21. KAPITEL
Die Präsentation
Datum: 14. Februar, 8:06 Uhr
Absender: Grant, Joshua
An: Alle (alle Abteilungen)
Wichtigkeit: Hoch
Re: Fast Love – Dringende Sitzung, Konferenzraum, Erdgeschoss, 9:30 Uhr
 
 
Einen guten Morgen, allerseits!
In der vergangenen Nacht haben sich ein paar wichtige Änderungen an der Fast-Love-Kampagne ergeben, die dem Klienten heute präsentiert wird. Amelie Holden und ich haben eine völlig neue Kampagne ausgearbeitet, eine Kampagne, die uns, wie ich glaube, eine echte Chance geben wird, die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen.
Bitte seid bis spätestens 9:30 Uhr im Konferenzsaal, damit ich euch auf den neuesten Stand bringen kann.
Die Klienten, eine Eva Frey (Marketing Director), Ted Matthews (Financial Director) und Maggie Rose (MD), werden gegen 12:15 Uhr hier eintreffen und zunächst einen kurzen Lunch am Büffet einnehmen. Danach findet die Präsentation statt. Bitte seid so gut und achtet darauf, den Empfangsbereich, die Toiletten und das Stiegenhaus ebenso makellos zu hinterlassen, wie sie im Moment sind. Und wer auf eine Zigarette nach draußen muss, mache dies bitte reichlich vor oder nach unserem Besuch. Ich möchte vermeiden, dass unsere Klienten von einer Horde rauchender, vor dem Eingang herumlungernder Mitarbeiter in Empfang genommen werden. Noch etwas: Wer sich freiwillig gemeldet hat, um bei der Dekorierung des Saals zu helfen, möge bitte nicht später als 10:30 Uhr unten erscheinen. Chloe und Fleur haben die Materialien bereits beisammen, und so wie es sich anhört, scheint es ganz toll zu werden.
Wir sehen uns dann um 9:30 Uhr.
Danke,
Josh
P.S.: Ich wünsche euch allen einen schönen Valentinstag!
 
 
Amelie, die diese E-Mail eine Stunde später las, musste über das Postskript lächeln. Zu ihrer großen Überraschung und zum ersten Mal seit Jahren, hatte sie eine Valentinskarte auf ihrem Schreibtisch vorgefunden. Sie hatte sie nicht gleich aufgemacht, wollte sich das für später aufheben, wenn sie sich ihren Cappuccino geholt hatte. Jetzt, da dies der Fall war, riss sie den Umschlag gespannt auf und zog die Karte heraus.
 
Für Amelie, Creative Queen
In Liebe
?
 
Das war alles. Mehr stand da nicht. Die Handschrift kam ihr nicht bekannt vor, aber Jack konnte sie ja verstellt haben. Sie hatte nichts, womit sie sie hätte vergleichen können – sie hatten einander nie Valentinsgrüße geschickt, auch nicht, als sie noch zusammen waren. Amelie hatte immer heftig über den kommerziellen Aspekt gewettert, und Jack hatte ihr immer vorgeworfen, eine Heuchlerin zu sein, arbeitete sie doch selbst in der Werbeindustrie, und diesen Streit hatten sie Jahr für Jahr mit schöner Regelmäßigkeit ausgetragen.
Vielleicht war die Karte ja von Charlie. Aber nein, das konnte nicht sein. Nicht nach dem, was gestern passiert war. Obwohl es natürlich möglich war, dass er sie vorher zur Post gebracht hatte. Amelie brummte der Schädel von all der Tüftelei; sie war kein Sherlock Holmes. Sie kam zu dem Schluss, dass die Karte aller Wahrscheinlichkeit nach von Jack stammte. Dann war das zwar sicherlich eine nette Geste, doch sie änderte nichts. Sie legte sie beiseite und ging hinunter zur Konferenz.
Als sie eintrat, war Josh gerade dabei, der Belegschaft das neue Konzept zu erörtern. Es wurde größtenteils sehr positiv aufgenommen, doch kam auch Nervosität auf, weil die Änderungen derart knapp erfolgten. Dennoch war man sich einig, dass es die Extramühe wert war. Als Josh Amelie hereinkommen sah, holte er tief Luft und ließ seine Bombe platzen: »Ich weiß, dass normalerweise die Account Manager die Präsentation übernehmen, aber unter diesen speziellen Umständen habe ich entschieden, dass Amelie und ich den Pitch präsentieren werden.«
Amelie war wie vom Donner gerührt. Sie starrte Josh intensiv an und dachte, wie kann er mir das bloß antun? In letzter Minute?
