14. KAPITEL
Präsentationen
Daheim, Dienstag, 1. Februar, 11:00 Uhr
 
Die letzten Tage waren seltsam. Lande allmählich wieder im Büroalltag, nachdem ich meinen ersten Junggesellinnenabschied mehr oder weniger heil überstanden habe. Einmal abgesehen von dem unterirdischen Kater, den ich ganze zwei Tage lang mit mir rumgeschleppt habe. Aber den Leberschaden war’s wert – es war ein wirklich lustiges und, ja, nostalgisches Wochenende, und es war schön, Claire mal wieder so richtig in ihrem Element zu erleben. Selbst wenn der Abend damit endete, dass ich in die surreale Rolle der Streiterin für die Institution Ehe gedrängt wurde! Der Alkohol treibt wahrlich seltsame Blüten... muss def. zurückschrauben, so bald wie möglich...
Aber ich hab noch mehr zu berichten, liebes Tagebuch. Komme gerade von dem Treffen mit Jack heim und fühle mich mehr als nur ein wenig angeschlagen. Wir haben uns in Little Italy getroffen. Eigentlich wollten wir uns in Camden treffen, aber dann ist wieder was im Büro dazwischengekommen, und ich konnte mich nicht rechtzeitig losmachen. Okay, ich kam zwei Stunden zu spät. Aber das ist für Jack ja nichts Neues. Er ist immer schon besser mit meiner Unpünktlichkeit zurechtgekommen als jeder andere.
Als ich ankam, saß er auf einem Barhocker und blätterte lustlos in einer Zeitung. Da er mich noch nicht gesehen hatte, nutzte ich die Gelegenheit, ihn ungestört zu beobachten und ein wenig zu Atem zu kommen, nach all dem Gehetze und Gerenne. Ich stand draußen und beobachtete ihn durchs Fenster. Ich sah, wie er die Zigarette zum Mund führte, wie er inhalierte. Er fuhr mit der Hand durch sein dichtes, dunkelbraunes Haar und warf einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr. Während ich so draußen in der Kälte stand und den Mann anstarrte, der einst meine ganz große Liebe war, musste ich mir eingestehen, dass er immer noch sehr gut aussah. Und in diesem Moment beschloss ich, stark zu bleiben. Nein, auf keinen Fall würde ich mich wieder in diesen Strudel, in diese Welt hineinziehen lassen, egal wie gut er auch aussah. Egal, was er sagte, egal, was für Gefühle ich hatte. Ich war fest entschlossen, Jack Halliwell in der Vergangenheit zu belassen, wo er schon seit drei Jahren weilte. Als ich die Tür aufstieß und eintrat, sah ich, wie er zusammenzuckte und aufblickte, um den Neuankömmling zu mustern.
Als er mich sah, stand er auf und streckte mir mit einem nervösen Lächeln die Hand entgegen. Ich setzte ein selbstbewusstes Lächeln auf und sagte: »Hallo, Fremder. Verzeih, dass ich mich so verspätet habe.«
Er zuckte mit den Schultern, wie um zu sagen, er habe nichts anderes erwartet. Dann half er mir, ganz Gentleman – eine überraschend neue Seite an ihm -, aus dem Mantel. Wir nahmen in einer Sitznische Platz.
»Ich dachte, du rauchst nicht mehr. Du hast doch neulich gesagt -«, begann ich leichthin, um dem Gespräch einen oberflächlichen Verlauf zu geben.
»Ich hab wieder angefangen«, gestand er, offensichtlich beschämt über seinen Mangel an Selbstkontrolle. »Das Wiedersehen mit dir hat mich daran erinnert, wie gern ich früher geraucht habe, wie schön es war. Vielleicht ist es auch eine kleine Rebellion gegen Penny, die es mir nie gestattet hat. Kindisch, ich weiß.«
Nachdem wir also diese unangenehme Hürde überwunden hatten und das heimtückische Biest, das unsere Beziehung zerstört hatte, einmal erwähnt worden war, konnten wir unbekümmert über anderes plaudern, was zu meiner Überraschung auch ganz gut klappte. Leider jedoch merkte ich, als der Kellner auftauchte, dass ein Kaffee das Letzte war, was ich nach all den im Büro genossenen Tassen trinken wollte. Als Jack sich daher ein Glas Pinot Grigio bestellte, schloss ich mich leichtsinnigerweise an, was alles andere als klug war, hatte ich doch seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Der Kellner meinte, ob wir nicht gleich eine ganze Flasche bestellen wollten, das käme billiger? Jack stimmte zu und behauptete, wir müssten ja nicht alles trinken. Nicht lange und der auf nüchternen Magen genossene Alkohol versetzte mich auf Wolke sieben. Ich ertappte mich dabei, wie ich herzlich über Jacks alberne Witze lachte und mich auch sonst köstlich amüsierte. Doch war die Stimme der Vernunft, wenn auch leise, noch nicht ganz verstummt: Was war mit meinen Vorsätzen? Was war mit dem schnellen Espresso an der Bar und dann wieder weg?
