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»Habe ich schon Sünden, Mama?«, fragte Nadav.
»Noch nicht mal eine Viertelsünde, du bist so unschuldig wie ein Vogel.«
Er hob den Kopf und schaute den Vögeln am Himmel hinterher, dann senkte er ihn und betrachtete einen schnabeltragenden Unschuldigen, der in der Erde pickte, und als wir durch das Tor des Kindergartens traten, sagte er: »Ich rieche Brot.«
Der Kindergarten befand sich nicht weit vom Laden, und der Brotschrank stand nur einen Schritt von der Tür entfernt, der Duft brauchte keine Schritte, er drang mit Leichtigkeit nach allen Seiten. Der Junge hängte seine Tasche an einen Haken, schaute mich an und sagte: »Heute bleibe ich bis vier Uhr hier, nicht wahr?«
Ich küsste ihn mitten auf den Kopf. Sein Kopf war noch frei, und solange unser Verhältnis zum Himmel noch nicht geklärt war, gab es nichts Trennendes zwischen seinen Haaren und dem Himmel. Uns blieb noch ein Jahr, um uns mit der Frage herumzuschlagen, wie weit Gott in seiner Erziehung eine Rolle spielen sollte, und um eine entsprechende Schule für ihn zu finden. Einstweilen waren es die Tage der Sommerferien, und der Kindergarten stand Jungen mit und ohne Kipa offen.
»Ich habe Verwandte bei der Polizei«, sagte er zu dem ersten Mädchen, das ihm entgegenkam.
»Na und? Hab ich auch.«
Er glaubte ihr, und seine Errungenschaft verlor ihr Monopol. Voll Trauer wegen seines unschuldigen Kummers schloss ich die Kindergartentür hinter ihm und ging zum Laden, der früher meinem Vater gehört hatte, nun stand ich an seiner Stelle hinter der Theke und verkaufte Brot aus Korn, das nach seinem Tod angebaut und geerntet worden war.
Um vier Uhr werde ich Nadav vom Kindergarten abholen, ich werde ihm in einem anderen Laden ein Eis kaufen und ihn Karussell fahren lassen. Er wird sich nach Madonna erkundigen, er wird kleine russische Hure sagen, er wird dem Gezwitscher in den Baumwipfeln lauschen, er wird Vögel suchen, die keine Sünde kennen, und mit seinen Schuhen Größe achtundzwanzig Abdrücke auf den Wegen des Kindergartens hinterlassen.
Amjad, mein Angestellter, der seit dem Tag, als wir ins Dorf umgezogen waren, für den Laden zuständig und derjenige war, der morgens die Tür entriegelte und sie abends abschloss, saß auf einer Kiste und aß ein trockenes Brötchen.
»Alles in Ordnung, Amjad?«
Sein Mund bejahte es, seine Augen schwiegen. Im Radio sagten sie: »Hier ist die Stimme Israels aus Jerusalem, es ist acht Uhr. Ein Terrorist versuchte, sich in die Luft zu sprengen …« Er ließ das Brötchen sinken und hörte auf zu kauen, und ich räumte das Brot von gestern weg und machte Platz für das Brot von heute, und inzwischen hörte das Radio auf mit Terroristen und mit dem Wetter und ging zu Liedern über. »Du bist mein Land für immer verloren …«, die Melodie war schön, die Worte waren schön, Jardena Arazi war schön. »Gib mir Zeit, reich mir die Hand …« Ach, Jardena, wo lebst du eigentlich? Den, der dir die Hand gibt, wird man verrückt nennen.
Ich lehnte mich an den Türstock, die Sonne streichelte die Kiste mit den Brötchen, brachte die frische Brotkruste zum Schwitzen. Man müsste sie in den Schatten schieben, bevor das Brot austrocknete, man müsste alles in die Regale räumen, aber meine Beine waren wie festgewurzelt auf der Schwelle und bewegten sich nicht. Noch immer junge und schöne Beine, sie waren bereits zu vielen Orten gelaufen, und jeder Ort hatte sie zu diesem Lebensmittelgeschäft zurückgebracht. Viele tausend Male waren meine Absätze durch die Flure der Universität geklappert, ein erstes Staatsexamen in Volkswirtschaft, ein zweites Staatsexamen in Betriebswirtschaft. Eine große Bank hatte mir einen vielversprechenden Vertrag angeboten, ich befasste mich mit Profitplanungen, man hatte mir ein eigenes Zimmer mit einem Fenster gegeben, und im Fenster ein Stück Himmel, und ich hatte einen Tisch und einen Drehstuhl, ein ansehnliches Jackett und hervorragende Aufstiegsmöglichkeiten. Und dann starb mein Vater, und der Laden stand bereit wie eine heiratsfähige Frau. »Ich nehme ihn«, sagte ich, und alle, die es hörten, fingen an zu lachen. Der Bankdirektor rief mich in sein Büro. »Was ist mit Ihnen? Ein Lebensmittelgeschäft? Eine aussterbende Gattung in der wirtschaftlichen Evolution. Wer kauft heute in einem Lebensmittelgeschäft? Wer verkauft heute in einem Lebensmittelgeschäft? Wo leben Sie denn? Eine Frau, die sich mit rationalem Entscheidungsverhalten beschäftigt, mit der Anwendung in der Spieltheorie, soll ihren guten Job verlassen und in einem Laden Eier und Milch verkaufen?« Der Bankdirektor war bibelfest, er kannte auch einiges von Alterman und Bialik und suchte nach Möglichkeiten, sich zu profilieren. Er richtete sich auf, schob sich die erloschene Pfeife in den Mund und sagte: »Zeigen Sie mir einen vernünftigen Menschen, der seiner Karriere den Rücken kehrt, der sich einfach umdreht und Kekse verkauft.« Er legte vorsichtig und sicher seine Direktorenhand auf meine Schulter und sagte, er hoffe, ich machte nur Spaß und es würde sich noch herausstellen, dass ich die beste Show in der Stadt abzöge, und dann lachte er, erst vorsichtig, dann laut.
