16. KAPITEL
Wie man Teamgeist erzeugt
»Sind das alle?«, rief Fleur Parker-Jones zwei Tage später über die in dem grauen Minibus versammelten Köpfe hinweg, bevor sie sich in Bewegung setzte und, auf eben jene Köpfe tippend, ihre Schäfchen ein zweites Mal durchzählte. Eine Minute später hielt sie inne, schüttelte den Kopf und murmelte: »Hmmm, ich glaube, da fehlt immer noch jemand.« Sie schaute sich um und ihr stechender Blick fiel auf Duncan und auf den freien Platz neben ihm.
Duncan setzte soeben zu einer Erklärung an, als man von draußen einen Ruf hörte, gefolgt von hektischem Schnaufen und dem Klatschen von Füßen.
»Sorry, sorry, sorry, Leute! Bin schon da! Ich war rechtzeitig fertig, ehrlich, aber dann ist mir eingefallen, dass... äh, ja, äh, tut mir leid.« Amelie verstummte angesichts der verständnislos auf sie gerichteten Blicke. Mit hochroten Backen und zerzausten Haaren hievte sie sich samt Gepäck in den Minibus und ließ sich erschöpft neben Duncan plumpsen. »Sorry«, flüsterte sie auch ihm zu.
»Soll ich deine Tasche und deine Jacke auf die Gepäckablage raufheben?«, erbot sich Duncan.
»Ja, danke, das wäre lieb von dir.« Amelie rollte sich auf dem Fenstersitz zusammen. »Also, ich werde jetzt ein bisschen schlafen, bin total fertig.« Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf ans Fenster und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Duncan musterte sie verblüfft – er kannte niemanden, der so auf Knopfdruck einschlafen konnte wie Amelie. Da von dieser Seite keine Unterhaltung zu erwarten war, drehte er sich zu den beiden Sitzen hinter ihm um, wo Sally und Max saßen und Stein, Schere, Papier spielten. Der Minibus fädelte sich in den Verkehr um den Soho Square ein und machte sich auf den Weg zur M40.
Einige Stunden später wurde Amelie durch laute Gesänge von den hinteren Sitzen geweckt. Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass die Dämmerung hereingebrochen war, doch konnte man noch die Umrisse einer hügeligen Landschaft erkennen. Sie wandte sich Duncan zu und fragte, sich den Schlaf aus den Augen reibend: »Sind wir schon da?«
Duncan schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Felder und Weiden hinaus. Soeben passierten sie eine schöne alte Kirche, holperten auf einer schmalen Kopfsteinpflasterstraße durch einen malerischen Ortskern mit alten Läden und Cafés und hielten schließlich vor einem großen, gemütlichen Landgasthaus.
»Scheint so«, antwortete Duncan. In diesem Moment dröhnte auch schon Fleurs Stimme durch den Minibus. »Ich bitte um eure Aufmerksamkeit! Dies ist Wing. Herzlich willkommen in Wing, dem ältesten und charmantesten Städtchen in Nord-Buckinghamshire.«
Übertriebenes Gejohle. Fleur fuhr unbekümmert fort: »Okay, wir gehen jetzt rein und dann werden die Zimmer zugeteilt. Anschließend treffen wir uns zum Essen in der Gaststube.«
Josh nahm Fleur das Mikro aus der Hand und fügte hinzu: »Und danach gehen wir noch auf einen kleinen Schlaftrunk in die Bar – aber keine Saufgelage, wenn ich bitten darf! Wir müssen morgen früh raus.«
Am nächsten Morgen, pünktlich um acht Uhr, hatte sich das gesamte Kreativteam von LGMK in der Eingangshalle des Wing Manor Inn versammelt und wartete gespannt auf die Ankunft ihres Gurus von Creative Blockbusters. Amelie, die sich unter einem Beanie und einer rosagetönten Pilotenbrille vor dem Tageslicht verbarg, warf einen Blick auf ihre Uhr und sagte dann lachend zu Duncan: »Schon fünf Minuten drüber. Sollen wir ihm noch fünf Minuten geben und dann zu einem schönen Spaziergang aufbrechen? Ich meine, wir sind hier. Wenn er sich nicht mal die Mühe machen kann, zu erscheinen, also...«
Sie wandte sich Josh zu, der den Hals reckte und aus einem der Fenster der Rezeption in Richtung Leighton Buzzard spähte, um zu sehen, ob der Wagen ihres Trainers nicht auf der gewundenen, durch die Hügel führenden Landstraße auftauchte. »Immer noch nichts von ihm zu sehen?«, fragte Amelie. »Vielleicht könnten wir alle zusammen einen schönen Morgenspaziergang machen? Es ist so schön da draußen, so frisch und grün. Ist doch wunderbar, mal aus dem Mief der Stadt raus zu sein, oder?«
»Ja, wunderbar«, stimmte ihr Josh bei. »Aber ich denke, Bob hat sicher eine kleine Wanderung eingeplant.«
In diesem Moment war das misstönende Kreischen eines Autos zu hören, das auf die Kieseinfahrt vor dem Gasthof einbog, und alle drehten sich zum Fenster um. Sie sahen, wie ein pummeliger kleiner Mann mittleren Alters mit überkämmter Glatze und Brille sich ungeschickt aus dem Auto hievte, zur Beifahrerseite seines rostigen alten, kastanienbraunen Ford Fiestas hinüberging und einen Stapel Blätter und Akten vom Sitz hob. Er schubste die Tür mit dem Hinterteil zu, wobei ihm der Großteil seines Papierstapels herunterfiel und sich in einem Schauer über den Kies ergoss. Er ließ sich auf alle viere nieder, sammelte hektisch seine Akten ein und stieß sich beim Aufstehen den Kopf am Auto an, ein Schauspiel, das die gesamte Kreativabteilung von LGMK mit hochgezogenen Brauen verfolgte.
