17. KAPITEL
Egotrips
Büro, Dienstag, 8. Februar, Mittag
 
Hurra – ich bin dem Irrenhaus des Creativity Weekends entkommen! Nie, seit der Entstehung der Welt, ist die Zeit langsamer vergangen als im Trainingslager von Bob Satchell, dem König der Glatzenüberkämmer, dem masochistischen Teamgeistförderer. Gott sei Dank hat Josh uns gerettet und ihm heldenhaft gesagt, wo er sich seine hirnrissigen Spiele hinstecken soll. Empfinde plötzlich eine ganz neue Hochachtung vor dem Mann.
Der Rest des Wochenendes verlief dann sehr harmonisch und lustig. Wir machten einen langen Spaziergang durchs Dorf und die Umgegend, besuchten Ascott House, ein Landhaus, in dem es einige schöne alte Bilder zu besichtigen gibt, und genossen die Landschaft und die gute Luft in vollen Zügen. Schneller als wir es erwartet hatten, verblasste das Trauma von »Zipp, Zapp, Boing« & Co.
Beim Bummel durch den Ort, dessen Kirche eine der ältesten Kirchen Englands ist (sie stammt aus dem siebten Jahrhundert), ging ich neben Duncan und Chloe. Ich bin nicht ganz sicher, aber mir scheint, da tut sich was... scheue Blicke und so weiter... Auch hat Duncan Sara-Jayne schon seit Ewigkeiten nicht mehr erwähnt – obwohl er doch angeblich noch mit ihr zusammen sein soll. Aber ob das mit den beiden was werden wird – Chloe und Duncan meine ich -, ist zweifelhaft, da beide so schrecklich schüchtern sind.
Später dann, bei einem köstlichen Mittagessen in einem Country Pub, fiel mir noch etwas anderes auf. Fleur wirkte irgendwie geknickt – gar nicht ihr schnippisches, hochmütiges Selbst. Auch hatte ich den Eindruck, dass sie mehr Wesens um Josh machte, als diesem lieb war. Überhaupt glaube ich, dass ihr seit den grässlichen Spielen irgendwas über die Leber gelaufen ist; sie sondert sich mehr denn je von der Gruppe ab. Als ich sie einmal in einer Ecke sitzen und einsam in einer Zeitschrift blättern sah, ging ich zu ihr hin und fragte sie, ob sie Lust hätte, sich uns – Duncan, Chloe und mir – auf einen Spaziergang anzuschließen? Da hat sie mich angefaucht, als ob ich sie gebeten hätte, noch mal beim Torpedospiel mitzumachen. Sie warte auf Josh, sagte sie und schaute mich dabei derart böse an, als ob ich sie beleidigt hätte. Ich weiß nicht, was sie hat – als sie noch in der Rezeption saß, war sie immer so locker und freundlich. Aber seit sie PA geworden ist, ist sie kaum mehr zu ertragen – ständig fühlt sie sich angegriffen, ist überempfindlich. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich es bin, gegen die sie was hat. Aber vielleicht fehlt ihr auch einfach nur ihr Maniküre-Set und ihr Friseur und ich bin paranoid. Wer weiß... mal sehen, wie’s in der nächsten Woche im Büro laufen wird. Ah, ich muss Schluss machen, das ist Charlie am Telefon – ich treffe mich morgen mit ihm. Freue mich schon darauf...
036
Büro, Mittwoch, 9. Februar, 23:53 Uhr
 
Habe den schweren Fehler begangen, heute Abend mit Charlie ins Theater zu gehen. Ollie – ein Schauspieler, den ich vom College her kenne – trat in einem West-End-Stück auf, das ich mir schon wer weiß wie lange anschauen wollte. Ich dachte, Charlie würde es auch gern sehen, hatte es doch glänzende Kritiken gekriegt. Auch dachte ich, er würde sich freuen, Ollie kennen zu lernen – wer wusste schon, was für Kontakte, was für Chancen sich daraus für ihn ergäben?
