17. KAPITEL
Egotrips
Büro, Dienstag, 8. Februar,
Mittag
Hurra – ich bin dem Irrenhaus
des Creativity Weekends entkommen! Nie, seit der Entstehung der
Welt, ist die Zeit langsamer vergangen als im Trainingslager von
Bob Satchell, dem König der Glatzenüberkämmer, dem masochistischen
Teamgeistförderer. Gott sei Dank hat Josh uns gerettet und ihm
heldenhaft gesagt, wo er sich seine hirnrissigen Spiele hinstecken
soll. Empfinde plötzlich eine ganz neue Hochachtung vor dem
Mann.
Der Rest des Wochenendes
verlief dann sehr harmonisch und lustig. Wir machten einen langen
Spaziergang durchs Dorf und die Umgegend, besuchten Ascott House,
ein Landhaus, in dem es einige schöne alte Bilder zu besichtigen
gibt, und genossen die Landschaft und die gute Luft in vollen
Zügen. Schneller als wir es erwartet hatten, verblasste das Trauma
von »Zipp, Zapp, Boing« & Co.
Beim Bummel durch den Ort,
dessen Kirche eine der ältesten Kirchen Englands ist (sie stammt
aus dem siebten Jahrhundert), ging ich neben Duncan und Chloe. Ich
bin nicht ganz sicher, aber mir scheint, da tut sich was... scheue
Blicke und so weiter... Auch hat Duncan
Sara-Jayne schon seit Ewigkeiten nicht mehr erwähnt – obwohl er
doch angeblich noch mit ihr zusammen sein soll. Aber ob das mit den
beiden was werden wird – Chloe und Duncan meine ich -, ist
zweifelhaft, da beide so schrecklich schüchtern sind.
Später dann, bei einem
köstlichen Mittagessen in einem Country Pub, fiel mir noch etwas
anderes auf. Fleur wirkte irgendwie geknickt – gar nicht ihr
schnippisches, hochmütiges Selbst. Auch hatte ich den Eindruck,
dass sie mehr Wesens um Josh machte, als diesem lieb war. Überhaupt
glaube ich, dass ihr seit den grässlichen Spielen irgendwas über
die Leber gelaufen ist; sie sondert sich mehr denn je von der
Gruppe ab. Als ich sie einmal in einer Ecke sitzen und einsam in
einer Zeitschrift blättern sah, ging ich zu ihr hin und fragte sie,
ob sie Lust hätte, sich uns – Duncan, Chloe und mir – auf einen
Spaziergang anzuschließen? Da hat sie mich angefaucht, als ob ich
sie gebeten hätte, noch mal beim Torpedospiel mitzumachen. Sie
warte auf Josh, sagte sie und schaute mich dabei derart böse an,
als ob ich sie beleidigt hätte. Ich weiß nicht, was sie hat – als
sie noch in der Rezeption saß, war sie immer so locker und
freundlich. Aber seit sie PA geworden ist, ist sie kaum mehr zu
ertragen – ständig fühlt sie sich angegriffen, ist überempfindlich.
Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich es bin, gegen
die sie was hat. Aber vielleicht fehlt ihr auch einfach nur ihr
Maniküre-Set und ihr Friseur und ich bin paranoid. Wer weiß... mal
sehen, wie’s in der nächsten Woche im Büro laufen wird. Ah, ich
muss Schluss machen, das ist Charlie am Telefon – ich treffe mich
morgen mit ihm. Freue mich schon darauf...
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Büro, Mittwoch, 9. Februar,
23:53 Uhr
Habe den schweren Fehler
begangen, heute Abend mit Charlie ins Theater zu gehen. Ollie – ein
Schauspieler, den ich vom College her kenne – trat in einem
West-End-Stück auf, das ich mir schon wer weiß wie lange anschauen
wollte. Ich dachte, Charlie würde es auch gern sehen, hatte es doch
glänzende Kritiken gekriegt. Auch dachte ich, er würde sich freuen,
Ollie kennen zu lernen – wer wusste schon, was für Kontakte, was
für Chancen sich daraus für ihn ergäben?
Irrtum auf der ganzen Linie!
Ich fand das Stück fantastisch, eine bissige Satire über einen
Buchverleger und dessen schmutzige Affären. Und ich glaube
zumindest, dass es Charlie auch gefallen hat, zumindest in den
wenigen Momenten, in denen er nicht kopfschüttelnd über die
Leistung der Schauspieler und die Qualität der Aufführung meckerte.
Als ich ihn in der Pause nach seinem Eindruck fragte (nachdem es
wieder einmal ich gewesen war, die die Pausendrinks bezahlt hatte –
nicht dass ich mich beklagen will), verzog er das Gesicht und rang
nach den richtigen Worten. »Nun, es ist nicht schlecht. Toll
geschrieben, gut inszeniert.« Er nahm einen Schluck, der den Pegel
seines Biers um ein Drittel senkte, und fügte dann hinzu, als könne
er nicht länger an sich halten: »Dein Freund ist ganz in Ordnung.
Aber die anderen Schauspieler, die reißen mich nicht gerade vom
Hocker.« Und ich dachte, oha, jetzt geht das schon wieder
los...
»Der Typ, der die Hauptrolle
spielt, warum haben sie den überhaupt engagiert? Bloß weil er
prominent ist? Er hat der Rolle nichts Neues hinzufügen
können!«
»Es stimmt, er hat in vielen
Kino- und Fernsehfilmen mitgespielt«, stimmte ich ihm zu, »aber ich
begreife nicht, wieso das gegen ihn sprechen sollte. Ich fand ihn
in der Rolle brillant.«
Charlie schnitt ein
angewidertes Gesicht und rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin
und her. »Unsinn. Ein ›Niemand‹ hätte die Rolle viel besser, viel
interessanter spielen können.«
»Du zum Beispiel?«, neckte ich
ihn.
»Ja und? Du brauchst gar nicht
so zu grinsen!«, fauchte er mich an. »Außerdem bin ich kein
›Niemand‹. Ich hatte eine regelmäßige Rolle in Doctors.«
»He, reg dich ab, ich meinte
doch nur...«, sagte ich, vor Charlies rapide anschwellendem Ego
zurückweichend. Im Stillen dachte ich mir, dass »Taxifahrer Nummer
drei« wohl nicht zu den Rollen zählte, mit denen man in die Annalen
der Schauspielkunst einging. Aber um des lieben Friedens willen
hielt ich den Mund.
»Hör zu, das haben die doch
alles bloß ihren Superagenten zu verdanken – während ich hier hocke
und noch immer nichts von den Arschlöchern gehört hab, die mir nach
der Premiere ihre Visitenkarten zugesteckt haben! Entschuldige,
Amelie, du kannst ja nichts dafür. Aber Schauspieler zu sein ist so
ein Scheißjob! Ständig rauf und runter, du machst dir Hoffnungen,
dann wirst du wieder enttäuscht. Im einen Augenblick behandelt man
dich wie den letzten Dreck, im nächsten wirst du hochgejubelt. Und
trotzdem hörst du nicht auf, es weiter zu versuchen – einfach, weil
du nicht anders kannst. Tut mir leid, dass ich dir damit die Ohren
vollheule, Am, es ist nur – ich hab das Gefühl, ich stecke fest,
kann weder vor noch zurück. Ich kann nicht aufgeben – es hat mich
im Griff, dieses Leben. Ich kann nichts anderes, als Schauspieler
sein. Es käme mir unnatürlich vor, überhaupt was anderes zu
versuchen. Und das Schlimme ist, Am, ich kenne so viele talentierte
Schauspieler, aber es gibt einfach nicht genug Rollen für uns alle.
Ich versuche es jetzt schon so lange, ich finde, ich habe eine
Chance mehr als verdient, findest du nicht? Ich hab schließlich
auch nicht weniger Talent als irgendeiner auf dieser
Bühne!«
Das sonst so fröhliche Gesicht
zu einer tragischen Maske verzogen beendete Charlie sein Klagelied.
Die Pupillen seiner braunen Augen waren vor Kummer geweitet (oder
vom Kokain, was dieser Tage schwer zu unterscheiden war) und er tat
mir aufrichtig leid. Ich fragte mich, was ich sagen könnte, um ihn
zu trösten. In diesem Moment hörte ich eine Glocke bimmeln und
zuckte erschrocken zusammen. Einen schrecklichen Moment lang hatte
ich geglaubt, wieder auf dem Speed-Dating-Karussell zu sitzen. War
unsere Zeit schon fast abgelaufen? Dieser Gedanke verfolgte mich,
während wir wieder zu unseren Plätzen zurückgingen.