»Ladies und Gentlemen, darf ich vorstellen: Bob, der Hüter unserer Kreativität«, sagte Duncan skeptisch zu Amelie und Max, die prompt in Gekicher ausbrachen.
Bob, der sich die schmerzende Stirn rieb, blickte zum Gasthof und sah sich jäh mit einer Schar gespannt aus dem gro ßen Erkerfenster starrender Gesichter konfrontiert. Er winkte matt und taumelte unter der Last seiner Papiere auf die Eingangstür zu.
»Guten Morgen allerseits!«, quiekte er, kaum dass er die Eingangshalle betreten hatte. »Ich bin Bob. Bob Satchell. Und wie geht es euch heute?«, rief er in perfekt gespielter Munterkeit. »Sorry, aber ich hab mich ein klitzekleines bisschen verspätet!«
Wenig später wurden sie von der Rezeptionistin in den großen Tagungsraum geführt, wo ihnen die fröhlichen Töne von »Take on Me« von A-Ha aus einem kleinen roten Ghettoblaster im Stil der Achtziger entgegenschallte. Zögernd betraten die Teams den Raum, von dem aus man einen herrlichen Blick auf gewundene Bäche, hügelige Felder und grüne Weiden hatte, auf denen Kühe grasten. Hungrig nahm man an den Frühstückstischen Platz und stärkte sich mit Kaffee und Toast. Anschließend wurden die obligatorischen Namensschildchen verteilt.
Und dann wurde es Zeit für die erste Runde »Spiel und Spaß«, wie Bob Satchell es nannte. Bob erhob sich, strich sich das Haar über der Glatze glatt, rückte seine Brille zurecht und bat die Anwesenden, aufzustehen und sich in der Mitte des Zimmers zu einem Kreis aufzustellen.
»Ich hoffe, das Frühstück hat allen gemundet und ihr seid schon richtig gespannt, was jetzt kommt!«, quiekte er freudig erregt. »Wir werden in den nächsten zwei Tagen eine ganze Menge Spaß haben! Also, wie ihr unserer Broschüre vielleicht schon entnommen habt, vertreten wir bei Creative Blockbuster eine NO FEAR POLICY! Keine Angst, hähä!«, keckerte er. »Das heißt lediglich, dass unsere Übungen darauf abzielen, euch innerhalb kürzester Zeit so aufzutauen, dass ihr jede Schüchternheit und Hemmung ablegt!« Bob grinste dreckig und kletterte auf die Behelfsbühne. »Wenn ihr also bereit seid, dann fangen wir mit ein paar ›Kennenlernspielen‹ an.« Bob mimte mit vier Wurstfingern Anführungszeichen. »Wir fangen mit einem meiner Lieblingsspiele an. Es heißt das Torpedospiel. Kennt es jemand?«
Das Heer verständnislos dreinblickender Mienen war Antwort genug. »Nein? Nun, es ist ganz einfach. Alles, was man tun muss, ist, mit nach vorn gestreckten Armen auf eine Person zuzugehen und dabei laut ihren Namen zu rufen – so, ich zeig’s euch.« Er sprang vom Podium, streckte die dicklichen Arme aus und stakste wie ein Zombie im Saal umher. Schließlich fiel sein stechender Blick auf Chloe, die sogleich tomatenrot anlief. Die Schweinsäuglein zusammenkneifend las er ihr Namensschildchen und trompetete dann, dass es bis zur nächsten Ortschaft schallte: »CHLOE!«
Die arme schüchterne Chloe sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Bob, der nun direkt vor ihr stand, die dicken Wurstfinger nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, brüllte nun, als wäre Chloe ein wenig schwer von Begriff: »Jetzt! Jetzt!«
Erwartungsvoll schaute er sie an. Als keine Reaktion kam – außer dass sie womöglich noch röter wurde -, rief er ungeduldig: »Na komm schon!« Schließlich sah er sich gezwungen, das Ganze doch noch ein wenig näher zu erklären. »Jetzt musst du dasselbe machen, was ich gerade gemacht habe, bloß dass du auf jemand anderen zugehst.« Bob – und der Rest des Saals – warteten gespannt darauf, dass Chloe tat, wie ihr befohlen. Duncan warf Chloe einen mitfühlenden Blick zu und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
»J-Josh«, stammelte sie, blieb aber wie festgefroren stehen.