Nur Gideon lachte nicht. Der Laden, der sich anbot, fesselte ihn zu einem Zeitpunkt, als er sich schon in der Phase befand: »Wisse, woher du kommst und wohin du gehst.« Zu der Zeit, als er schon nicht mehr darauf achtete, dass sein schwarzer Talar tipptopp war und ihn nachlässig über dem Arm trug, als ihm ein strahlend weißes Hemd und eine korrekte Rasur nicht mehr wichtig waren. »Das Ganze ist ein großes Theater, ich bin nur ein Schauspieler, ich stehe auf der Bühne, und ich mache aus Verbrechern und Dieben, die alte Frauen überfallen haben, unschuldige Lämmer.« Die Zahl der Fälle, die er übernahm, wurde immer weniger. Es fiel ihm schwer, sich auf Beweise und Argumentationen zu konzentrieren, er verließ sich nicht mehr auf sein Gedächtnis und las seine Reden ab, er sagte, er sei nicht mehr konzentriert, sein Kopf sei woanders. Seine Kollegen fragten sich, was aus dem redegewandten, durchsetzungsfähigen und glühenden Verteidiger geworden war. Manchmal hörte er mitten in seiner Tätigkeit auf, stand am Fenster und starrte gespannt auf die Straße, als wäre sie eine Metapher für etwas anderes und als würde sich die Moral von der Geschichte gleich zeigen und eine spannende Einsicht in die Existenz verkünden. Mehr als einmal hatte er zu sich gesagt, los, beweg dich, Gideon, bewege deinen Hintern, mach etwas aus dir. Solche Stimmungen hatten mich erst zermürbt und dann bezaubert.
Allmählich wurde ich gleichgültig und fragte mich, nun, wie geht es weiter? Jeden Tag zog sich der Himmel im rechteckigen Fenster der Bank weiter zusammen und verlor seine blaue Farbe, mein Herz sagte mir, es sei die richtige Zeit, sich dem erstickenden Druck der Karriere zu entziehen. Nun, da ich über dreißig war, gesund und kräftig und neugierig, kam der Laden und bot mir eine Feuerprobe, ermöglichte mir den Kopfsprung ins laue Wasser. Gideon sagte, das Lebensmittelgeschäft sei eine Korrektur, die zu unserer Familie passe, die Hälfte der Familie werde das Brot mit verkopften Luftgeschäften im Dienst der Gerechtigkeit verdienen, und die andere Hälfte mit Brot, mit richtigem, geknetetem, gebackenem Brot, lebendig und warm, aus Mehl, das aus der Erde kommt.
Mein Vater hätte seinen Tod hinausgezögert, wenn er gewusst hätte, dass ich im Laden stehen und seinen Platz einnehmen würde. Der Laden war die Lösung für Holocaust-Überlebende, nicht für Israelis mit Diplom und Karriere. Der Laden hielt ihn aufrecht, bis er eines Morgens aufgab, auf der Schwelle zusammensank und grau wurde wie das Wasser im Fass mit den Salzgurken. Ein Junge kam, um etwas zu kaufen, sah ihn da liegen und schrie: »Herr Jizchak, stehen Sie auf, ich möchte einen Schokokuss.« Eine Frau kam, legte dem Jungen die Hand über die Augen und sagte: »Um Gottes willen, ein Kind braucht solche Dinge nicht zu sehen. Einen Krankenwagen, ruft einen Krankenwagen …«
Wir trauerten, aber wir waren nicht überrascht. Unsere Eltern waren Überlebende, verletzt und mager, sie hatten nichts von dort mitgebracht außer ihrem schwachen, gebrochenen Gott. Ihr Geist war viel älter als ihr Körper, sie ließen die Jahre vergehen, bis sich ihrer beider Einsamkeit zu einer großen Einsamkeit zusammenfügte. Sie bekamen mich und Jonathan und rangen die Hände, wenn wir uns gegen ihre Vergangenheit wehrten und barfuß über den kalten Boden liefen, wenn wir Wasser tranken, nachdem wir Wassermelonen gegessen hatten, wenn wir altes Brot in den Mülleimer warfen und wenn wir sangen: »Lasst die Sonne aufsteigen, den Morgen zu erleuchten.«
Den Sieg über die Nazis feierten sie, als sie bei den Feierlichkeiten anlässlich der Verteilung akademischer Auszeichnungen an der Fakultät auf der Tribüne saßen. Das Zeugnis, das ich in den Händen hielt, war ihre Wiedergutmachung für den Verlust ihrer Eltern und ihrer gestohlenen Jugend. Gut, dass niemand sie lebendig machte und sie nicht sahen, wie ich im Laden Kisten mit Milch und Brot schleppte und daraus mein Auskommen zog, nicht zu viel und nicht zu wenig. Vorläufig reichte es uns. Auch unsere Ersparnisse standen uns zur Verfügung, wir hatten gespart, als Gideon noch die schwarze Robe trug und ich bei der Bank arbeitete. Er konnte monatelang in Gesellschaft seiner Fische schweigen, ohne dass wir hungern mussten, vorausgesetzt, wir handelten vernünftig und setzten das ein, was ich über die Beziehung zwischen Einnahmen und Ausgaben gelernt hatte.