Irrtum auf der ganzen Linie! Ich fand das Stück fantastisch, eine bissige Satire über einen Buchverleger und dessen schmutzige Affären. Und ich glaube zumindest, dass es Charlie auch gefallen hat, zumindest in den wenigen Momenten, in denen er nicht kopfschüttelnd über die Leistung der Schauspieler und die Qualität der Aufführung meckerte. Als ich ihn in der Pause nach seinem Eindruck fragte (nachdem es wieder einmal ich gewesen war, die die Pausendrinks bezahlt hatte – nicht dass ich mich beklagen will), verzog er das Gesicht und rang nach den richtigen Worten. »Nun, es ist nicht schlecht. Toll geschrieben, gut inszeniert.« Er nahm einen Schluck, der den Pegel seines Biers um ein Drittel senkte, und fügte dann hinzu, als könne er nicht länger an sich halten: »Dein Freund ist ganz in Ordnung. Aber die anderen Schauspieler, die reißen mich nicht gerade vom Hocker.« Und ich dachte, oha, jetzt geht das schon wieder los...
»Der Typ, der die Hauptrolle spielt, warum haben sie den überhaupt engagiert? Bloß weil er prominent ist? Er hat der Rolle nichts Neues hinzufügen können!«
»Es stimmt, er hat in vielen Kino- und Fernsehfilmen mitgespielt«, stimmte ich ihm zu, »aber ich begreife nicht, wieso das gegen ihn sprechen sollte. Ich fand ihn in der Rolle brillant.«
Charlie schnitt ein angewidertes Gesicht und rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. »Unsinn. Ein ›Niemand‹ hätte die Rolle viel besser, viel interessanter spielen können.«
»Du zum Beispiel?«, neckte ich ihn.
»Ja und? Du brauchst gar nicht so zu grinsen!«, fauchte er mich an. »Außerdem bin ich kein ›Niemand‹. Ich hatte eine regelmäßige Rolle in Doctors.«
»He, reg dich ab, ich meinte doch nur...«, sagte ich, vor Charlies rapide anschwellendem Ego zurückweichend. Im Stillen dachte ich mir, dass »Taxifahrer Nummer drei« wohl nicht zu den Rollen zählte, mit denen man in die Annalen der Schauspielkunst einging. Aber um des lieben Friedens willen hielt ich den Mund.
»Hör zu, das haben die doch alles bloß ihren Superagenten zu verdanken – während ich hier hocke und noch immer nichts von den Arschlöchern gehört hab, die mir nach der Premiere ihre Visitenkarten zugesteckt haben! Entschuldige, Amelie, du kannst ja nichts dafür. Aber Schauspieler zu sein ist so ein Scheißjob! Ständig rauf und runter, du machst dir Hoffnungen, dann wirst du wieder enttäuscht. Im einen Augenblick behandelt man dich wie den letzten Dreck, im nächsten wirst du hochgejubelt. Und trotzdem hörst du nicht auf, es weiter zu versuchen – einfach, weil du nicht anders kannst. Tut mir leid, dass ich dir damit die Ohren vollheule, Am, es ist nur – ich hab das Gefühl, ich stecke fest, kann weder vor noch zurück. Ich kann nicht aufgeben – es hat mich im Griff, dieses Leben. Ich kann nichts anderes, als Schauspieler sein. Es käme mir unnatürlich vor, überhaupt was anderes zu versuchen. Und das Schlimme ist, Am, ich kenne so viele talentierte Schauspieler, aber es gibt einfach nicht genug Rollen für uns alle. Ich versuche es jetzt schon so lange, ich finde, ich habe eine Chance mehr als verdient, findest du nicht? Ich hab schließlich auch nicht weniger Talent als irgendeiner auf dieser Bühne!«
Das sonst so fröhliche Gesicht zu einer tragischen Maske verzogen beendete Charlie sein Klagelied. Die Pupillen seiner braunen Augen waren vor Kummer geweitet (oder vom Kokain, was dieser Tage schwer zu unterscheiden war) und er tat mir aufrichtig leid. Ich fragte mich, was ich sagen könnte, um ihn zu trösten. In diesem Moment hörte ich eine Glocke bimmeln und zuckte erschrocken zusammen. Einen schrecklichen Moment lang hatte ich geglaubt, wieder auf dem Speed-Dating-Karussell zu sitzen. War unsere Zeit schon fast abgelaufen? Dieser Gedanke verfolgte mich, während wir wieder zu unseren Plätzen zurückgingen.