Sicher, sie war kreativ, sehr sogar. Wenn es darum ging, eine gute Idee auszubrüten, eine originelle Schlagzeile, eine Catchphrase – kein Problem, das machte sie gern. Aber sich aufs Podium zu stellen und vor einem Publikum zu sprechen, das aus mehr als fünf Leuten bestand, war schlichtweg unmöglich. Amelie wusste das ganz genau. Sie wusste es, seit sie dieses grässliche Erlebnis bei den Pfadfindern gehabt hatte. Alle Kinder sollten sich einzeln vor die Gruppe hinstellen und ihre Lebensgeschichte erzählen (so viel, wie man in sieben Lebensjahren eben erlebt hat). Amelie, die schrecklich schüchtern war und außerdem dringend aufs Klo musste, nachdem sie einen ganzen Krug Ananas-Orangensaft getrunken hatte, stand auf dem Podium, stammelte etwas Unverständliches und sagte dann: »Ich kann mich nicht an meine Lebensgeschichte erinnern. Ich bin geboren worden, und dann ist nichts Besonderes mehr passiert.« Alle hatten gelacht, gebuht und mit dem Finger auf sie gezeigt, und Amelie war schluchzend zur Toilette gerannt. Seit jenem Tag hatte sie einen Horror davor, öffentlich zu sprechen, in der Schule, auf dem College und auch später am Arbeitsplatz. Sie sagte dann immer, dass es ihr von Geburt an vorherbestimmt gewesen sei, niemals öffentliche Reden zu schwingen: »Du sollst Amelie Holden nicht bitten, vor Publikum zu sprechen. Schreckliche Dinge mögen sonst geschehen, und alles wird enden in Jammern und Wehklagen.«
Sobald Josh fertig war, rannte sie zu ihm hin. »Josh! Ich kann nicht glauben, dass du mich nicht vorher gefragt hast! Tut mir leid, aber vor Publikum sprechen ist für mich das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann. Zwing mich bitte nicht, das zu tun!« Sie schaute ihn flehentlich an; Panik stand in ihren blauen Augen. »Wenn du mich zwingst, mich dort auf die Bühne zu stellen, dann werde ich alles vermasseln. Du hast doch bestimmt den ersten Bridget-Jones-Film gesehen, oder? Diese unerträglich peinliche Szene mit Salman Rushdie? Na, dann vervierfach das mal, und du hast immer noch nicht annähernd begriffen, wie ich mich in solchen Situationen fühle … Im Ernst, ich flehe dich an. Wir werden den Auftrag verlieren, du wirst nichts mehr von mir wissen wollen... ich schwör’s, bei Cupido.«
Josh hatte im Verlauf von Amelies neurotischem Monolog ein Lächeln unterdrücken müssen. »Keine Angst, du schaffst das schon«, sagte er und legte tröstend seine Hand auf ihren Arm.
Amelie schüttelte den Kopf. »Nein, im Ernst, du verstehst das nicht.«
Josh warf einen Blick auf seine Uhr und überlegte einen Moment. »Okay, wie wär’s damit: Ich übernehme die Einleitung und bringe die Sache ins Rollen. Dann kannst du reinspringen, wenn ich dich anschaue und wenn du bereit bist. Und wenn du wirklich das Gefühl hast, es einfach nicht zu können, dann werde ich weitermachen – gib mir einfach ein Zeichen, und ich übernehme. Na, wie hört sich das für dich an?«
Amelie, die nicht pessimistisch sein wollte und außerdem wusste, dass ihr Job nach wie vor auf dem Spiel stand, rang sich ein zögerliches Lächeln ab. Ja, damit konnte sie vielleicht leben. Vielleicht war er doch kein Ungeheuer. »Danke – danke für dein Verständnis.«
»Keine Ursache.« Josh zwinkerte ihr zu, und sie verließen gemeinsam den Raum, um zu den Aufzügen zu gehen. »Wir treffen uns am besten kurz vorher noch auf einen Kaffee, um meine Notizen durchzugehen.«
Als sie an der Rezeption vorbeikamen, sahen sie, dass dort ein kleiner Aufruhr herrschte. Chloe, Fleur und Sally hatten sich aufgeregt schwatzend um einen Riesenstrauß roter Rosen und Gänseblümchen versammelt. Sie strahlten, als sie Amelie auf sich zukommen sahen. Fleur rief: »Amelie, eine Lieferung für dich.«
Amelie ging langsam auf die Gruppe zu und wurde knallrot, als sie den riesigen Blumenstrauß erblickte. »Ach du lieber Gott – die sind doch nicht etwa für mich? So ein Unsinn!« Aber alle nickten, und Chloe reichte ihr die dazugehörige Karte.
»Komm schon... mach sie auf!«, rief Sally zappelig.
»Ja, wir wollen wissen, von wem sie sind!«, piepste auch Chloe. Fleur schaute Josh an, doch dieser mied ihren Blick.
Amelie zuckte ratlos mit den Schultern und riss den Umschlag auf. Josh war ein wenig zurückgeblieben und ging nun langsam auf den Lift zu. Amelie, die sein Weggehen spürte, drehte sich zu ihm um und sah, dass er sie beobachtete. Ihre Blicke begegneten sich kurz, dann schaute sie auf die Karte.
Amelie,
entschuldige, ich war ein Idiot.
Viel Glück für heute und
Hals- und Beinbruch, wie wir Schauspieler sagen!
Ruf mich doch später an!
Einen herzlichen Valentinsgruß von
Charliexxx
»Und?«, fragte Sally ungeduldig. »Sie sind von Jack, oder? Aber selbst wenn, du wirst nicht wieder auf ihn reinfallen, oder?«
»Nein, die sind nicht von ihm«, sagte Amelie tonlos. »Die sind von Charlie.«
»Ach, das ist aber nett!«, rief Chloe, und die anderen beiden schlossen sich mit ähnlich begeisterten Rufen an.