Am Nachmittag kamen mein Bruder Jonathan und seine Frau Tamar am Laden vorbei, auf ihrem Weg von hier nach dort, und das »Hier« und das »Dort« waren voller Gott und schicksalhaft. Jonathan war mager und groß wie unser Vater, Tamar aufrecht wie eine Gerte, nicht klein und nicht groß. Sie fragten, wie es uns ging und ob mir die Sache mit dem Laden nicht zu schwerfalle. Sosehr sie wollten, dass der Laden erhalten blieb, wäre es ihnen im Traum nicht eingefallen, ihn selbst zu übernehmen, und zwar mit Recht. Wie hätten sie einen Laib Brot oder einen Laib Käse schneiden können, während ihnen der geteilte Staat Israel schwer auf dem Herzen lag und sie Fahnen schwenkten und Regierungen in die Knie zwangen, bis sie ihre Wünsche erfüllten.
Als Jonathan sah, wie Amjad Waschpulver im Lager aufräumte, sagte er: »Fehlt es an Arbeitslosen unter unseren eigenen Leuten? Nächstenliebe beginnt zu Hause.«
»Ein leerer Magen tut allen weh, dem Magen ist es egal, was für einen Pass ein Hungernder hat«, fuhr ich ihn an. »Passt euch das nicht? Dann übernehmt das Geschäft doch selbst, von mir aus könnt ihr ihn verpachten, verkaufen, macht einen Laden für Büstenhalter daraus, eine Filiale des Siedlerrats oder was immer ihr wollt.«
Es war nicht der Laden, der mich aufregte, mich bedrückten auch nicht die Armen der Stadt, ich empfand bitteren Neid auf ihre Jugend und ihre Begeisterung, die Welt zu ändern, eine Begeisterung, die ich in Tamars angespanntem Gesicht sah, im Aufleuchten ihrer Augen, in ihrem heiligen Eifer. Ich besaß nichts außer dem Jungen, für den ich mein Leben riskiert hätte. Mein Bruder Jonathan überlegte, was er mir antworten sollte, inzwischen trank er den Kaffee, den ich mit dem elektrischen Kocher für ihn zubereitet hatte, und aß Kekse, Tamar aß und trank nichts, vielleicht musste sie ja für eine Untersuchung nüchtern bleiben. Weil sie das Gefühl hatten, meinen Zorn besänftigen zu müssen, ließen sie das Thema Laden sein und erkundigten sich nach Nadav und Gideon. Tamar sagte: »Nun, hat Gideon schon beschlossen, was er mit sich anfangen will? Pass auf, am Schluss kehrt er noch reumütig zur Religion zurück, oder er wird zum Jünger irgendeines Buddhas.« Als wäre es eine Unterlassung, sich einen Gott aus dem existierenden Fundus anzueignen. Jonathan war vorsichtig, wenn es um die Dinge des Himmels ging, er fragte lediglich: »Nun, hast du dich daran gewöhnt?«
»Ich tue mein Bestes.« Ich erzählte ihnen nichts von dem nächtlichen Ereignis und Madonnas Eindringen in mein Haus, sie hatten sich nach oben gewandt, und warum sollte man die Welt da oben mit den Ungelegenheiten von hier unten behelligen?
Damals, als wir in einem Zimmer schliefen, die Betten im rechten Winkel zueinander, hatte Jonathan sich nach etwas Großem gesehnt. Er wollte groß werden, wachsen, sich dem Mossad anschließen und Nazis jagen. Unsere Mutter sagte, die beste Rache an den Nazis wäre es, rosige Wangen zu haben und nachts acht Stunden zu schlafen. In unserem Viertel gab es keine Nazis, aber Jonathan kniff sich in die Wangen, um sie rosig zu bekommen, und war bereit. Als er groß wurde, schloss er sich statt dem Mossad dem Dienst der Erlösung an. Nun begnügte er sich mit den Schlagzeilen der großen Zeitungen, er versuchte, seine Bemerkung über jüdische Arbeitslose und Arme zu korrigieren, und sagte: »Nun, Schwesterchen, wann sieht man dich mal bei uns?«
Ich ließ nicht locker. »Wollt ihr, dass wir den Laden verkaufen?«
Erschrocken hoben sie den Kopf. »Wieso denn das?«, riefen sie im Chor, als wäre der Laden so etwas wie ein ewiges Licht für unsere Eltern. Die Wohnung hatten sie sofort verkauft, aber der Fortbestand des Ladens war ein Denkmal aus Eiern und Milch.
