinen Morgenmantel vergessen, was ist daran so schlimm? Man gibt ihnen hier Morgenmäntel vom Krankenhaus … Die Frikadellen? Natürlich habe ich sie für ihn dabei … Gott behüte, bis man zu ihnen kommt, können sie siebenmal gestorben sein …« Die Tür ging wieder zu, schloss sich hinter den Menschen, die sich hineingedrängt hatten, bis jeder an seinem Ziel war. Der Aufzug schaffte es, seine Last abzuladen und zurückzukehren, bis er die Stille unterbrach und fragte, in welchem Krankenhaus der Alte sei.
»Unten im Tal, wenn Sie im Dorf eine Aprikose werfen, treffen sie es.«
»Gut, danke«, sagte er und legte auf. Auch wenn es nicht gut ist, sagt man gut. Wenigstens das. Draußen, unter dem weißen Himmel, fand ich Zeit, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, ich rief Gideon an. »Nein, Amiki, komm nicht, tu mir den Gefallen, ich bin todmüde, du würdest den ganzen Weg zurücklegen und mich schlafend vorfinden …«
Ich könnte dich wenigstens berühren, das ist doch auch schon was, oder? Dumme Tränen verwischten den Himmel und spannten ein durchsichtiges Laken über das Krankenhausdach. Sehnsucht packte mich, so schmerzhaft wie Geburtswehen, ein Krampf und ein Druck, der bis zum Herzen ausstrahlte. Mein Mann entglitt mir, während ich mich in fremde Lebensgeschichten hineinziehen ließ. Was gingen mich der Alte und sein Sohn und diese ganze durchgeknallte Familie an. Ich bin nicht von der UNO beauftragt, Probleme zu lösen und Frieden über das Land zu bringen. Ich bin eine Frau, die möchte, dass ihr Mann zu ihr zurückkommt, repariert und restauriert, ganz so, wie er war, vor den Fischen und seiner Sinnsuche. Ich werde zu ihm fahren, ich werde nicht auf ihn hören, ich werde Nadav mitnehmen, wir werden uns vor ihn hinstellen und ihn überzeugen. Es steht ja schon fest, dass die Beine eines Kindes Herzen zerreißen können, diese Medizin hat man bei ihm noch nicht ausprobiert.
»Wir fahren zu Papa«, sagte ich zu dem Jungen.
»Hast du gehört, Wodka, wir fahren zu meinem Papa«, schrie er und zog seine gute Hose und seine Turnschuhe an, kämmte sich, lief hinter mir her vom Zimmer zum Badezimmer, vom Badezimmer zur Küche, wartete neben der Toilette auf mich, wohin fahren wir, ins Krankenhaus oder zu den Fischen? Dürfen Kinder überhaupt hinein? Sieht man dort Leute mit Blut? Was tun wir, wenn es einen Wolkenbruch gibt, wie gestern?