Amelie hörte, wie der Lift sich öffnete, schaute sich um und sah, wie Josh eintrat. Dann wandte sie sich wieder zu den Mädchen um und sagte zerstreut: »Ach, ich weiß nicht, ich finde es schon ein bisschen eigenartig – wir haben uns gestern getrennt und ich dachte, es wäre klar, dass wir uns nie wiedersehen!«
»Ach, ja, ist eigenartig«, sagte Fleur. »Aber trotzdem: immer noch besser unerwünschte Blumen als gar keine!«
047
Zwei Stunden später war Konferenzraum Nummer 1 nicht wiederzuerkennen. Der riesige Konferenztisch in der Mitte war verschwunden, und an seiner Stelle standen sechzehn zierliche Zweiertische im Raum verteilt. Auf jedem Tisch lag ein rotes Tischdeckchen, und darauf standen eine kleine Duftkerze und eine Minivase mit einer einzelnen roten Rose darin. Die Stühle waren alle so positioniert, dass man bequem zur behelfsmäßigen Tribüne hinsehen konnte. Chloe und Fleur tanzten lachend zu den Klängen von Beethovens Appassionata zwischen den Tischen herum, zündeten Kerzen an und verteilten Bewertungskarten und Kulis, die sie eigens zu diesem Zweck hatten drucken lassen. Sie schleppten volle Platten mit Kanapees herbei, die ebenfalls zum Liebesthema passten und platzierten sie auf den Sideboards. Jetzt, eine halbe Stunde vor dem Eintreffen der Fast-Love-Delegierten, war alles bereit.
Vier Stockwerke darüber lief Amelie nervös in ihrem Büro auf und ab und ging im Geiste ihre Ansprache durch. Sie war soeben von dem Treffen mit Josh zurückgekehrt, wo beide ein paar sehr gute Ideen für die Ansprachen beigesteuert hatten. Dennoch war Amelie nach wie vor der Panik nahe und fürchtete, einfach nichts sagen zu können, sobald sie einmal dort oben stand. Sie dachte an Charlie und was er, als professioneller Schauspieler, wohl in solchen Situationen tat. Sie überlegte, ob sie ihn anrufen sollte, verwarf die Idee jedoch wieder. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie überhaupt diese Last-Minute-Idee gehabt hatte – wenn sie das Ganze hätte sein lassen, dann könnte sie sich jetzt entspannen und die Vorstellung hinter einem Glas rosa Champagner versteckt genießen. Stattdessen stand ihr noch diese letzte, grässliche Prüfung bevor – die Präsentation. Sie holte ihren Taschenspiegel hervor und zog ihr Lipgloss und ihre Wimperntusche nach. Sie wollte sich gerade auf den Weg nach unten machen, als ihr Computer piepte: eine E-Mail.
Date: 14. Februar, 11:36
Sender: Natasha.Webster@imaginativeselection.co.uk
To: Holden.Amelie@LGMKLondon.com
Subject: neue Entwicklungen
 
 
Liebe Amelie, ich hoffe, es geht Ihnen gut. Könnten Sie mich eventuell heute oder spätestens morgen anrufen? Es gibt neue Entwicklungen in der Sache, die wir letzte Woche besprochen haben, und ich glaube, ich hätte da etwas, das Sie interessieren könnte.
Mit freundlichen Grüßen,
Natasha
Interessant!, dachte Amelie. Da sie gerne mehr erfahren hätte, klickte sie auf »Antworten« und fing an, eine Antwort zu formulieren. Doch in diesem Moment meldete sich das vernünftige Sechzehntel ihres Ichs und signalisierte, dass dafür möglicherweise keine Zeit mehr war. Wenn sie nicht bald nach unten ginge, würde sie zu spät zur Präsentation kommen. Sie schaltete ihren Monitor aus, erhob sich und warf einen Blick auf den geschäftigen Soho Square hinunter, wo, nach ihrem Geschmack, immer noch viel zu viele Paare Arm in Arm herumschlenderten. Sie strich ihr rotes Wollkleid glatt und wandte sich zum Gehen. Als sie jedoch in den Gang hinaustrat, stieß sie unversehens mit Duncan zusammen, der im selben Moment hatte hereinkommen wollen.
»Oh, Verzeihung!«, rief er.
»Keine Ursache«, antwortete Amelie kühl. Sie fragte sich, wo er auf einmal herkam. Sie hatte ihn den ganzen Vormittag noch nicht gesehen. Aber da sie sich nicht anmerken lassen wollte, dass sie sein Verbleib auch nur im Geringsten interessierte, sagte sie nichts. Mit ihren Augen signalisierte sie ihm, dass er ihr im Weg stand, und er trat auch bereitwillig zur Seite.
Schüchtern sagte er: »Ich weiß, es ist ein bisschen spät, aber viel Glück, Amelie. Ich weiß, wie sehr du es hasst, vor Leuten reden zu müssen, also... ja, ich wünsche dir viel Glück. Ich werde dir die Daumen drücken.«
Amelie schenkte ihm ein kühles Lächeln und sagte: »Danke.« Dann ging sie.
Unten im Empfangsbereich waren Chloe und Fleur eifrig mit dem Beschriften und Verteilen von Namensschildchen beschäftigt. Sie wollten, dass jeder Mitarbeiter sich eines ansteckte, selbst Manuel, der Hausmeister, und Dave vom IT. »Wir müssen eine geeinte Front zeigen! Wir müssen zeigen, dass wir uns mit dem Geist von Fast Love identifizieren!«, rief Chloe, die nach sechswöchiger Tätigkeit in der Agentur nicht nur den Fachjargon, sondern auch den kreativen Irrsinn der Branche verinnerlicht hatte. Als sie Duncan aus dem Lift treten sah, malte sie hastig seinen Namen in großen Blockbuchstaben auf ein Schildchen und ging dann zu ihm hin, um es ihm ans Hemd zu pinnen.
»Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen! Danke!«, sagte Duncan verlegen, aber offensichtlich auch erfreut darüber, so viel Aufmerksamkeit von Chloe zu bekommen. Er lächelte sie an und wollte gerade etwas sagen, als der Türsummer ertönte. Duncan und Chloe traten auseinander und schauten auf die drei Leute, die jenseits der großen Drehtür draußen im Regen standen.
»Das sind sie! Fleur, sie sind da!«
»Schnell, alle Mann!« Chloe hob den Hörer der Gegensprechanlage ab und sprach laut und entschlossen in den Lautsprecher: »Alle Mitarbeiter in den Konferenzsaal. Alle Mitarbeiter sofort in den Konferenzsaal. Der Klient ist hier.«
Emil Myers, Managing Director der Agentur, kam in die Eingangshalle geschlendert. Er war gestern aus Singapur hergeflogen, um bei der Präsentation anwesend zu sein. Er trug einen eleganten, dunkelblauen Anzug und trat zusammen mit Chloe vor, um die Gäste zu begrüßen, die soeben durch die Drehtür kamen. Chloe überreichte jedem lächelnd einen Strauß roter Rosen und zirpte: »Alles Gute zum Valentinstag!«
Eine verlegene Stille trat ein, während derer die drei Gesichter misstrauisch die Blumen musterten und zögernd nickten. Maggie, eine Rothaarige mit Brille, bedankte sich mit einem liebenswürdigen Lächeln. Emil reichte einem nach dem anderen die Hand. »Hallo, Emil Myers, Managing Director der Agentur... oder das ›M‹ in Lewis Gibbs Myers Kirby.«
Maggie, Managing Director von Fast Love, machte den aufgeschlossensten Eindruck. Eva, Marketing Director, war ein wenig jünger und besaß zwar ein charmantes Lächeln, machte jedoch einen verbohrten, dickköpfigen Eindruck. Der Letzte des Trios, Ted, Financial Director, hielt sich im Hintergrund, ein stiller, tiefgründiger Typ, ganz offensichtlich das Gehirn, der Mathematiker des Unternehmens. Er würde sich nur dann »zuschalten«, wenn es ihm gefiel. Bei ihm wüsste man nie, ob er überhaupt zuhörte oder nicht. Emil musterte Ted, der in diesem Moment aus dem Fenster starrte und die Agenturbelegschaft mit keinem Blick zur Kenntnis nahm. »Nun, ich freue mich jedenfalls außerordentlich, Sie alle wiederzusehen«, fügte Emil mit einem strahlenden Lächeln hinzu. »Bitte folgen Sie mir. Hier entlang.«
Er hielt den dreien die Tür zum Konferenzsaal auf und ihre Füße traten auf einen Teppich aus roten Rosenblättern. Erfreut nahmen sie zur Kenntnis, dass der Saal ihnen zu Ehren vollkommen umgestaltet worden war. Erstaunt sahen sich Maggie, Ted und Eva um. Gedämpftes Licht, überall Rosenblätter. Von der Decke hingen rote und lila Tücher und zusammen mit dem Kerzenlicht wirkte das Ganze höchst heimelig und romantisch. Emil wirkte sichtlich beeindruckt, die drei Fast-Love-Vertreter dagegen versuchten, kühle Mienen zu bewahren.
»Hallo, wie geht’s?«, sagte Josh in seinem breiten Australisch. »Herzlich willkommen... ich bin Josh Grant, Creative Director. Und das hier«, sagte er und wies mit einer ausholenden Armbewegung auf die Zweiertische, die mit eifrig schwatzenden und ihre Bewertungskarten bekritzelnden »Pärchen« besetzt waren – »ist der Kreativpool von LGMK. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Rosa Champagner?«
Eva, Maggie und Ted nickten. Josh scherzte, während er ihnen ihre Gläser reichte, dass sie sich gerne überall hinsetzen dürften, sie müssten sich nicht an das strikte Männlein /Weiblein-Regime halten. Maggie und Eva, die von Joshs Charme offenbar beeindruckt waren, lachten herzlich. Eva sagte: »Ach, mir macht das nichts aus. Sind Sie noch zu haben?«
Falls Josh innerlich zusammenzuckte, so ließ er sich das mit keinem Mucks anmerken. Gelassen antwortete er: »Selbstverständlich. Seien Sie mein Gast. Maggie, Sie könnten sich zu Emil setzen, wenn Sie möchten? Wir können ja nach drei Minuten rotieren.«
Man nahm Platz, stieß gläserklingend an und machte sich anschließend bei gedämpftem Licht über das köstliche Büffet her. Um Punkt dreizehn Uhr erklomm Fleur das Podium und läutete laut die Glocke, um zu signalisieren, dass es nun losgehen würde. Amelie hatte dafür gesorgt, dass eine richtige Schulglocke beschafft wurde, um das Ganze so authentisch wie möglich zu gestalten. Sie musste lächeln, als sie die altvertrauten Klänge hörte.
Amelie, die sich am Saalrand herumdrückte, beobachtete nervös wie Fleur die Glocke schwang. In ihrem Magen machten sich mehr und mehr Schmetterlinge breit. Sie sah zu, wie Josh selbstbewusst aufs Podium sprang und wartete, bis es still geworden war. Dann hielt er eine charismatische Einführungsrede, in der er all die Dinge sagte, die sie besprochen hatten. Anschließend bat er Amelie aufs Podium. Langsam und zögernd durchquerte sie den Raum, den Blick nach vorne gerichtet, als ginge es zum Galgen. Gott steh mir bei, betete sie, lass es mich bloß nicht vermasseln. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Nach einem nervösen Blick auf Josh klappte sie ihr iBook auf, sammelte ihre Gedanken und wollte schon loslegen, als sie zu ihrem Schrecken sah, dass der Bildschirm vollkommen schwarz war. Der Computer war noch nicht eingeschaltet! Aber sie hatte ihn doch erst vor ein paar Minuten selbst eingeschaltet, oder? Wo war ihr Powerpointdokument, wenn sie es brauchte? Hatte Fleur etwa an den Tasten rumgespielt? Voller Angst schaute sie sich um, merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Aller Augen waren erwartungsvoll auf sie gerichtet. Wie zum Teufel sollte sie die Zeit überbrücken, bis der Computer hochgefahren war? In einer solchen Situation auch noch zu improvisieren überstieg ihre Fähigkeiten. Das hatte sie schon mit sieben nicht gekonnt und mit sechsundzwanzig war es nicht anders. Aber die Minuten tickten dahin, und alles wartete. Sie presste ein schüchternes »Hallo, allerseits« hervor.
»Ähm... ja. Schön, dass Sie hier sind.«
Was sagte man bloß in einer solchen Situation? Warum, warum war sie bloß keine Rednerin, warum konnte sie sich nicht etwas Witziges einfallen lassen wie andere auch? Sie warf einen hilfesuchenden Blick auf Josh. Dieser versuchte, ihr etwas mit den Augen zu verstehen zu geben, doch als sie nicht kapierte, beugte er sich vor und drückte auf eine Taste. Und wie durch ein Wunder erwachte der Bildschirm zum Leben.
»Hat sich auf Standby geschaltet, das ist alles«, flüsterte er ihr gelassen zu und versuchte, sie mit seinen Augen zu ermuntern, fortzufahren.
Amelie strahlte ihn an, als habe er sie soeben aus einer Skorpiongrube gezogen. Diesem Mann würde sie ihre Kinder schenken, schwor sie sich, schwindlig vor Dankbarkeit. Nie im Leben war sie derart erleichtert gewesen, ein paar Dias zu erblicken. Rasch ordnete sie sie ein wenig, wobei sie sich überdeutlich der unbehaglichen Stille im Saal bewusst war. Sie durfte es nicht länger hinauszögern.
»Tut mir leid, ein kleiner technischer Fehler. Aber jetzt ist alles wieder in Butter.« Sie grinste dümmlich. Wenn sie im Publikum säße, sie hätte jetzt schon genug, dachte sie verzweifelt bei sich. Ihr Herz klopfte so laut und heftig, dass sie unwillkürlich zu Josh hinschaute, um zu sehen, ob er es möglicherweise hörte. Doch er zwinkerte ihr lediglich zu und schenkte ihr sein typisches schiefes Grinsen. Sie spürte, wie ihre Anspannung ein wenig nachließ und stattdessen von einem Gefühl von, ja, beinahe Gelassenheit ersetzt wurde.
Amelie warf einen Blick auf ihre Notizen und begann mit den Worten: »›Love is the answer‹.« Sie hielt inne, merkte, wie sehr sie zitterte und betete, dass die Röte ihrer Wangen nicht zu offensichtlich war. Sie holte tief Luft und versuchte das massive Beben, das sie erschütterte und das hoffentlich nicht von jedem im Saal bemerkt wurde, in den Griff zu kriegen. Eine, wie sie hoffte, ruhige Miene aufsetzend fuhr sie fort: »Das ist, wie wohl jeder weiß, eine Zeile aus einem John-Lennon-Song. Und ich glaube, er hatte nicht ganz Unrecht....« Amelie hielt inne und blickte auf, machte Augenkontakt mit ihrem Publikum, was ihr glücklicherweise noch rechtzeitig eingefallen war. Dann fuhr sie fort: »Ja, man könnte sagen, dass in dieser zunehmend nihilistischen, agnostischen, entfremdeten Welt, in der wir leben, die Liebe unsere neue Religion, unser neues Glaubensbekenntnis geworden ist. Wir alle wollen an die Vorstellung glauben, dass das Schicksal uns unsere einzige wahre Liebe zuführt... oder an Cupido, der nobel seinen Bogen spannt und für uns den perfekten Partner fürs Leben erlegt.« Amelie hielt inne. Sie musste an ihren alten Englischlehrer in der Highschool denken, der ihnen immer eingetrichtert hatte, langsam zu sprechen, wenn man einen Vortrag hielt und nicht durch seine Worte zu galoppieren, als wäre der Teufel hinter einem her. Sie nahm einen Schluck Wasser, blickte auf ihre Notizen und versuchte zu entziffern, was sie sich aufgeschrieben hatte.
»Einige... einige von uns warten ihr ganzes Leben auf diesen einzigen magischen Moment, fragen sich andauernd, was wäre wenn? Beten darum, die Liebe möge kommen, wenn man sie am wenigsten erwartet. Immerhin hat ein anderer Philosoph einmal gesagt« – Amelie hielt inne und dachte mit Schrecken, wie blöd, wie kitschig das klingen würde, was sie jetzt gleich sagen musste. Warum nur war ihr das nicht schon klar geworden, als sie es in ihrem stillen Kämmerlein ausbrütete? Nun, zu spät. Jetzt hieß es: Augen zu und durch.
»›You can’t hurry love... You’ll just have to wait.‹« Amelie brachte den Satz mit einem ironischen Lächeln, und offenbar schien dies zu funktionieren, denn als sie nun aufblickte, war ihr ein Meer lächelnder Gesichter zugewandt. »Und ja, auch Diana Ross hatte nicht ganz Unrecht. Wer wollte ihr auch widersprechen?«
Verhaltenes Gelächter. Amelies Blick schweifte über ihre Kolleginnen und Kollegen, und sie spürte, wie ihre Wangen sich etwas abkühlten, wie sich ein wenig Entspannung in ihr breit machte.