Tamar zog ihren Ärmel hoch und schaute auf die Uhr. »Wir kommen zu spät, Jonathan.« Er erhob sich, sie verabschiedeten sich hastig und verließen den Laden. Ihre Schritte waren energisch, sie wussten, wohin sie gingen, ich gehörte nicht dazu. Ich war nur drei Jahre älter als sie, trotzdem klaffte zwischen ihnen und mir ein Abgrund. Sie waren fünf Jahre verheiratet und hatten noch keine Kinder. Sie ließen sich behandeln, sie beteten, sie taten alles Notwendige.
Die Sonne verließ den Eingang zum Laden, der Himmel war von einem polierten gläsernen Blau, und während der Himmel höher und das Blau über den Vierteln heller wurde, schnitt ich Würfel aus magerem Käse und packte sie in Frischhaltefolie. Amjad ging hinaus, um sich eine Zigarette anzuzünden, und der bläuliche Rauch mischte sich mit den Abgasen des Subaru, der vor dem Laden hielt. Ein Mann stieg aus und knallte die Tür zu, schaute nach rechts und sah niemanden, schaute nach links, sah einen Araber, stellte fest, dass seine Rettung weder von rechts noch von links kommen würde, betrat den Laden und fragte, wo die Feigenstraße sei, die Adresse eines Reservisten der Pioniere, vielleicht würde ich ihn zufällig kennen, es handle sich um einen gewissen Scha’ul Harnoi.
Das blaue Glas wurde trüb. Scha’ul Harnoi. Ein Mann mit ausgeblichenen Jeans, mit kräftigen Armen und weichen Berührungen. Ein Mann, der mich geliebt hatte, aber nicht genug.
»Du bist schön, Amia«, hatte jener Scha’ul Harnoi gesagt, als wir einmal im Kreuztal spazieren gegangen waren. »Was wird sein, wenn ich mich am Ende an deine Schönheit gewöhne wie an das gewöhnliche, subventionierte Brot?«
»Dann musst du eben auf Kümmelbrot umsteigen«, hatte ich gesagt, war aufgestanden und weggegangen. »Warte einen Moment«, hatte er mir hinterhergeschrien, doch ich hatte nicht gewartet, und seine Sandalen hatten hinter mir auf dem Boden geklappert. Er holte mich ein, ging neben mir, griff nach meinem Zopf und ließ ihn über meine Brust fallen, ich warf ihn wütend wieder über die Schulter. Er legte die Arme um mich. »Komm, mein Kümmelbrot.« Meine Brust wurde gegen seine Rippen gedrückt, und ich sah ein Stück vom siebten Himmel. Eine Nonne beobachtete uns aus dem Fenster des Klosters, bekreuzigte sich und riss den Mund auf, der nie geküsst werden würde. Wir küssten uns danach noch einige Male heftig, aber in seiner Brust klopfte das Herz von Alexander dem Großen, er wollte alle Frauen erobern, alle fremden Gebiete und alle Götter. Ich wollte das Herz eines einfachen Soldaten und verließ ihn, bevor ich für ihn zu einfachem Brot wurde.
»Der Messias kommt nicht, und er ruft auch nicht an«, wurde im Radio gesungen.
»Schalom Chanoch, der Sänger, hat recht«, sagte der Mann, der auf der Suche nach den Adressen von Reservesoldaten war. »Die Lage ist wie das Lied. Kein Gott, kein Messias, nur Anschläge.«
»Ich kenne keinen Scha’ul Harnoi«, sagte ich und gab ihm eine Flasche kaltes Mineralwasser.
»Kennen Sie die Feigenstraße?«
»Im Westen.« Ich beschrieb ihm die große Straße, die sich in schmale Asphaltstreifen teilte, die die Namen der sieben Früchte Israels trugen, »Fahren Sie bis zur Dattelstraße, die mit der Olivenstraße verbunden ist und die Feigenstraße kreuzt.«
»Feigenstraße 9.« Er öffnete das Fenster und schloss es wieder, ließ das Auto an und fuhr los. Die Salzheringe schlugen Wellen im Fass, das Öl in den Flaschen drohte überzulaufen, die Pistazienkerne platzten in ihren Tüten. Amjad hatte die Straße vor dem Laden gekehrt, seine traurigen Beine ragten aus den Hosen, die er bis zu den Knien hochgekrempelt hatte. Er packte die alten Brötchen in eine Tüte, um sie für seine Hühner mitzunehmen.
Feigenstraße 9. Wie bist du vom Himmel gefallen, schöner Morgenstern. Scha’ul Harnoi. Du warst Feuer und Flamme für die Siedlungen in Israel, du hast gesagt, du würdest auf einem der Hügel ein Haus bauen, du würdest mit deinen Füßen den Weg ebnen, der noch nicht geebnet worden war. Und was kam heraus? Feigenstraße 9. Eine Wohnung in Little Boxes, in einem gottverlassenen Viertel am Saum der großen Stadt. Vielleicht hast du ja eine Frau gefunden, an deren Schönheit du dich nicht gewöhnst, und sie hat dir ein Kind oder zwei geboren, und das ganze vereinte Land gilt dir nichts gegen ihre Schönheit, wiegt nicht auf, was du geliebt und ihretwegen verlassen hast.
»Mach mir die Rechnung, Amia.« Eine Frau legte Quark auf die Theke, dazu sechs Eier und stützte ihren runzligen Ellenbogen auf. Nachdem sie ihre Sachen genommen hatte und gegangen war, wartete ich keinen neuen Kunden ab, sondern kümmerte mich darum, dass Nadav nach dem Kindergarten abgeholt wurde, dann nahm ich meine Tasche und die Schlüssel.
Mein Angestellter wunderte sich, weil ich so früh ging. »Bist du krank, oder habt ihr wieder einen Feiertag?«
»Ich habe etwas zu erledigen«, sagte ich, stieg in meinen Mazda und fuhr durch die Stadt, über Straßen und Märkte, ich suchte; aber ich fand ihn nicht, fuhr durch die große Straße, die sich in kleine Straßen teilte, ich fuhr die Dattelstraße entlang, die mit der Olivenstraße verbunden war, bis zur Kreuzung der Feigenstraße. Ich zählte fünf, sieben, neun. Ein vierstöckiges Haus, zwanzig Fenster. Kaum vorstellbar, wie viele Zahnbürsten es in einem Haus mit sechzehn Wohnungen gab. Wie viele Strümpfe, wie viele Knöpfe, wie viele Messer. Die Stimme Israels aus Jerusalem, es ist siebzehn Uhr, Sie hören die Nachrichten … Ein gepanzertes Fahrzeug war im Gazastreifen auf eine Sprengladung gefahren, drei Fahrgäste wurden verletzt, die Familien wurden benachrichtigt.
Ich machte das Radio aus und verließ das Auto. Ein kleines Mädchen saß auf dem Gehweg vor dem Haus 9 und aß ein Stück Kuchen. Die Kleine sah ihm nicht ähnlich. Das hatte nichts zu bedeuten. Ich sah meinem Vater auch nicht ähnlich. Die Kleine leckte sich den Sirup von den Fingern und beachtete mich nicht, als ich die Stufen hinaufstieg und mein Kleid über ihre Wange strich. Sechzehn Briefkästen, volle und leere, verschlossene und aufgebrochene, auf dem Briefkasten Nummer sechs stand der Name: Harnoi. Nicht Familie Harnoi, nicht Scha’ul und Dina oder Schosch oder sonst ein Name von all den Sarahs oder Dalias oder Rinas. Ich hatte keinen leeren Zettel in der Tasche, nur ein Bild, das Nadav gemalt hatte, ich riss den Himmel ab, schrieb meine Telefonnummer darauf und warf das Papier in den Briefkasten. Ein früher Mond stand über dem Haus, und hinter der Stadt verblassten die gelben Berge. Sieben Zahlen hatte ich in den Briefkasten geworfen. Fünf Zahlen hatte meine Mutter auf dem Arm gehabt. Na und? Was hatte das damit zu tun? Es gibt Zahlen und Nummern, es gibt Leute, die zählen, wie viele hinübergehen und wie viele geboren werden. Angenommen, es waren vier Soldaten, die verletzt worden waren, oder auch nur zwei. Noch eine Welt, die zerstört wurde, oder zwei weniger. Na und? Jeden Tag baut der Heilige, gelobt sei er, Welten und zerstört sie. Ich saß in meinem Mazda, dachte an die Zahlen und an die Menschen und beobachtete das Haus. Manche Rollläden waren heruntergelassen, andere nicht, und man konnte nicht wissen, aus welchem er abends den Kopf strecken würde, um sich abzukühlen.
Ich blieb sitzen, bis es dunkel wurde, und kein Kopf wurde in die Nacht geschoben, und kein Scha’ul Harnoi betrat das Treppenhaus oder kam heraus. Ich fuhr davon, holte Nadav ab, und wir fuhren zum Dorf. Der Alte hörte uns und kam zu seinem Fenster, schob seinen Kopf heraus und sagte: »Die Magersüchtige aus Ihrer Familie war hier. Sie ist ums Haus herumgelaufen.«
Ich wurde ungeduldig. »Sonst noch was?«
»Nichts … sie hat einen alten Narren im Fenster gesehen, hat ihm eine Kusshand zugeworfen und ist abgehauen. Was für eine Kleidung, was für ein Gang, widerlich. Ihr Cousin hat sich bei ihrer Erziehung nicht besonders angestrengt.«
»Vermutlich nicht.« Ich zog Nadav hinter mir ins Haus.
»Mama, was hat er gesagt?«
»Nichts, nur Gerede.«
Was war mit ihr, der Magersüchtigen, die zurückgekommen war? War es ein Vorgeschmack auf das, was sie noch mit uns vorhatte? Hatte sie ein Taschenmesser verloren? Ein Feuerzeug? Eine Haarnadel? Nadav aß sein Rührei und sagte »kleine russische Hure«, betont, als wäre es ein Segensspruch.
In den Neun-Uhr-Nachrichten wurde mitgeteilt, dass zwei Soldaten bei dem Anschlag getötet und einer verwundet worden seien. Aus dreien war einer geworden. Nach den Nachrichten riefen wir Gideon an. Nadav erzählte seinem Vater von Madonna und von seinen Turnschuhen Größe siebenundzwanzig, die ihm zu klein seien, sein großer Zeh sei schon rot. Auch ich erzählte ihm von Madonnas Besuch, und nachdem ich ihm beschrieben hatte, wie ich die Nacht verbracht hatte, ging ich auf den Tag über. »Da war ein Reservesoldat, der Adressen von anderen Reservisten kontrollierte, stell dir vor, er hat einen Mann gesucht, der mal in mich verliebt war.«
»Und?«
»Was und, das ist doch erstaunlich, oder? Ausgerechnet mich hat er nach jemandem gefragt, der …«
»Ich verstehe nichts, Amia …«
»Jemand, der vor zehn Jahren …«
»Was? Ich verstehe nichts …«
Gideon wusste von Scha’ul Harnoi, so wie er wusste, dass man mir in der sechsten Klasse die Mandeln rausgenommen und dass ich mit siebzehn den Führerschein gemacht hatte. Die Details aus meiner Vergangenheit wurden in seinem Papierkorb aufbewahrt, für den Fall, dass sie einmal gebraucht würden, wenn ich zum Beispiel einen Verkehrsunfall hätte und die Ärzte der Intensivstation ihn nach einer früheren Operation fragen würden. Er würde sagen, ja, man hat ihr in der sechsten Klasse die Mandeln rausgenommen. Und was ist mit Narkosen? Ja, sie hatte zwei spontane Fehlgeburten. Hatte sie einmal Schwierigkeiten mit dem Herz? Ja, sie hat einmal einen gewissen Scha’ul Harnoi geliebt.
Aber solange alles normal war, gehörte Vergangenes zur Vergangenheit.
Nach dem Gespräch mit Gideon rief mein Bruder Jonathan an und forderte mich auf, am nächsten Tag zu einer Demonstration auf dem Platz zu kommen, denn man dürfe nicht länger schweigen, das Land Israel brauche unsere Unterstützung, es würde es nicht mehr allein schaffen. Als hätten wir kein Land, keine Fahne und keine Hymne, als hätten heute nicht zwei Menschen ihr Leben für das Land gegeben. Was meinte er mit »nicht länger schweigen«? Sollten vier ihr Leben geben? Fünf? Zehn?
Nach Jonathan rief niemand mehr an.
Wir gingen nicht zur Demonstration. Ich hatte Angst, dass fremde, mit Ideologie angefüllte Sohlen auf Nadavs roten Zeh treten könnten. Im Fernsehen wurden Leute gezeigt, die bei der Beerdigung der Soldaten schweigend die Köpfe senkten, und andere, die auf dem Platz die Köpfe reckten und den Himmel mit Geschrei füllten. Nadav fragte, warum die einen weinten und die anderen schrien.
»Wegen Israel, die einen wie die anderen«, sagte ich.
»Mama, woran denkst du?«
»An die neuen Schuhe, die wir dir kaufen.«
»Wie viele Schuhe kriege ich?«
»Ein Paar.«
»Warum denkst du dann so lange nach?«
Er wühlte in meiner Tasche und zog das Bild mit dem abgerissenen Himmel heraus.
»Schau, mein Bild ist kaputt.« Er fragte nicht, wer das getan hatte und warum, als gehörte es zum Leben, dass Dinge abgerissen wurden. Er nahm ein neues Blatt und malte mit kräftigen Farben einen Himmel, und er wusste nicht, dass auf unserem Anrufbeantworter die Nachricht war, der Himmel sei gefunden worden und könne in der Feigenstraße 9 abgeholt werden. Ein Tag verging, ich flocht mir die Haare, trug ein violettes Kleid, Nadav zog seine neuen Schuhe an, dann gingen wir zur Feigenstraße 9, um uns den Himmel abzuholen. Ich klopfte an die Tür der Wohnung 6 und wartete auf die Wirrungen des Schicksals, die in der Tür erscheinen würden. Nadav, der gekommen war, um seinen Himmel abzuholen, betrachtete seine neuen Schuhe und stellte die Füße nebeneinander.
»Die Tür ist offen«, kam eine Stimme aus der Wohnung, und der Junge war gespannt.
Ich atmete tief die Luft des Treppenhauses ein, drückte auf die Klinke, nahm Nadav an der Hand und trat ein.
Scha’ul Harnoi war Scha’ul Harnoi, plus allem, was ein Mensch in zehn Jahren ansammelt und verliert.
»Ich rieche Guaven, Mama«, sagte Nadav.
»Ich bin verblüfft«, sagte der Gastgeber.
»Kann ich ein Glas Wasser haben?«, sagte die Besucherin.
Er ging in die Küche und kam mit einem Tablett zurück, auf dem Gläser mit Wasser und drei gelbe Guaven lagen.