Als wir das Krankenhaus betraten, ließ er meine Hand nicht mehr los, er drückte sich an mich, rieb sich an meinem Oberschenkel, als wir durch Flure gingen, wir stießen uns gegenseitig an und brachten uns gegenseitig zum Stolpern. In der anderen Hand hielt er das zusammengefaltete Bild, das er vom Wolkenbruch gemalt hatte. Bevor wir die Abteilung erreichten, nahm er Verbände in sich auf, Seufzer, Rollstühle, Krücken, und als wir von dort weggingen, achtete er auf nichts mehr, sein Herz war übervoll mit seinem Vater, der ihm ein verhaltenes Lächeln geschenkt hatte, der ihm eine magere Hand entgegengestreckt und ihn nur mit zwei Fingern berührt hatte, der gefragt hatte, wie es ihm gehe, und ihn angeschaut hatte, als er antwortete, und der murmelte, »was du nicht sagst«, und der nicht wirklich zugehört hatte, als er von dem Regenguss erzählte und der Wolke, die aufgebrochen war. Er hatte gesehen, wie meine Hand über den Arm seines Vaters geglitten und auf seiner Schulter liegen geblieben war, und er hatte gehört, wie sein Vater geschimpft hatte: »Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht kommen, ich will nur schlafen, wartet, bis ich genug geschlafen habe, das war keine gute Idee, wirklich nicht …«
Wäre der Junge nicht dabei gewesen, hätte ich ihm eine Schocktherapie verpasst, ich hätte ihm mit aller Kraft ins Gesicht geschlagen. Ich hätte ihn an den mager gewordenen Schultern gepackt und geschüttelt, bis man das Knacken der Knochen und das Knarren der Bettfedern gehört hätte. Eine Schwester kam an die Tür und schaute uns an, blieb stehen, als wäre sie zufällig vorbeigekommen, dann ging sie und eine andere kam, blieb ebenfalls wie gedankenlos stehen, die dritte verstellte sich nicht mehr, sie betrachtete uns lange und sagte dann mitleidig: »Ach, was für einen süßen Sohn er hat.«
»Papa ist müde, gib ihm einen Kuss, und wir gehen.« Ich krümmte meine Zehen und drückte sie gegen die Sohlen. Nadav trat näher zu ihm, spitzte die Lippen und küsste seinen Vater einen Millimeter oberhalb der Wange, bevor er nach meiner Hand griff. Ich legte eine Tüte mit Birnen und Nüssen auf seinen Nachttisch, drei saubere Unterhosen, ein Buch von Georges Simenon und die zusammengefaltete Zeichnung, dann gingen wir.
Nadav plapperte unterwegs über Wolkenbrüche und Raumschiffe und Astronauten und erwähnte mit keinem Wort den Besuch, den wir hinter uns hatten. Wir gingen nicht zum Laden und nicht zum Kindergarten, sondern nach Hause, und weil es noch mitten am Tag war, arbeiteten wir im Garten, jäteten das Unkraut in den Beeten mit den Karotten und Frühlingszwiebeln. Der gestrige Regen hatte Erde von den Beeten geschwemmt, aber die Geschmeidigkeit der jungen Stängel hatte dem Wasser widerstanden. Der Wald hatte den Wolkenbruch genutzt, er erhob sich über dem Garten und füllte ihn mit großen und kleinen Kiefernzapfen, offenen und geschlossenen, grünen und braunen, alles war voller Zapfen. Der Junge machte sich daran, sie zu sammeln und neben der Schaukel aufzuhäufen, er tat, als wären es Asteroiden, die aus dem Weltall hier gelandet waren. Sehr gut, soll er vom Weltall träumen und sich mit dem Krieg der Sterne beschäftigen, nicht mit den Niederlagen auf unserer Erde, nur nicht nachdenken, lieber lärmen, die Dinge laut beim Namen nennen, Gras, Erde, Steine, Karotten, Schlamm, Schuhe, achtundzwanzig, Himmel … Das Gehirn in Ruhe lassen, Unkraut jäten, sammeln, Wicken aufrichten und festbinden, Petersilie ausdünnen, still, sei ruhig, Gehirn, nicht nachdenken.
Nadav rannte im Garten herum, sammelte Kiefernzapfen, und der Hund rannte vor ihm her und sprang in den Haufen, wurde geschimpft, floh und kam wieder.
Der Himmel war blass, hatte sich vom gestrigen Schrecken noch nicht erholt, Raben, in einer Pause zwischen Schreien, hatten sich auf dem Dach des Alten niedergelassen und schauten uns zu, und plötzlich flogen sie auf, alle auf einmal, der Schatten eines Menschen fiel auf das Zwiebelbeet, der Hund bellte und rannte davon, und der Junge erstarrte, in jeder Hand einen Kiefernzapfen.
»Haben Sie einen Schlüssel zu seinem Haus?«, hörte ich Amos fragen.
Ich hatte keinen Schlüssel, und selbst wenn, hätte ich ihn ihm nicht gegeben. Er sollte die Schuhe des toten Jungen nicht bekommen, er sollte dem Alten nicht den Trost seiner Seele stehlen. Ich erhob mich, schüttelte mir den Staub von der Kleidung, rieb eine Hand an der anderen, um die Erde loszuwerden, sah sein Gesicht im scharfen Licht des Nachmittags, und ein Gefühl der Schwäche packte mich.