Nachdem der Vorhang gefallen
und ich, zusammen mit allen anderen Zuschauern (das heißt, bis auf
einen), aufgestanden war, um den Schauspielern Standing Ovations zu
geben, ging ich mit Charlie in ein Pub um die Ecke. Und dann beging
ich den zweiten großen Fehler des Abends: Ich lud Ollie ein, sich
uns anzuschließen. Ich war gerade dabei, an der Bar für unsere
Getränke zu bezahlen, als Ollie neben mir auftauchte und seine
Brieftasche zückte, wobei er für sich selbst ein Bier dazu
bestellte.
»Danke, das ist nett von dir«,
sagte ich. »Ich freue mich riesig, dich zu sehen – übrigens, du
warst einfach toll.« Worauf er antwortete, dies sei das Mindeste,
was er tun könne, und dankte uns beiden für unser Kommen.
»Charlie fand es auch toll«,
log ich.
»Und wo steckt Mr.
Speed-Dating-Macho?«, scherzte Ollie. Wir schauten beide zu Charlie
hinüber, der sich soeben in einer Sitznische niederließ, den Kopf
konzentriert über ein Computerspiel gebeugt, das er auf seinem
Handy spielte.
»Komm, ich mach dich mit ihm
bekannt. Er ist wirklich nett«, schlug ich Ollie mit mehr
Optimismus vor, als ich empfand.
Damit wir nicht sogleich auf
die Schauspielerei zu sprechen kamen, erwähnte ich zuerst einmal
meine Anstrengungen im Haifischbecken der Werbeindustrie. »Also«,
sagte ich, »nur noch eine Woche bis zur gefürchteten
Fast-Love-Präsentation. Duncan und ich haben uns schon mal
vorsichtshalber nach Rekrutierungsbüros umgeschaut, um gewappnet zu
sein, wenn die Werbeagentur Bankrott macht...«
Charlie wartete daraufhin mit
der folgenden, äußerst sensiblen Antwort auf: »Ach, du schaffst das
schon. Dir wird schon noch ein Geniestreich gelingen.« Er zwickte
mich gutmütig in die Hüfte und steuerte das Gespräch dann in die
Richtung, in die er es haben wollte.
»So, Ollie«, sagte Charlie
herausfordernd, »auf welcher Schauspielschule bist du gewesen?« Das
war die eine Frage, die zu vermeiden ich inständig gehofft hatte.
Und die er wahrscheinlich schon den ganzen Abend brennend gern
hatte stellen wollen.
»Ach, gar nicht weit von
hier«, antwortete Ollie bescheiden. Charlie schaute ihn
durchdringend an, als erwarte er, dass er es laut aussprach.
Schließlich fügte Ollie zögernd hinzu: »RADA.«
Charlies Miene verdüsterte
sich. »Aha. Ach so«, sagte er. »Ich bin auf der Guildhall gewesen.«
Dann fügte er hilfreich hinzu: »Auf der auch Ewan und Orlando
waren.«
Ollie nickte ernst. Doch da
war noch die andere Frage, von der ich hoffte, dass Charlie sie
nicht stellen würde, die aber unweigerlich kommen würde, wie ich
wusste, nachdem ich ihn ein paar Mal zu seinen Treffen mit
Schauspielkollegen in diverse Kneipen begleitet hatte. Ich wusste,
dass die Chance gleich null war, dass diese Frage ungefragt bliebe,
eine Frage, die alle Schauspieler als Erstes stellten.
So auch Charlie: »Wer ist dein
Agent?«
Ollie schien die Frage
unangenehm zu sein. Fast verlegen antwortete er: »Ich bin bei
ICM.«
Charlie rang sich ein Lächeln
ab, sagte, das sei toll. Ich versuchte vergebens, das Gespräch auf
ein anderes Thema zu lenken. Es war offensichtlich, dass Ollie und
Charlie nun den ganzen Abend lang ihre Karrieren vergleichen
würden. Ich gab ihnen noch eine Chance, über etwas anderes als die
Schauspielerei zu reden, hatte aber auch diesmal kein Glück.
Nachdem ich mir eine Stunde lang angehört hatte, wie sie ihre
Erfolgs-/Misserfolgsrate verglichen, begannen meine Gedanken zur
bevorstehenden Fast-Love-Präsentation abzuschweifen, und ich begann
ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich hier saß und nicht an
der Kampagne arbeitete. Als ich schließlich den unsterblichen Satz
»ich arbeite an meiner Technik« vernahm, wusste ich, dass ich es
hier nicht länger aushielt. Komischerweise hatte ich das Gefühl,
als fehlte mir meine Arbeit. Ich warf einen Blick auf meine Uhr.
Wir waren nur wenige Minuten vom Soho Square entfernt. Wenn ich
jetzt gleich losginge, könnte ich im Büro sein, bevor der
Nachtwächter um 22:30 Uhr das Gebäude verließ.
Und da bin ich nun. Sitze
allein an meinem Schreibtisch, in einem leeren Bürogebäude und
schreibe wie eine einsame alte Jungfer in mein Tagebuch. Meine
einzige Gesellschaft sind ein Glas Rotwein und eine Zigarette. Aber
ich will nicht ungerecht sein – ich bin mir sicher, dass meine Zeit
auf diese Weise besser genützt ist. Ich meine, die
Fast-Love-Kampagne braucht mich jetzt mehr als Charlie. Und um
ehrlich zu sein, verliere ich allmählich die Geduld mit ihm. Die
meiste Zeit über ist er entweder bekokst oder auf dem besten Wege
dazu. Ich habe mittlerweile eine ziemlich feine Antenne für die
Schwankungen in seiner Persönlichkeit entwickelt; fast als würde
man einen Schalter umlegen.
Abgesehen davon gibt es
dennoch vieles, was ich an ihm mag – sehr sogar. Und er hat mich
wirklich von meinem Jack-Kummer abgelenkt, wofür er allein schon
einen Preis verdient. Ich bin nach wie vor gern mit ihm zusammen,
habe Spaß mit ihm, auch wenn er es manchmal einfach zu weit treibt.
Er kommt mir vor wie ein allzu lebhaftes Kind, das seine Mutter zu
dem Ausspruch veranlasst, »das wird noch in Tränen enden«.
Wahrscheinlich macht ihn gerade das so liebenswert, andererseits
kann einem diese Seite auch ganz schön auf die Nerven gehen. Das
Problem ist das Kokain, glaube ich – es ist manchmal wirklich
schwer zu beurteilen, was der wirkliche Charlie ist und was
nicht.
Nachdem ich all das noch
einmal durchgelesen habe, habe ich das Gefühl, vielleicht ein
bisschen zu hart über Charlie geurteilt zu haben. Dann hat er halt
ein paar Ecken und Kanten, aber, mein Gott, wer hat die nicht? Er
mag vielleicht nicht »der Eine« sein, aber wir kennen uns
schließlich noch nicht lange und warum sollten wir nicht ein wenig
Spaß miteinander haben? Wer bestimmt eigentlich, wie lange man mit
jemandem zusammen bleiben soll, von dem man weiß, dass es nicht der
Richtige ist? Selbst wenn man weiß, dass er Eigenschaften hat, die
man an ihm mag (und andere, die man nicht ausstehen kann), wie
lange soll man es versuchen? Ist es besser, allein zu bleiben und
auf den Richtigen zu warten oder sich die Zeit mit einem anderen zu
vertreiben, weil man Spaß mit ihm hat und noch jung ist? Außerdem
frage ich mich, ob nicht alle Beziehungen letztendlich dazu dienen,
sich die Zeit zu vertreiben, bis der Richtige auftaucht?
Ich will ja glauben, dass das
mit ihm zu irgendwas führen könnte, dass meine
Speed-Dating-Erfahrung einen Sinn gehabt hat. Bei Sally hat es
schließlich Wunder gewirkt – ich muss sie morgen unbedingt fragen,
wie’s ihr diesbezüglich geht. Bin immer noch entschlossen, das
Geheimnis des Speed-Datings zu knacken – vielleicht finde ich ja
was beim Googeln.
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Büro, Donnerstag, 10. Februar,
9:03 Uhr
Bin am Ende nicht weit
gekommen, beim Googeln. Hatte kaum das Wort »speed« eingetippt, als
plötzlich Josh wie aus dem Nichts in meiner Tür auftauchte und mir
einen Riesenschrecken einjagte.
»Was machst du denn noch
hier?«, fragte er mich. Er hatte seine Wollmütze an und schlüpfte
gerade in seine Jacke.
»Ach, hallo«, sagte ich, noch
immer ein wenig atemlos von dem Schrecken, den ich gekriegt hatte.
Ich hatte geglaubt, mutterseelenallein in dem Gebäude zu sein. »Bin
gerade erst reingekommen. Ich war in der Nähe und dachte mir,
könntest ja kurz reinschauen und sehen, ob du in der
Fast-Love-Sache nicht noch ein bisschen vorankommst.«
Josh schien sowohl verwirrt
als auch beeindruckt zu sein. »Und – schon irgendwelche
Geistesblitze?«, fragte er und schaute dabei auf mein
Weinglas.
»Ach, jede Menge«, log ich,
und ich glaube, er merkte es auch. »Und du, warum bist du noch
hier?«
Er seufzte. »Habe an ein paar
großen Ideen für die Zukunft der Agentur gebastelt. Werdet ihr
alles zu gegebener Zeit erfahren!« Ich konnte seinen
Gesichtsausdruck nicht deuten. Dann klapperte er mit seinen
Autoschlüsseln und sagte: »Aber ich bin nicht ein solcher Tyrann
von einem Boss, dass ich meine Mitarbeiter bis nach Mitternacht
hier schuften ließe. Kann ich dich irgendwohin
mitnehmen?«
Aus irgendeinem Grunde wollte
ich dieses freundliche Angebot ablehnen. Das lag teilweise daran,
dass ich den Eindruck erwecken wollte, meine Arbeit so sehr zu
lieben, dass ich ganze Nächte lang durcharbeitete, wenn es die
Situation erforderte. Zum anderen gab es einen Teil von mir, der
ihm immer noch nicht so recht über den Weg traute, der sich noch
nicht daran gewöhnt hatte, dass er jetzt am Ruder saß. Aber da die
kreativen Säfte heute Abend offenbar nicht fließen wollten, stimmte
ich schließlich zu.
Ich bin normalerweise nicht
der Typ, der sich von teuren Autos beeindrucken lässt, doch ich
muss zugeben, dass mir sein Wagen gefiel. Es war ein schwarzes Golf
Cabrio – zweckmäßig und doch sexy. Glaube ich. Wenn man Wert auf
Autos legt, was ich nicht tue. Nun, jedenfalls während wir so
dahinfuhren und uns unterhielten, wurde mir mit einem Mal klar, wie
wenig ich über diesen Mann, der mein neuer Boss war, wusste. Ich
wusste nicht einmal, wo er wohnte. In Nord-London, wie sich
herausstellte. Also lag meine Wohnung sozusagen auf dem Weg, was
mich sehr erleichterte. Es wäre mir höchst unangenehm gewesen, wenn
er meinetwegen einen großen Umweg hätte machen müssen.
Während wir also munter
plauderten, kam ich ins Grübeln. Vielleicht war er ja doch nicht so
übel. Vielleicht hatte ich ihn bis jetzt unfair beurteilt? Ich
beschloss, noch einmal von vorne anzufangen und ihn über sich
selbst auszufragen. Es dauerte nicht lange und wir waren ins
schönste Gespräch vertieft. Er erzählte mir, dass er auf einer Farm
in der Nähe von Perth aufgewachsen sei, eine freie und wilde Zeit.
Nach dem Tod seines Vaters seien sie dann nach Sydney gezogen, wo
die Familie seiner Mutter lebte. Und ich erzählte ihm von meinen
Abenteuern als Rucksacktourist, wie ich eine Zeitlang im
Pommy-Ghetto namens Bondi Beach gelebt hatte, dem Viertel, in dem
die meisten zugewanderten Neuseeländer lebten. Wie ich danach
Thailand bereist hatte. Zu unser beider Verblüffung stellten wir
fest, dass sich unsere Pfade dort beinahe gekreuzt hatten. Wenn wir
richtig gerechnet hatten, besuchten wir dort dieselbe
Vollmondparty, in demselben Monat, demselben Jahr. Irre! Ich hoffe
bloß, er ist nicht Zeuge geworden, wie ich mich in einer stillen
Ecke des Strandes erbrach, nachdem ich es ein wenig mit den
Cocktails, die in diesen Breiten in Eimern serviert wurden,
übertrieben hatte. Er wiederum versicherte mir hoch und heilig,
nicht zu der Sorte Mann zu gehören, die ins Meer pinkelt, als ob es
eine öffentliche Kloake wäre. Komisch, sich vorzustellen, dass wir
vielleicht einst in derselben Bar saßen – einander vielleicht sogar
gesehen haben! -, am selben Strand den Joint weitergereicht und den
Sonnenuntergang bewundert haben. Oder auch nicht. Aber komisch ist
es schon, zu denken, wie klein die Welt doch ist.
Aber zurück zum Thema:
Speed-Dating. Und wie man es an den Mann, beziehungsweise die Frau
bringt. Duncan und ich sind heute überraschend produktiv, arbeiten
an einer Reihe ganz neuer Ideen, die Autos zum Thema haben.
Ziemlich lächerlich das Ganze, aber ich scheine Duncan auf diese
Idee gebracht zu haben, als ich sagte, Sally hätte die Liebe »auf
der Überholspur« gefunden. Sofort kam Duncan wieder auf seinen
Cartoon-Cupido zurück. Er malte ihn, wie er in einem kleinen Auto
saß, mit dem fetten kleinen Fuß aufs Gas trat und dahinbrauste.
Fürchterlich lahm, ich weiß. Wir werden die Entwürfe später Josh
zeigen, der die besten Ideen aus den Vorschlägen aller Teams
auswählen wird. Komischerweise ist Josh der Ansicht, dass die
Qualität der Arbeit sich seit dem unseligen »Betriebsausflug«
bereits merklich gebessert hätte. Als hätten Bobs fürchterliche
Spiele unsere kreativen Säfte am Ende doch zum Fließen gebracht –
das oder die feuchtfröhlichen Abende in der Hotelbar.
Wie auch immer, ich finde
unsere neuen Ideen auch nicht besser als meine Diana-Ross-Idee. Ich
bezweifle ernsthaft, dass wir mit diesen Ideen die Konkurrenz
abhängen können. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Duncan ein
wenig das Interesse an unserer Arbeit verloren hat und einfach
keine zusätzliche Zeit und Mühe mehr darauf verwenden will. Falls
Duncan im Moment überhaupt eine Leidenschaft hat, dann nicht sein
Job. Auch nicht Frauen. Oder Autos. Nein, seine einzige
Leidenschaft ist diese: Rubbelkarten. Ich weiß gar nicht, wann ich
ihn zum letzten Mal ohne eine gesehen habe. Und seine derzeitige
Gewinnrate rechtfertigt ganz sicher nicht die Ausgaben, die er
diesbezüglich hat. Im Ernst, wie kann er sich das alles überhaupt
leisten?
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Büro, Donnerstag, 10. Februar,
9:27 Uhr
Ach du meine Güte. Er hat
gesagt, er geht rasch einen Kaffee holen und taucht prompt mit zehn
Rubbelkarten wieder auf. Ich glaube, das wird allmählich zu einer
Manie bei ihm. Ist es bereits. Ich werde im Moment mal noch nichts
sagen, aber wenn das so weitergeht, werde ich wohl oder übel ein
paar Pamphlete über Suchtverhalten auf seinem Schreibtisch auslegen
müssen …
Nun, jedenfalls eins hat das
Wochenende in Wing bewirkt: Ich fange an, mir selbst Gedanken über
meinen Beruf zu machen, habe das Gefühl, der Branche und ihren
Anforderungen müde zu sein. Die Arbeit fesselt mich nicht mehr so
sehr wie früher. Möglicherweise ist das der wahre Grund, warum ich
mich mit dieser Kampagne so hart tue. Vielleicht ist der Funke ja
erloschen.
Ach, was soll’s, ich habe im
Moment etwas viel Aufregenderes im Kopf: Übermorgen tritt meine
beste Freundin vor den Traualtar – nicht zu fassen, wie schnell die
Zeit verflogen ist. Freue mich ehrlich darauf. Ich weiß einfach,
dass sie sehr, sehr glücklich sein und in ihrem Kleid umwerfend
aussehen wird. Dunc und ich werden morgen nach der Arbeit den Zug
nach Penarth nehmen, was – Schreck lass nach! – bedeutet, dass die
Präsentation bis dahin stehen muss... Ich fürchte, ich werde auch
heute Nacht durcharbeiten müssen. Werde vielleicht keine Zeit mehr
haben, Tagebuch zu schreiben, jetzt wo alles fast vorbei ist... Ich
kann nur hoffen, dass Duncan und ich unser Bestes getan haben, was
die Fast-Love-Kampagne betrifft, und dass wir am Ende der nächsten
Woche nicht auf der Straße stehen werden. In jedem Fall, danke fürs
Zuhören. Over and out.