Nachdem der Vorhang gefallen und ich, zusammen mit allen anderen Zuschauern (das heißt, bis auf einen), aufgestanden war, um den Schauspielern Standing Ovations zu geben, ging ich mit Charlie in ein Pub um die Ecke. Und dann beging ich den zweiten großen Fehler des Abends: Ich lud Ollie ein, sich uns anzuschließen. Ich war gerade dabei, an der Bar für unsere Getränke zu bezahlen, als Ollie neben mir auftauchte und seine Brieftasche zückte, wobei er für sich selbst ein Bier dazu bestellte.
»Danke, das ist nett von dir«, sagte ich. »Ich freue mich riesig, dich zu sehen – übrigens, du warst einfach toll.« Worauf er antwortete, dies sei das Mindeste, was er tun könne, und dankte uns beiden für unser Kommen.
»Charlie fand es auch toll«, log ich.
»Und wo steckt Mr. Speed-Dating-Macho?«, scherzte Ollie. Wir schauten beide zu Charlie hinüber, der sich soeben in einer Sitznische niederließ, den Kopf konzentriert über ein Computerspiel gebeugt, das er auf seinem Handy spielte.
»Komm, ich mach dich mit ihm bekannt. Er ist wirklich nett«, schlug ich Ollie mit mehr Optimismus vor, als ich empfand.
Damit wir nicht sogleich auf die Schauspielerei zu sprechen kamen, erwähnte ich zuerst einmal meine Anstrengungen im Haifischbecken der Werbeindustrie. »Also«, sagte ich, »nur noch eine Woche bis zur gefürchteten Fast-Love-Präsentation. Duncan und ich haben uns schon mal vorsichtshalber nach Rekrutierungsbüros umgeschaut, um gewappnet zu sein, wenn die Werbeagentur Bankrott macht...«
Charlie wartete daraufhin mit der folgenden, äußerst sensiblen Antwort auf: »Ach, du schaffst das schon. Dir wird schon noch ein Geniestreich gelingen.« Er zwickte mich gutmütig in die Hüfte und steuerte das Gespräch dann in die Richtung, in die er es haben wollte.
»So, Ollie«, sagte Charlie herausfordernd, »auf welcher Schauspielschule bist du gewesen?« Das war die eine Frage, die zu vermeiden ich inständig gehofft hatte. Und die er wahrscheinlich schon den ganzen Abend brennend gern hatte stellen wollen.
»Ach, gar nicht weit von hier«, antwortete Ollie bescheiden. Charlie schaute ihn durchdringend an, als erwarte er, dass er es laut aussprach. Schließlich fügte Ollie zögernd hinzu: »RADA.«
Charlies Miene verdüsterte sich. »Aha. Ach so«, sagte er. »Ich bin auf der Guildhall gewesen.« Dann fügte er hilfreich hinzu: »Auf der auch Ewan und Orlando waren.«
Ollie nickte ernst. Doch da war noch die andere Frage, von der ich hoffte, dass Charlie sie nicht stellen würde, die aber unweigerlich kommen würde, wie ich wusste, nachdem ich ihn ein paar Mal zu seinen Treffen mit Schauspielkollegen in diverse Kneipen begleitet hatte. Ich wusste, dass die Chance gleich null war, dass diese Frage ungefragt bliebe, eine Frage, die alle Schauspieler als Erstes stellten.
So auch Charlie: »Wer ist dein Agent?«
Ollie schien die Frage unangenehm zu sein. Fast verlegen antwortete er: »Ich bin bei ICM.«
Charlie rang sich ein Lächeln ab, sagte, das sei toll. Ich versuchte vergebens, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Es war offensichtlich, dass Ollie und Charlie nun den ganzen Abend lang ihre Karrieren vergleichen würden. Ich gab ihnen noch eine Chance, über etwas anderes als die Schauspielerei zu reden, hatte aber auch diesmal kein Glück. Nachdem ich mir eine Stunde lang angehört hatte, wie sie ihre Erfolgs-/Misserfolgsrate verglichen, begannen meine Gedanken zur bevorstehenden Fast-Love-Präsentation abzuschweifen, und ich begann ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich hier saß und nicht an der Kampagne arbeitete. Als ich schließlich den unsterblichen Satz »ich arbeite an meiner Technik« vernahm, wusste ich, dass ich es hier nicht länger aushielt. Komischerweise hatte ich das Gefühl, als fehlte mir meine Arbeit. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Wir waren nur wenige Minuten vom Soho Square entfernt. Wenn ich jetzt gleich losginge, könnte ich im Büro sein, bevor der Nachtwächter um 22:30 Uhr das Gebäude verließ.