»Nun, ich war ihrer Meinung. Auch ich habe immer geglaubt, dass man schön brav die Hände in den Schoß legen und auf die wahre Liebe warten muss. Die kommt, wenn man es am wenigsten erwartet. Aber das Problem ist, die Zeiten haben sich geändert. Wir leben nun in einer ganz anderen Welt. In einer manisch-hektischen Welt, einer Welt, die vielleicht nicht mehr die Hände im Schoß falten und geduldig darauf warten will, dass Cupido in die Gänge kommt. In einer Web-besessenen, Handy-verrückten, iPod-verliebten Welt, in der, machen wir uns nichts vor, die Leute keine Zeit mehr haben, darauf zu warten, dass sich eine Romanze auf natürlichem Wege entwickelt. Hut ab vor jenen, die es immer noch tun. Aber jenen anderen, jenen vielen, vielen anderen, müssen wir zeigen, dass es jetzt eine einfachere Methode gibt, seine bessere Hälfte zu finden. Eine Methode, die funktioniert; eine sichere, ökonomische, flexible Methode – die obendrein noch Spaß macht!« Amelie hielt inne, nahm einen Schluck Wasser und merkte, dass man ihr nach wie vor gespannt, ja freudig an den Lippen hing.
»Und das ist Speed Dating. Wir bei LGMK glauben, dass es eine geniale Lösung für das wachsende Problem der Isolation zwischen den Menschen darstellt.« Amelie hielt inne, ließ den Blick über ihr Publikum schweifen. »Wer also ist unsere Zielgruppe? Wir wenden uns an jeden Mann und an jede Frau, die wissen, was Einsamkeit ist. Das sind ganz schön viele, was? Und wie erreichen wir eine derart riesige Zielgruppe? Mit den folgenden Ideen, die wir Ihnen zu unserer großen Freude nun vorstellen dürfen.«
Und damit präsentierten Amelie und Josh nun all die visuellen Materialien, die sie zusammengestellt hatten, und begannen, sie zu erläutern. Amelie merkte, dass sie jetzt eigentlich an Josh hätte abgeben sollen, doch war sie mittlerweile so in Fahrt, dass sie nur ungern aufhören wollte. Sie warf Josh einen fragenden Blick zu, und er ermunterte sie mit einem sichtlich beeindruckten Lächeln fortzufahren. Nach einem abschließenden forschenden Blick in seine Augen holte sie tief Luft und sprach weiter.
»Wie jeder weiß, ist das Wichtigste in jeder Zweierbeziehung der Funke, die Chemie. Entweder ist sie da oder sie ist nicht da. Und genau das ist es, was sich beim Speed-Dating so gut testen lässt. Bei keiner anderen Methode funktioniert dies so gut. Weder die altmodische Kontaktanzeige in der Zeitung, noch Burger Dating, noch Dating in the Dark können dies bieten. Und auch nicht das gute alte Blind Date mit einem Unbekannten, das einem Freunde aufzwingen...« Amelie hielt inne und schaute sich um, überrascht darüber, wie lange sie schon redete. Sie konnte es nicht fassen. Es schien tatsächlich, als habe sie ihre alten Ängste überwunden.
»Das tolle am Speed-Dating ist, man kann die, bei denen es nicht ›funkt‹, ganz einfach streichen. Ja, dieser Drei-Minuten-Test macht Sinn, daran besteht kein Zweifel. Wieso seine Zeit damit verschwenden, wochenlang mit einem Unbekannten E-Mails auszutauschen, bevor man sich endlich trifft, nur um dann festzustellen, dass der Funke nicht überspringt? Nun... wir haben beschlossen, diese Einsicht zum Kernstück unserer Kampagne zu machen.«
Amelie begann ihre Arbeiten darzulegen. »Dies lässt sich auf zahlreiche, unterschiedliche Weisen umsetzen, sowohl als TV-Werbespots als auch als Plakataktionen etc. Und so würden wir die Sache starten: mit einem Teaser, einer Direktmailkampagne.«
Amelie deutete auf die große Leinwand in ihrem Rücken, auf der nun das Bild von einer Packung Wunderkerzen und anderen Feuerwerkskörpern erschien. Sie ließ den Leuten einen Moment Zeit, es zu betrachten. Bei näherem Hinsehen erkannte man, dass darauf die Worte »Fast Love.com. Funken garantiert« prangten.
»Wir haben uns vorgestellt, dass man die hier an so viele Haushalte wie möglich verschickt, als Anreiz, als Teaser, um den Leuten die Marke schon einmal ins Bewusstsein zu bringen, bevor es mit der eigentlichen Kampagne losgeht. Das Tolle an dieser Idee ist, dass wir keine leeren Versprechungen machen, denn wenn es beim ersten Mal nicht ›funkt‹, gewährt einem Fast Love die Möglichkeit eines weiteren, kostenlosen Besuchs, so oft, bis es klappt.« Amelie nahm einen Schluck Wasser und fragte sich dabei, wer so verrückt sein könnte, sich die Speed-Dating-Erfahrung mehr als einmal im Leben antun zu wollen, aber diesen Gedanken behielt sie wohlweislich für sich.
»Nun, jedenfalls, danach folgt eine zweite Postaktion – diesmal sollte sie ein paar Dauerkerzen enthalten, von der Sorte, ›die niemals ausgeht‹.« Amelie rief das nächste Bild auf, eine Packung mit besagten Kerzen, auf denen stand: »Fast Love. Für den Funken, der niemals erlischt.« Amelie musste sich auf die Zunge beißen, weil das so kitschig klang, doch wäre es unprofessionell gewesen, sich etwas anmerken zu lassen. Dem Publikum, das grinste und begeistert lachte, schien es jedenfalls zu gefallen, wie Amelie verblüfft vermerkte.
Als Nächstes hielt Josh ein paar Storyboards und Reklameposterentwürfe hoch, die sie auf Pappe geklebt hatten, um sie besser vorführen zu können. Amelie, die nun richtig in Fahrt war, ja, sogar Spaß an der Sache bekam, erläuterte eins nach dem anderen.
»Doch nun zum pièce de résistance«, verkündete Josh und Amelie wurde von einer Adrenalinwelle erfasst. Endlich war es so weit. Endlich würden sie ihre Superidee enthüllen.
»Ja, zum guten Schluss dieses: Wir haben uns gefragt, wie man diese Kampagne am besten starten könnte. The Big Bang. Es muss schon was ganz Besonderes sein. Nun, Ladies und Gentlemen, hier ist unsere Idee.« Amelie grinste zuversichtlich, obwohl der Zynikerin in ihr schon ganz schlecht war von dem Zuckerzeug, das sie von sich gab. Fleur, die bei der Tür stand, schaltete das Licht ab, sodass der Raum nur noch von den winzigen Kerzenflämmchen auf jedem Tisch erhellt wurde. Plötzlich tauchte auf der dunklen Leinwand ein herrlich beleuchtetes Panorama von London auf, die Themse im Vordergrund, Big Ben, St. Paul’s, das London Eye, all die bekannten Wahrzeichen im Hintergrund. Und darüber, auf dem Nachthimmel, entzündete sich mit einem Mal ein Feuerwerk, ein Kaleidoskop buntsprühender Funken.
»Okay – und nun stelle man sich ein Boot vor, das den Fluss rauf- und runterfährt und Flugblätter und herzförmige Luftballons verteilt. Und dann...«
Maggie warf Eva einen gespannten Blick zu. Eva, die ebenfalls hingerissen zu sein schien, gab Ted, dessen Blick gelangweilt ins Leere gerichtet war, einen Stoß mit dem Ellbogen. Ted fuhr erschrocken auf und warf Eva einen bösen Blick zu, wandte dann jedoch brav den Blick zur Leinwand, gerade rechtzeitig, um den Höhepunkt der Präsentation erleben zu können: Die Feuerräder, Raketen und Springbrunnen begannen sich zu Buchstaben zu formen. Kreise wurden zu Cs und Os, Funkenbüschel zu Fs und As und so weiter, bis schließlich in glühenden Lettern am Nachthimmel über London die Worte FAST LOVE.COM prangten.
Es war ein berauschender Anblick. Stille breitete sich im Saal aus, und Amelie sagte mit zugeschnürter Kehle: »Nun … dies ist nur eine digitale Demonstration der Idee und ließe sich natürlich auf jede Stadt Englands, ja der Welt übertragen. Aber ich denke, man kann sehen, wie unvergesslich ein solches Erlebnis wäre, wie unauslöschlich sich die Assoziation, dass man durch Fast Love den Funken in sein Liebesleben zurückbringen kann, ins Bewusstsein der Leute einprägen würde.«
Amelie, die nun auf einmal nicht mehr wusste, was sie noch sagen sollte, hielt inne und holte tief Luft. Sie konnte nicht fassen, dass sie so lange – und so flüssig! – gesprochen hatte. Ihr Blick schweifte über ihre Zuhörer, deren Gesichter allesamt lächelnd auf sie gerichtet waren. Dann schaute sie Josh an und der hatte das breiteste Lächeln von allen auf dem Gesicht.
Er trat näher und dankte Amelie für ihren Vortrag. Dann sprach er ein paar abschließende Worte. Herzlicher Beifall brach aus. Doch es dauerte nicht lange, und eine verlegene Stille trat ein. Es wurde Zeit für die Delegierten, sich zur nächsten Agentur aufzumachen. Maggie, Eva und Ted erhoben sich, bedankten sich bei ihren Gastgebern und entschuldigten sich, denn der nächste Termin dränge bereits. Man würde sich melden. Und damit gingen sie. Aus ihren Mienen war nichts abzulesen.
Wenig später waren Fleur, Duncan und Chloe bereits mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Das Licht wurde wieder angeschaltet, die Vorhänge aufgezogen, Schals und Tücher von der Decke abgenommen. Chloe lief zwischen den Tischen herum und blies alle Kerzen aus, und Duncan ging mit einem Müllbeutel umher, in den er sämtliche Rosen stopfte – bis auf eine, die er behutsam zur Seite legte. Eine nüchterne Stimmung hatte sich breitgemacht, eine Antiklimax, und es dauerte nicht lange und aus dem schummrigen Speed-Dating-Kämmerchen war wieder der kahle Konferenzsaal 1 geworden. »Show’s over«, bemerkte Amelie wie betäubt. Sie war total erschöpft, fühlte sich gleichzeitig jedoch seltsam gestärkt und ermutigt, weil sie nun endlich ihr altes Kindheitstrauma überwunden hatte.
»Du warst unglaublich«, lobte Josh, der hinter ihr aufgetaucht war und ihr nun den Rücken tätschelte. Fleur, die bei der Tür stand, fing seinen Blick ein und bedeutete ihm, dass sie mit ihm reden müsse. Er nickte halbherzig und wandte sich zum Gehen. Dann wiederholte er: »Ganz ehrlich, das war fantastisch, Holden. Besser hätten wir’s wirklich nicht machen können.« Bereits im Gehen, wandte er sich noch einmal zu Amelie um und sagte: »Jetzt können wir nur noch warten.«
Während Josh mit Fleur redete, machte Amelie sich auf den Weg nach oben, in ihr Büro, um ihre E-Mails zu checken. Danach ging sie nach draußen, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Job erledigt, dachte sie zutiefst erleichtert, während sie über den geschäftigen Soho Square ging und sich auf einem Stück Rasen niederließ. Buchstäblich.
Da tauchte Duncan auf, zwei Zigaretten in der Hand, und setzte sich verlegen neben sie. »Hier, eine Zigarette, zum Feiern und damit wir wieder Freunde werden.« Er lächelte unsicher. »Das war einfach fantastisch, Amelie. Echt. Du hättest mal ihre Gesichter sehen sollen. Ich weiß, sie müssen es sich ein bisschen überlegen und die anderen Angebote sichten, aber ich denke, es ist klar, dass du sie mit dieser Präsentation für dich gewonnen hast.«
Amelie schwieg. Ihre Miene war ebenso undurchdringlich wie der Himmel klar. Duncan bemerkte, dass sie nicht wie jemand aussehe, der soeben einen fünfstelligen Pitch gewonnen habe. Sie schüttelte den Kopf und nahm einen Zug von ihrer Zigarette. Duncan musterte sie nachdenklich, begann nervös am Unkraut zu zupfen.
»Am... ich hab mich fürchterlich benommen. Es tut mir so leid. Ich weiß, ich hab dich im Stich gelassen.«
Amelie lächelte rätselhaft. »Das macht überhaupt nichts, Duncan. Ich hab mich auch nicht gerade prinzlich verhalten und müsste mich eigentlich auch entschuldigen... aber du weißt ja, wie mein Temperament manchmal mit mir durchgeht …«
»Ja, ich weiß. Trotzdem, ich hätte dich nicht so im Stich lassen dürfen. Ich war ein fauler Bastard. Oder ein erbärmlicher Feigling – such’s dir aus. Aber dich da oben stehen zu sehen, nach all der zusätzlichen Mühe, die du dir gemacht hast, Gott, ich hab mich so nutzlos gefühlt. Dabei sind wir angeblich Partner …«
»Ehrlich, es macht nichts, Duncan. Ich bin dir nicht böse. Außerdem hab ich’s nicht ganz allein gemacht – Josh hat mir sehr geholfen. Und.... vielleicht kriegen wir den Auftrag, vielleicht auch nicht – aber weißt du was? Es ist mir egal. Ich weiß, noch vor einer Woche hab ich mir nichts sehnlicher gewünscht, aber jetzt – auf einmal hab ich das alles durchschaut, den ganzen Zirkus, die heiße Luft, die Lügen. Ja, was ich da oben gesagt habe, war ein einziger Blödsinn. Ich hab gesagt, was die hören wollten, nicht mehr und nicht weniger. Sicher hat das Speed-Dating auch seine guten Seiten – es kann Leuten aus ihrer Einsamkeit helfen. Nun, Sally zumindest. Aber all das Gewäsch, was ich da von mir gegeben habe, das Theater, mir wird ganz schlecht, wenn ich dran denke.« Amelie schwieg und eine einsame Wolke schob sich vor die Sonne. Sie wickelte sich fester in ihre Jacke.
»Ich hab das alles bloß gesagt, weil das eben zu einer Dreiminutenpräsentation gehört. Eine Art Vorstellung, wie beim Speed-Dating – man gibt eine Vorstellung, um den Interessenten dazu zu bringen, das Produkt zu kaufen. Man verzerrt die Dinge, präsentiert sich in einem gewissen Licht, damit einen die Leute mögen.« Sie sog an ihrer Zigarette und sah Duncan in die Augen. »Das ist es, worum es in der Werbebranche geht, nicht wahr? Und jetzt, wo ich das durchschaut habe, ist mir klar geworden, dass es für mich vorbei ist.«
Duncan schaute Amelie geschockt an, doch diese fuhr fort: »Ich muss was anderes machen, Dunc. Auf zu neuen Ufern. Ich liebe die Ideen und all das. Das wird immer so bleiben. Aber das Spiel mitspielen, nein, das will ich nicht mehr. Ich will was Reales machen, was Echtes, etwas, das mehr Substanz hat.«
Duncan richtete sich erschrocken auf und schaute Amelie panisch an. »Was meinst du? Was für neue Ufer?« Er wollte unbedingt, dass sie sich erklärte, aber in diesem Moment klingelte Amelies Handy. Sie stand auf und ging, den Hörer am Ohr, ein paar Schritte weg.
»Hallo? Ja, ich bin’s selbst... ja.« Sie musste sich anstrengen, um den Anrufer bei dem Verkehrslärm, der am Soho Square tobte, zu hören. »Ich verstehe. Ja... ja... das wäre toll... okay, in Ordnung... ja, bis dann. Danke. Auf Wiedersehen.«
Sie beendete die Verbindung, und in diesem Moment streckte Max den Kopf aus seinem Bürofenster und brüllte zu den beiden hinunter: »He! Amelie, Duncan! Kommt rauf! Das Ergebnis ist da!«