»Kümmelbrot, du bist noch genauso schön wie früher.« Seine Augen musterten mich. »Setzt euch.« Er deutete auf ein altes braunes Sofa, beugte sich vor und nahm die Zeitungen weg, in denen er bis vor kurzem wohl gelesen hatte.
»Ich möchte meinen Himmel«, flüsterte Nadav, nahm eine Guave und biss trotz zweier fehlender Milchzähne in das Fruchtfleisch. Zwischen Scha’ul Harnoi und mir stand ein Abgrund aus Zeit und Glück. Ich hatte gehofft, er sei Schreiner geworden, der schöne Gebrauchsgegenstände herstellte, Schränke, Stühle, Betten. Seine Arme waren stark und fest, geeignet, um an einer Werkbank zu schreinern, zu hobeln und zu sägen. Aber er war Doktor der Politikwissenschaften geworden und hatte auf Gott und das ganze Land Israel verzichtet, die Kipa vom Kopf genommen und Samaria und die Frau verlassen.
»Und was machst du?«
»Ich verkaufe im Lebensmittelladen.«
Nadav machte seinen Zeigefinger mit Spucke nass und wischte einen Tropfen Saft weg, der auf seinen neuen Schuh gefallen war.
»Und ich bin im Kindergarten«, sagte er. »Und ich möchte meinen Himmel.«
Scha’ul Harnoi betrachtete den Jungen, als wäre er eine nicht realisierte Chance, und zog aus seiner Hemdtasche den vom Bild gerissenen Papierstreifen und hielt ihn ihm hin.
»Du hattest eine vollendete Silhouette, ich habe gedacht, du würdest Tänzerin, und stattdessen bist du Verkäuferin geworden«, sagte er.
»Du bist nicht geworden, was ich dachte, und ich nicht, was du dachtest«, sagte ich.
Er betrachtete die getrockneten Regentropfen, die sein Fenster fleckig gemacht hatten, und sagte: »Vor ein paar Jahren, in der Woche nach dem Attentat auf den Ministerpräsidenten, griff ich Gott an und nahm die Kipa vom Kopf. Das hatte nichts mit dem Mord zu tun, es war ein zufälliges Zusammentreffen der Ereignisse. Eine Scheißwoche für den Staatspräsidenten und für den Direktor des Kosmos.« Er lächelte, ich lächelte nicht.
Sein unbedeckter Kopf war schwerer und niedergeschlagener als früher. Früher hatte er ungeduldig die Kipa auf seinen wilden Haaren bewegt, sie war dauernd heruntergerutscht, und er hatte sie wieder festgesteckt. Damals hatte sein Herz durch das Hemd gebrannt. Jetzt bedeckte das Hemd seine Brust und wurde von keiner Glut versengt.
»Was hat dich nach all den Jahren hierhergebracht?«
»Keine Ahnung.«
»Ich habe gehört, dass du richtig gut verheiratet bist. Mit einem angesehenen Anwalt.«
Der Spott, den ich in seinen Augen sah, löschte den letzten Funken Zuneigung, den ich noch in meinem Herzen trug.
»Wenn du glaubst, dass ich aus Berechnung geheiratet habe, irrst du dich sehr. Komm, Junge, wir gehen.« Ich zog Nadav hinter mir her.
»Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt? Er ist sowohl bekannt als auch angesehen, dein Mann, nicht wahr? Was ist, darf man ihn nicht erwähnen? Wenn er so heilig ist, warum bist du dann gekommen? Kannst du mir das erklären?«
»Nein. Komm, Nadav, wir gehen.« Ich hielt Nadavs Hand.
»Das ist das Mindeste, was du mir nach diesem Besuch, den du selbst organisiert hast, schuldig bist.« Er lehnte sich an die Tür und versperrte den Durchgang. Er war nicht dicker geworden seit damals, aber schwerer, die Jahre hatten seine Glieder verdichtet.
»Außer einer mittelmäßigen Guava schulde ich dir nichts.« Wir standen sehr nahe voreinander, ich hätte seine Wimpern zählen können, ich hätte einen Finger auf das unsymmetrische Dreieck seiner Oberlippe legen und die Stoppeln berühren können, die beim Rasieren übrig geblieben waren, aber er drehte das Gesicht zur Tür und machte sie auf, und wir gingen die Treppe hinunter, Nadav vor mir und Scha’ul Harnoi hinter mir.
»Dein Zopf ist blasser geworden«, sagte er, und vor uns war eine Pfütze von Kakao. Er nahm mich am Arm, damit ich nicht ausrutschte, und mein Arm bekam eine Gänsehaut, zitterte einen Moment und beruhigte sich wieder. Wir gingen hinaus, über der Feigenstraße stand der Mond, und sein Licht spiegelte sich in Nadavs glänzenden Schuhspitzen. Ein Geruch nach Regen hing in der Luft, obwohl der Himmel wolkenlos war.
Nadav stieg in den Mazda, schnallte sich an und murmelte: »Kleine russische Hure«, und suchte die Monde, die auf seinen Schuhen erloschen waren.
»Amia, Amia«, sagte Scha’ul Harnoi und verstreute meinen Namen auf der Straße, und was er danach sagte, stammte aus der Brust Alexander des Großen: »Weißt du, Regierungen kommen und gehen, Heere weichen zurück, und ein Mann und eine Frau sind zwei Länder in der Feuerpause.«
»Von mir aus«, sagte ich und stieg ins Auto.