Und da bin ich nun. Sitze allein an meinem Schreibtisch, in einem leeren Bürogebäude und schreibe wie eine einsame alte Jungfer in mein Tagebuch. Meine einzige Gesellschaft sind ein Glas Rotwein und eine Zigarette. Aber ich will nicht ungerecht sein – ich bin mir sicher, dass meine Zeit auf diese Weise besser genützt ist. Ich meine, die Fast-Love-Kampagne braucht mich jetzt mehr als Charlie. Und um ehrlich zu sein, verliere ich allmählich die Geduld mit ihm. Die meiste Zeit über ist er entweder bekokst oder auf dem besten Wege dazu. Ich habe mittlerweile eine ziemlich feine Antenne für die Schwankungen in seiner Persönlichkeit entwickelt; fast als würde man einen Schalter umlegen.
Abgesehen davon gibt es dennoch vieles, was ich an ihm mag – sehr sogar. Und er hat mich wirklich von meinem Jack-Kummer abgelenkt, wofür er allein schon einen Preis verdient. Ich bin nach wie vor gern mit ihm zusammen, habe Spaß mit ihm, auch wenn er es manchmal einfach zu weit treibt. Er kommt mir vor wie ein allzu lebhaftes Kind, das seine Mutter zu dem Ausspruch veranlasst, »das wird noch in Tränen enden«. Wahrscheinlich macht ihn gerade das so liebenswert, andererseits kann einem diese Seite auch ganz schön auf die Nerven gehen. Das Problem ist das Kokain, glaube ich – es ist manchmal wirklich schwer zu beurteilen, was der wirkliche Charlie ist und was nicht.
Nachdem ich all das noch einmal durchgelesen habe, habe ich das Gefühl, vielleicht ein bisschen zu hart über Charlie geurteilt zu haben. Dann hat er halt ein paar Ecken und Kanten, aber, mein Gott, wer hat die nicht? Er mag vielleicht nicht »der Eine« sein, aber wir kennen uns schließlich noch nicht lange und warum sollten wir nicht ein wenig Spaß miteinander haben? Wer bestimmt eigentlich, wie lange man mit jemandem zusammen bleiben soll, von dem man weiß, dass es nicht der Richtige ist? Selbst wenn man weiß, dass er Eigenschaften hat, die man an ihm mag (und andere, die man nicht ausstehen kann), wie lange soll man es versuchen? Ist es besser, allein zu bleiben und auf den Richtigen zu warten oder sich die Zeit mit einem anderen zu vertreiben, weil man Spaß mit ihm hat und noch jung ist? Außerdem frage ich mich, ob nicht alle Beziehungen letztendlich dazu dienen, sich die Zeit zu vertreiben, bis der Richtige auftaucht?
Ich will ja glauben, dass das mit ihm zu irgendwas führen könnte, dass meine Speed-Dating-Erfahrung einen Sinn gehabt hat. Bei Sally hat es schließlich Wunder gewirkt – ich muss sie morgen unbedingt fragen, wie’s ihr diesbezüglich geht. Bin immer noch entschlossen, das Geheimnis des Speed-Datings zu knacken – vielleicht finde ich ja was beim Googeln.
037
Büro, Donnerstag, 10. Februar, 9:03 Uhr
 
Bin am Ende nicht weit gekommen, beim Googeln. Hatte kaum das Wort »speed« eingetippt, als plötzlich Josh wie aus dem Nichts in meiner Tür auftauchte und mir einen Riesenschrecken einjagte.
»Was machst du denn noch hier?«, fragte er mich. Er hatte seine Wollmütze an und schlüpfte gerade in seine Jacke.