»Und jetzt musst du auf ihn zugehen«, erklärte Bob, als habe er es mit einer Schwachsinnigen zu tun.
»Ach ja, sorry.« Die Augen zu Schlitzen verengt streckte sie die Arme vor und wankte auf Josh zu, wobei sie laut seinen Namen rief.
»Genau! Prima! Und jetzt du, Josh.«
Josh reagierte schneller, rief »Max!« und marschierte auf Max zu, der wiederum »Sally!« rief, die »Fleur!« rief und so weiter, bis die ganze Abteilung wie ein Haufen verwirrter Daleks auf einer intergalaktischen Cocktailparty durcheinanderwuselte.
Nachdem dies eine unerträglich lange Zeit so gegangen war, wagte Sally zu bemerken: »Äh, ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber ich denke, wir haben das Spiel jetzt ganz gut verinnerlicht, oder?«
Josh schaute Sally überrascht an. So viel Mut hatte er ihr gar nicht zugetraut. Und Bob, den dieser Miniaufstand eingeschüchtert zu haben schien, beeilte sich zu sagen: »Ja, ja, du hast Recht. Ooookay! Gut! Activity Nummer zwei! Alle Mann – zurück in den Kreis!«
Amelie sah mit Grauen, wohin dieser Nachmittag, wohin das ganze Wochenende führen würde. Seufzend schlurfte sie auf ihren Platz neben Chloe, die sich einigermaßen von der erlittenen Tortur erholt zu haben schien. Mit sauren Mienen hörten sie zu, wie Bob mit begeisterter Quietschstimme das nächste Spiel erklärte. Es hieß »Zipp, Zapp, Boing!« und diesmal war es an Amelie, den Anfang zu machen.
Zornestränen zurückkämpfend hob sie den Arm und deutete auf Duncan, der ihr gegenüber stand. »Zapp!«, brüllte sie und schaute dann auf Bob, um zu sehen, ob sie es richtig gemacht hatte. Er bedachte sie mit einem stolzen Blick, weil sie es auf Anhieb kapiert hatte, und wartete dann auf Duncans Antwort. Duncan folgte auch prompt mit einem leisen, schüchternen »Zipp!« und zeigte auf Fleur, die neben ihm stand. Fleur rief »Zapp!« und deutete auf den ihr gegenüberstehenden Josh. Josh schoss ein »Zipp!« auf Amelie, die neben ihm stand. Amelie erwiderte mit einem lauten »Boing!«, welches an Josh abprallte und den Nächsten traf und so weiter.
»Spitze! Einfach spitze!«, quiekte Bob in höchsten Tönen. »Schneller, schneller!« Strahlend wie ein Kind verfolgte Bob die herumschwirrenden Zipps und Zapps und Boings. Niemand wusste, warum sie dieses alberne Spiel spielten, und konnte sich auch nur ansatzweise erklären, wie zum Teufel es ihrer Kreativität oder gar ihrem Teamgeist auf die Sprünge helfen sollte.
Nach zehn Minuten Quälerei hatte Bob ein Einsehen und bat die versammelte Mannschaft, an den Tischen Platz zu nehmen. »Das war spitze, Leute, spitze! Ich hoffe, euch ist jetzt hübsch warm geworden. Also, wir machen jetzt Folgendes: Wir besprechen das gerade Erlebte und was es für uns bedeutet.« Gewappnet mit einem dicken rosa Marker trat Bob auf die weiße Tafel zu und schrieb in großen Lettern ein Wort: