13. KAPITEL
Magenta Girls
Vierundzwanzig Stunden später drängte sich Amelie durch das übervolle Lokal zur Damentoilette. Sie befand sich in der Escape Bar, einem beliebten Treffpunkt an der Seepromenade von Brighton. Als sie sich zum Spiegel durchgekämpft hatte, machte sie eine Bestandsaufnahme, die nach dem bisher schon überreichlich geflossenen Alkohol nicht gerade günstig ausfiel. Sie war nun schon seit einigen Stunden mit Claire und deren engsten Freundinnen unterwegs, zuerst in einem Restaurant in The Lanes, wo sie ein köstliches vegetarisches Drei-Gänge-Menü genossen hatten, dann hier in der Bar.
»Ach du meine Güte«, hauchte Amelie erschrocken und kramte hastig ihre Schminkutensilien hervor, um den Schaden ein wenig einzugrenzen. Und während sie dies tat, wurde ihr bewusst, wie viel sie bereits getrunken hatte, wie schwindlig, wie wackelig sie sich fühlte.
Es war alles so verschwommen, aber soweit sie sich erinnern konnte, hatte ein Trinkspruch den anderen gejagt – und hatten sie nicht auch laut grölend die Songs aus Grease gesungen und dazu um die Wette getanzt? Die meisten der Mädchen kannte Amelie sehr gut, nur Claires Studienfreundinnen hatte sie nur ein-, zweimal getroffen. Eins jedoch hatten all diese jungen Frauen gemeinsam, eine Tatsache, die Amelie im Laufe des Abends zunehmend bewusst wurde: Jede Einzelne von ihnen befand sich in einer soliden langjährigen Beziehung. Selbst jene, die nicht verheiratet waren, hatten zumindest schon seit Jahren denselben Freund, lebten sozusagen in gesicherten Verhältnissen. Auf einmal verspürte Amelie ein Schaudern, das nichts mit ihrer Betrunkenheit zu tun hatte. Während sie sich in die Wartenden einreihte, die sich vor dem Waschbecken drängten, wurde ihr jäh klar, dass in nur zwei Wochen ihre beste Freundin vor ihren Augen zum Altar schreiten und ein Leben als Ehefrau beginnen würde.
Amelie beschloss, diesen verstörenden Gedanken fürs Erste zu verdrängen, und machte sich auf den Weg zurück in die Bar. Als sie die Tür aufstieß, schallte ihr »For she’s a jolly good fellow, she’s a jolly good fellow...« entgegen – die Freundinnen brachten Claire einmal mehr ein feuchtfröhliches Ständchen.
Sie setzte ein breites Grinsen auf und erreichte den Tisch gerade rechtzeitig um in das gebrüllte »And so say all of us!« mit einzustimmen.
»Okay, wie wär’s mit noch’ner Runde Tequilas?«, forderte sie die Gruppe heraus, die sogleich lachend und quietschend ihre Zustimmung erteilte.
Und dann, vier Stunden später, waren es nur noch zwei. Als die Kneipe zumachte, waren alle, bis auf Claire und Amelie, ins Hotel zurückgegangen, um dort weiter zu feiern. Die beiden langjährigen Freundinnen dagegen waren durch die Gegend gestolpert, hatten ein Bistro gefunden, das die ganze Nacht offen hatte, und sich mit Bagels gestärkt. Zwei Stunden später verließen sie, gesättigt und benebelt, auch diesen Ort und torkelten die Promenade entlang auf den Strand zu, in der Hand ihre Pink-Lady-Perücken.
»Und du bist dir auch ganz sicher, dass das der Weg zum Hotel ist?«, fragte Amelie misstrauisch.
»Klar, ist gleich da vorn und dann links, bin mir ganz sicher«, lallte Claire und knickte prompt ein. Sie musste sich am nächsten Laternenpfahl festhalten, um nicht hinzufallen. Giggelnd stülpte sie sich ihre wasserstoffblonde Sandy-Perücke auf und lallte: »Weissu was, Am... Amilie? Ich liiiiebe dich! Du... du bis’ die bessste Freundin, die ich je hatte!« Sie blieb stehen und sank dann jäh aufs Pflaster, wo sie in lautes Schluchzen ausbrach.
»He, was ist los mit dir?« Amelie blieb ebenfalls stehen und ließ sich neben Claire auf den Gehsteig sinken. Sie schlang den Arm um ihre Freundin und streichelte ihr übers Haar. »Was hast du denn, Süße?«
»Es, es, es is’ mir plötzlich klar gewor’n. Was, was, was mach ich eigentlich, verdamm’ noch mal?«, rief Claire hysterisch. »Wassum Teufel! In swei Wochen... vier, vier, viersehn Tage! In vier, vier, du weissschon, bin ich nich mehr ich – dann bin ich nur noch die Hälfte von, von, von... von was.«
»Die Hälfte von was ganz Tollem!«, versuchte Amelie ihre hysterische Freundin zu beschwichtigen.
»Aber verstehsu denn nich? Ich hab Scheißangst!«, kreischte Claire. »Was wenn, wenn, wenn... ich’s einfach nich kann?! Wenn ich nu ein’ Riesenfehler gemach’ hab und nich mehr zurück kann?!«
Claire war inzwischen zum Strand hinuntergewankt, wohin Amelie ihr treu gefolgt war. Claire zündete sich schwankend eine Zigarette an.
»He, wo hast du die her? Ich dachte, du hättest längst aufgehört!«, rief Amelie schockiert. »Außerdem raucht Sandy nicht.«
»Die Sandy hier schon! Und dasis mein Junggesellnabschied, verdammochmal. Wenn ich jetzt nich rauchen darf, wann dann?«
»Is ja gut. Aber komm mir das nächste Mal nicht mit Vorwürfen, wenn ich rauche!« Amelie schob Claires Arm unter den ihren, und die beiden wankten den Strand entlang.
»Außerdem ist es nie zu spät, mein Schatz«, sagte Amelie und rammte sich ihre Rizzo-Perücke auf den Kopf, als ob dies helfen würde. »Aber darum geht’s gar nicht. Ich kenne dich, und ich weiß, du hast die richtige Entscheidung getroffen. Du musst es jetzt durchziehen. Schon allein mir zuliebe, weil ich es sage. Du hast einfach nur kalte Füße, das ist normal.«
»Ach, Amelie, ich weiß nicht!«, jaulte Claire und bibberte vor Kälte. Sie blieb stehen und schaute ihre Freundin mit nassen Augen an. »Ich... ich... wenn ich dich anschaue, dann, dann weiß ich nich... ich glaube, ich beneide dich um deine Freiheit. Du kannst gehen, wohin du willst, tun, was du willst, sein, was du willst. Und ich bin drauf und dran, all das aufzugeben …«
»Unsinn!«, rief Amelie heftig. Sie erkannte sich selbst nicht mehr. »Claire, du wirst weiter in jeder Hinsicht frei sein, nur dein Liebesleben wird von jetzt an in geordneten Bahnen verlaufen, das ist alles... Aber das ist perfekt, weil Dan der Richtige für dich ist. Was willst du mehr? Was kannst du mehr wollen?«
»Aber ich hab Angst, dass ich mich eingeengt fühlen werde, dass mich das Eheleben erstickt, dass ich vorzeitig alt und träge werde und -« Claire brach abermals schluchzend zusammen.
Amelie schlang seufzend den Arm um ihre Freundin und wiegte sie tröstend.
»Dir ist doch klar, dass das bloß der Tequila ist, der aus dir spricht, oder? Aber was du sagst, ist vollkommen normal, ja sogar zu erwarten. Morgen ist alles wieder im Lot, wirst sehen.«
Claire holte tief Luft und beruhigte sich ein wenig. Sie hatten sich der Wasserkante genähert und konnten nun hören, wie die Wellen leise an den Strand schwappten. Sie ließen sich auf dem Kieselstrand nieder.