»Ach, hallo«, sagte ich, noch immer ein wenig atemlos von dem Schrecken, den ich gekriegt hatte. Ich hatte geglaubt, mutterseelenallein in dem Gebäude zu sein. »Bin gerade erst reingekommen. Ich war in der Nähe und dachte mir, könntest ja kurz reinschauen und sehen, ob du in der Fast-Love-Sache nicht noch ein bisschen vorankommst.«
Josh schien sowohl verwirrt als auch beeindruckt zu sein. »Und – schon irgendwelche Geistesblitze?«, fragte er und schaute dabei auf mein Weinglas.
»Ach, jede Menge«, log ich, und ich glaube, er merkte es auch. »Und du, warum bist du noch hier?«
Er seufzte. »Habe an ein paar großen Ideen für die Zukunft der Agentur gebastelt. Werdet ihr alles zu gegebener Zeit erfahren!« Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Dann klapperte er mit seinen Autoschlüsseln und sagte: »Aber ich bin nicht ein solcher Tyrann von einem Boss, dass ich meine Mitarbeiter bis nach Mitternacht hier schuften ließe. Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«
Aus irgendeinem Grunde wollte ich dieses freundliche Angebot ablehnen. Das lag teilweise daran, dass ich den Eindruck erwecken wollte, meine Arbeit so sehr zu lieben, dass ich ganze Nächte lang durcharbeitete, wenn es die Situation erforderte. Zum anderen gab es einen Teil von mir, der ihm immer noch nicht so recht über den Weg traute, der sich noch nicht daran gewöhnt hatte, dass er jetzt am Ruder saß. Aber da die kreativen Säfte heute Abend offenbar nicht fließen wollten, stimmte ich schließlich zu.
Ich bin normalerweise nicht der Typ, der sich von teuren Autos beeindrucken lässt, doch ich muss zugeben, dass mir sein Wagen gefiel. Es war ein schwarzes Golf Cabrio – zweckmäßig und doch sexy. Glaube ich. Wenn man Wert auf Autos legt, was ich nicht tue. Nun, jedenfalls während wir so dahinfuhren und uns unterhielten, wurde mir mit einem Mal klar, wie wenig ich über diesen Mann, der mein neuer Boss war, wusste. Ich wusste nicht einmal, wo er wohnte. In Nord-London, wie sich herausstellte. Also lag meine Wohnung sozusagen auf dem Weg, was mich sehr erleichterte. Es wäre mir höchst unangenehm gewesen, wenn er meinetwegen einen großen Umweg hätte machen müssen.
Während wir also munter plauderten, kam ich ins Grübeln. Vielleicht war er ja doch nicht so übel. Vielleicht hatte ich ihn bis jetzt unfair beurteilt? Ich beschloss, noch einmal von vorne anzufangen und ihn über sich selbst auszufragen. Es dauerte nicht lange und wir waren ins schönste Gespräch vertieft. Er erzählte mir, dass er auf einer Farm in der Nähe von Perth aufgewachsen sei, eine freie und wilde Zeit. Nach dem Tod seines Vaters seien sie dann nach Sydney gezogen, wo die Familie seiner Mutter lebte. Und ich erzählte ihm von meinen Abenteuern als Rucksacktourist, wie ich eine Zeitlang im Pommy-Ghetto namens Bondi Beach gelebt hatte, dem Viertel, in dem die meisten zugewanderten Neuseeländer lebten. Wie ich danach Thailand bereist hatte. Zu unser beider Verblüffung stellten wir fest, dass sich unsere Pfade dort beinahe gekreuzt hatten. Wenn wir richtig gerechnet hatten, besuchten wir dort dieselbe Vollmondparty, in demselben Monat, demselben Jahr. Irre! Ich hoffe bloß, er ist nicht Zeuge geworden, wie ich mich in einer stillen Ecke des Strandes erbrach, nachdem ich es ein wenig mit den Cocktails, die in diesen Breiten in Eimern serviert wurden, übertrieben hatte. Er wiederum versicherte mir hoch und heilig, nicht zu der Sorte Mann zu gehören, die ins Meer pinkelt, als ob es eine öffentliche Kloake wäre. Komisch, sich vorzustellen, dass wir vielleicht einst in derselben Bar saßen – einander vielleicht sogar gesehen haben! -, am selben Strand den Joint weitergereicht und den Sonnenuntergang bewundert haben. Oder auch nicht. Aber komisch ist es schon, zu denken, wie klein die Welt doch ist.
Aber zurück zum Thema: Speed-Dating. Und wie man es an den Mann, beziehungsweise die Frau bringt. Duncan und ich sind heute überraschend produktiv, arbeiten an einer Reihe ganz neuer Ideen, die Autos zum Thema haben. Ziemlich lächerlich das Ganze, aber ich scheine Duncan auf diese Idee gebracht zu haben, als ich sagte, Sally hätte die Liebe »auf der Überholspur« gefunden. Sofort kam Duncan wieder auf seinen Cartoon-Cupido zurück. Er malte ihn, wie er in einem kleinen Auto saß, mit dem fetten kleinen Fuß aufs Gas trat und dahinbrauste. Fürchterlich lahm, ich weiß. Wir werden die Entwürfe später Josh zeigen, der die besten Ideen aus den Vorschlägen aller Teams auswählen wird. Komischerweise ist Josh der Ansicht, dass die Qualität der Arbeit sich seit dem unseligen »Betriebsausflug« bereits merklich gebessert hätte. Als hätten Bobs fürchterliche Spiele unsere kreativen Säfte am Ende doch zum Fließen gebracht – das oder die feuchtfröhlichen Abende in der Hotelbar.
Wie auch immer, ich finde unsere neuen Ideen auch nicht besser als meine Diana-Ross-Idee. Ich bezweifle ernsthaft, dass wir mit diesen Ideen die Konkurrenz abhängen können. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Duncan ein wenig das Interesse an unserer Arbeit verloren hat und einfach keine zusätzliche Zeit und Mühe mehr darauf verwenden will. Falls Duncan im Moment überhaupt eine Leidenschaft hat, dann nicht sein Job. Auch nicht Frauen. Oder Autos. Nein, seine einzige Leidenschaft ist diese: Rubbelkarten. Ich weiß gar nicht, wann ich ihn zum letzten Mal ohne eine gesehen habe. Und seine derzeitige Gewinnrate rechtfertigt ganz sicher nicht die Ausgaben, die er diesbezüglich hat. Im Ernst, wie kann er sich das alles überhaupt leisten?
038
Büro, Donnerstag, 10. Februar, 9:27 Uhr
 
Ach du meine Güte. Er hat gesagt, er geht rasch einen Kaffee holen und taucht prompt mit zehn Rubbelkarten wieder auf. Ich glaube, das wird allmählich zu einer Manie bei ihm. Ist es bereits. Ich werde im Moment mal noch nichts sagen, aber wenn das so weitergeht, werde ich wohl oder übel ein paar Pamphlete über Suchtverhalten auf seinem Schreibtisch auslegen müssen …
Nun, jedenfalls eins hat das Wochenende in Wing bewirkt: Ich fange an, mir selbst Gedanken über meinen Beruf zu machen, habe das Gefühl, der Branche und ihren Anforderungen müde zu sein. Die Arbeit fesselt mich nicht mehr so sehr wie früher. Möglicherweise ist das der wahre Grund, warum ich mich mit dieser Kampagne so hart tue. Vielleicht ist der Funke ja erloschen.
Ach, was soll’s, ich habe im Moment etwas viel Aufregenderes im Kopf: Übermorgen tritt meine beste Freundin vor den Traualtar – nicht zu fassen, wie schnell die Zeit verflogen ist. Freue mich ehrlich darauf. Ich weiß einfach, dass sie sehr, sehr glücklich sein und in ihrem Kleid umwerfend aussehen wird. Dunc und ich werden morgen nach der Arbeit den Zug nach Penarth nehmen, was – Schreck lass nach! – bedeutet, dass die Präsentation bis dahin stehen muss... Ich fürchte, ich werde auch heute Nacht durcharbeiten müssen. Werde vielleicht keine Zeit mehr haben, Tagebuch zu schreiben, jetzt wo alles fast vorbei ist... Ich kann nur hoffen, dass Duncan und ich unser Bestes getan haben, was die Fast-Love-Kampagne betrifft, und dass wir am Ende der nächsten Woche nicht auf der Straße stehen werden. In jedem Fall, danke fürs Zuhören. Over and out.