»Ich habe keinen«, sagte ich und wandte die Augen ab, doch sie kehrten von selbst zu ihm zurück, trafen sich mit seinen und wichen nicht aus.
»Haben Sie ihn besucht?«
Er trat einen Schritt vor, bückte sich zur Petersilie. »Ganz und gar biologisch, nicht wahr? Nein, ich habe ihn nicht besucht.«
»Haben Sie es vor?«
»Mal sehen.« Er zog einen Petersilienstängel heraus, biss ein paar Blätter ab und kaute sie. »Ich zerreiße keine Kinder, nur Petersilie«, sagte er zu Nadav gewandt, der in der Nähe der Schaukel stand, mit Kiefernzapfen in den Händen. »Mach nur, was du machen wolltest, ich tu dir nichts.« Nadav rührte sich nicht. Augen schauten ihn an, wie er sie noch nie gesehen hatte, weder er noch seine Mutter. Tief liegende Augen, verschattet von dichten schwarzen Brauen, Augen, in denen Funken aufleuchteten und wieder erloschen, sie brauchten keine Sonnenbrille, sie hatten einen natürlichen Schatten. Linien wie bei Clint Eastwood zogen sich durch seine Wangen, eine auf jeder Seite, gerade und tief, wie mit einem Messer sorgfältig in die Haut geschnitten.
Ich legte dem Jungen meine schmutzige Hand auf die Schulter. »Sei nicht so schüchtern, Nadav, das ist der Sohn von Herrn Levi.«
Nadav drückte die Zapfen fest an die Brust, schüttelte sich und wandte sich zu dem Haufen neben der Schaukel.
Herr Levis Sohn beugte sich zum Wasserhahn, spülte sich den Mund aus, spuckte Petersilienwasser aus, trank, wusch sich das Gesicht, trocknete sich die Hände an der Hose und sagte: »Gut«, und ging zum Auto, das vor dem Haus des Alten stand.
»Er heißt Amos«, sagte ich zu Nadav, denn ich spürte ein Bedürfnis, seinen Namen auszusprechen. »Hast du gehört? Amos.«
»Bei mir im Kindergarten gibt es auch einen Amos.« Er schaute sich nach Wodka um und rief ihn. Der Hund kam zurück, mit heraushängender feuchter Zunge, leckte meine zitternden Knie.
Der Junge fragte, ob dieser Mann noch einmal kommen würde.
»Ich glaube nicht.«
Insgeheim wusste ich, dass er kommen würde. Entweder wegen seines Vaters oder wegen der Schuhe oder wegen des toten Jungen oder wegen etwas anderem.
Ich hatte recht. Wir waren beim Abendessen, da klopfte Herr Levis Sohn an die Tür, er stand gebeugt im Türrahmen und sagte: »Er soll morgen sehr früh einen Herzkatheter bekommen, jemand von der Familie sollte dabei sein. Können Sie hingehen?«
»Ich gehöre nicht zur Familie, und ich kann sowieso nicht. Möchten Sie etwas Kaltes trinken?«
Auch Schoschana konnte nicht. Sie musste selbst untersucht werden. Eins, zwei, drei, und du bist frei.
Es lohnte sich nicht, in den Norden zu fahren und wiederzukommen, er hatte keinen Schlüssel für das Haus seines Vaters, es blieb ihm nichts anderes übrig. Ich überließ ihm mein Zimmer und schlug für mich das Klappbett am Fuß vom Bett des Jungen auf.
»Du hast gesagt, du glaubst, er würde nicht wiederkommen«, flüsterte Nadav.
»Ich habe mich geirrt.«
»Wieso denn das?«
Er schlief sofort ein. Ich nicht. Ein fremder Mann lag im Nebenzimmer, in meinem Bett, er atmete rhythmisch, er schlief. Nur nicht nachdenken, sei still, Gehirn, morgen ist auch noch ein Tag, still, habe ich gesagt, still, Gehirn …