»Aber Amelie, ich bin trotzdem neidisch auf die Freiheit, die du hast, und ich weiß nicht, warum ich so denke.« Sie griff nach einem Kiesel und warf ihn aufs Meer hinaus. »So darf man doch nicht denken, wenn man vorhat, in Kürze vor den Altar zu treten, oder? Ich weiß nicht, ob ich das machen soll, wenn mir solche Gedanken durch den Kopf gehen, das wäre doch schäbig, oder?«
Amelie nahm ein größeres Steinchen und warf es noch weiter aufs Wasser hinaus. »Aber das denkst du ja gar nicht. Du bist bloß betrunken«, sagte sie mit wachsender Gereiztheit.
Claire schüttelte todtraurig den Kopf. Amelie erhob sich und ließ ihren Blick über den mondbeschienen Strand wandern. Dann schmiss sie jäh ihre Perücke zu Boden. »Lass dir eins gesagt sein, Claire Josanna Wilson, ein für alle Mal: Du beneidest mich nicht, ich wiederhole, nicht, um mein schales, deprimierendes, stinkendes, ödes Leben als Single. Das wird so was von überschätzt, es ödet mich an, und ich hab’s satt!!«
Claire schaute erschrocken zu ihr auf und zog sich die Sandy-Perücke herunter, als würde ihr das helfen, das eben Gehörte besser zu verdauen. »Im Ernst?«
»Ja, im Ernst. Glaub mir, Claire, du beneidest mich nicht. Ich weiß, ich tue immer so, als liebte ich meine Freiheit, meine Unabhängigkeit. Als würde ich gerne von einer oberflächlichen Beziehung in die nächste stolpern, ohne je eine wirkliche Bindung zu riskieren... aber mir dämmert allmählich, dass das vielleicht nichts weiter als eine Rolle ist, die ich spiele, dass ich das gar nicht wirklich sein will. Seit Jahren spiele ich schon diese unerschütterliche Zynikerin, die es hasst, zum Speed-Dating zu gehen, die sich zu gut dafür ist, zu gut für all diese neumodischen Ideen in Sachen Partnersuche – dabei bin ich im Grunde meines Herzens eine größere Romantikerin, als jeder andere! Und wenn ich es mir recht überlege, dann kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als den Richtigen, den Einen, der zu mir passt, nicht zu finden. Der eine Mensch, der so unentbehrlich für mich ist, dass ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen will...«
Claire blickte, sichtlich ernüchtert, zu ihrer Freundin auf. Ihre Augen waren, groß wie Untertassen, auf diese ganz neue, nie gekannte Amelie gerichtet. Diese fuhr fort: »So schwer’s mir auch fällt, das zu sagen, aber was du und Dan habt, ist genau so, wie es sein sollte. Ihr habt etwas Wahrhaftiges, etwas Wahres.« Amelie hielt inne und blickte gedankenverloren zu den Sternen hinauf. »O mein Gott!«, rief sie plötzlich und schaute Claire an. Sie grinste spitzbübisch. »Er ist dein Danny Zuco!« Die Ironie des Ganzen war zu viel – Amelie brach in hysterisches Gelächter aus und rief: »He, du bist Sandy und er ist dein Danny! Ihr seid füreinander bestimmt!«
Claire lachte unter Tränen und schaute schon weniger verzweifelt drein.
»Im Ernst, Clairey, du tust das Richtige«, sagte Amelie. »Spätestens morgen wirst du das auch so sehen.«
»Versprochen?« Claire schnüffelte und rang sich ein Lächeln ab.
»Versprochen.« Amelie stand auf und zog ihre Freundin auf die Beine. »Aber jetzt gehen wir zurück zum Hotel, okay? Die anderen werden sich sicher schon fragen, wo wir abgeblieben sind. Immerhin gilt es, eine Minibar zu plündern!«
Arm in Arm schritten sie unsicher über den Kieselstrand zur Promenade zurück. Dort angekommen, wo der Kies in Asphalt überging, blieben sie stehen und umarmten einander. So verharrten sie eine ganze Weile, jede in Gedanken, in Erinnerungen an alte Zeiten versunken. Amelie war es schließlich, die sich als Erste losmachte und ein Taxi heranwinkte.