Wir fuhren los, und Scha’ul Harnoi stand auf dem Gehweg vor seinem Haus und hegte die Gedanken eines Politikwissenschaftlers: Der Frieden ist kalt, und das Feuer wird nicht erneuert.
Nadav sagte: »Wie komisch, er hat dich Kümmelbrot genannt. Morgen ist Freitag, morgen fahren wir nach Modi’in, Jonathan hat meine neuen Schuhe noch nicht gesehen.«
Er nahm ein Flanelltuch zum Brilleputzen mit nach Modi’in, um den Staub von seinen neuen Schuhen zu wischen. Am Schabbatnachmittag gingen wir in dem Neubauviertel im Süden der Stadt spazieren, von den noch unbebauten Hügeln kam Wind, der Sand auf Nadavs Schuhe blies. Jonathan sagte zu ihm: »Lass es, das ist Sand vom Lande Israel, gesegnet sind die Schuhe, die mit dieser Erde bedeckt sind.« Bis zum Abend bewahrte er das Tuch in seiner Tasche und beherrschte sich, und als wir zurückkamen, kauerte er sich auf den Boden, wischte sich die Heiligkeit von den Schuhen und erschrak.
»Ich habe schon eine Sünde, Mama.«
»Noch nicht mal eine Viertelsünde, Junge, du bist unschuldig wie ein Vogel.«
Ich machte die Küchentür auf, um den Duft der Kiefern hereinzuholen, und wich zurück. Wie ein schwarz-weißes Zebra saß Madonna auf der Küchenschwelle, mit ausgestreckten Beinen.
»Was machst du hier?«, fuhr ich sie wütend an. Ihr billiges Parfüm erschlug den Duft der Kiefernnadeln.
»Ich habe euch zwanzig Schekel geklaut.« Sie war schwarz und weiß, die Haare schwarz, das Gesicht weiß, der Hals weiß, das Jackett schwarz …
»Bist du gekommen, um das Geld zurückzugeben? Das ist wirklich nett von dir.«
»Nein. Ich möchte noch hundert dazu.« Sie betrachtete mich von unten bis oben.
»Sehe ich etwa aus wie ein Geldautomat oder was?«
»Ich brauche dringend ein Medikament. Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich das Geld zurückzahle.«
Ich ging in die Küche und holte einen Hundertschekelschein. »Hier, nimm und komm nicht wieder. Ich möchte dich nie mehr hier sehen.«
»Warum?« Sie stopfte den Schein in die Innentasche ihres Jacketts und schaute mich an, in jedem ihrer Augen blitzte ein verkleinerter Mond.
»Was heißt warum?«
»Warum willst du mich nie mehr hier sehen?«
»Weil ich keine Sozialstation bin und keine Fürsorgestelle.« Die Worte, die ich sagte, taten mir an den Zähnen weh wie Eis. Sie stand auf, sie schlug sich nicht den Staub aus der Kleidung und strich sie auch nicht glatt, sie ging am Haus entlang zur Vorderseite und betrat die einzige Straße des Dorfes. Mager und kindlich sah sie aus, das Licht der Straßenlaterne fiel auf ihre kurz geschnittenen Haare, jugendlich, sie schob die Hand in ihre Jackentasche, wählte aus ihrem Repertoire für verschiedene Situationen die Rolle einer Katze, bog den Rücken, wölbte den Hintern und lief zum Eingangstor des Dorfes, mit verführerischen Schritten, bereit, anzugreifen, wenn es nötig wäre, gleich würde sie auf der Landstraße sein, sie würde, sobald sie die Scheinwerfer des ersten Autos sah, das aus dem Tal heraufkam, winken und in jedem x-beliebigen Auto verschwinden, dessen Tür geöffnet wurde.
Warum hatte ich sie nicht gefragt, gegen was das Medikament war, das sie nahm. Hundert Schekel reichten für eine Flasche Wodka und zwanzig Zigaretten, eine geringe Spende für das Schwärzen der Lunge und eine Leberschrumpfung. Diese Nacht wurde sauer, die weiße Scheibe des Mondes hatte an Wert verloren. »Shit«, zischte ich und sprühte Spucketröpfchen auf mehr oder weniger die ganze Welt, dann ging ich wieder ins Haus. Hinter dem Rollladen des Alten war ein Rascheln zu hören. Seine neugierigen, vom Star getrübten Pupillen verfolgten uns.
Am nächsten Morgen lugte aus unserem Briefkasten ein grünes Blatt Papier in Spaghettilänge und enthielt eine erhebende Nachricht: »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe.« Der strafende Prophet beherrschte wieder unseren Briefkasten, zwängte das Leiden Hiobs hinein und sagte nichts Neues. Als wüssten wir nicht, dass wir von Frauen geboren und unsere Tage gezählt waren. Und was die Unruhe betraf, so war sie offenbar nicht gleich verteilt. Der Alte zum Beispiel hatte eine ziemlich große Portion erhalten, und sie reichte ihm immer noch nicht.