Etwas später schaute mir Jack ein wenig zu intensiv in die Augen und sagte: »Weißt du, was komisch ist? Ich vermisse sogar deine Unpünktlichkeit. Deine Zerstreutheit, deine Schlamperei – ja, das fehlt mir. Penny war immer so ordentlich, hatte immer alles von vorne bis hinten durchorganisiert, war nie zu spät, wollte immer – wie sie es nannte – ›dem Leben einen Schritt voraus sein‹. Das wurde am Ende ziemlich ermüdend. Erst jetzt wird mir klar, Am, dass es deine Schrullen sind, die dir einen so einzigartigen Charme verleihen. Ja, das gehörte definitiv zu den Dingen, die ich am meisten an dir liebte. Immer noch liebe...« Er blickte mich aus großen blauen Augen erwartungsvoll, ja hoffnungsvoll an.
»Ach, jetzt hör aber auf, Jack«, widersprach ich hastig, »das hat dich wahnsinnig gemacht, weißt du nicht mehr? Du siehst das Ganze einfach durch die rosarote Brille. Außerdem«, log ich dreist, »bin ich längst nicht mehr so schlampig und unordentlich. Ich bin seitdem ein ganzes Stück erwachsener geworden. Ich weiß jetzt, was Verantwortung heißt.«
Jack bedachte mich mit einem liebevoll-skeptischen Blick. Seine hellblauen Augen huschten über meine fleckige, abgestoßene Handtasche, die angeschnäuzten Tempos, die daraus hervorquollen, den Hals der leeren und verbeulten Mineralwasserflasche, Haufen von Notizzetteln sowie die noch nicht ganz verblasste Schrift auf meinem Handrücken, wo ich mir gestern etwas mit Kuli notiert hatte. Er sagte: »Ja, ich kann sehen, dass du heute besonders ordentlich und smart bist. Ich bin beeindruckt.«
Ich dankte ihm für das nette Kompliment und steuerte die Unterhaltung rasch in klarere Gewässer. Ein paar Minuten lang lief alles prima, ja, wir lachten fast wie in alten Zeiten. Doch es dauerte nicht lange, und er kam wieder auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen: dass er mich wiederhaben wollte.
»Jack«, sagte ich erschöpft, »ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht darüber reden will. Können wir nicht einfach Freunde sein? Uns über die alten Zeiten unterhalten?«
»Bitte, Am. Gib mir nur drei Minuten.«
Ich überlegte. »Na gut, wenn’s unbedingt sein muss. Aber keine Sekunde mehr!« Ich gebe zu, ich war doch ein klein wenig neugierig.
»Hör zu, bitte fass das jetzt nicht falsch auf«, hob er an, ganz wie der Anwalt im Gerichtssaal, der zu einer neuerlichen Attacke ausholt. »Aber ich habe in letzter Zeit viel über die letzten Wochen unserer Beziehung nachgedacht. Und ich muss zu meiner Verteidigung sagen, dass du nie, aber auch nie zuhause warst. Du warst andauernd im Büro. Und selbst wenn du nicht im Büro warst, warst du mit dem Kopf bei der Arbeit. Nie hattest du Zeit für uns.«
Ich hörte mir das mit weit aufgerissenen Augen an. Er fuhr gnadenlos fort: »Und immer wenn ich dich im Büro anrief, um zu sehen, wie’s dir geht oder um Pläne zu machen, hast du versucht mich abzuwimmeln, gabst mir das Gefühl, dass ich ganz weit unten stand auf deiner Prioritätenliste. Kannst du dir vorstellen, wie vernachlässigt ich mich gefühlt habe? Kannst du dir vorstellen, dass man in einer solchen Situation anfällig für einen Seitensprung wird?«
Bimmbamm, da geht die Glocke. Das war’s, deine Zeit ist um, Jack Halliwell. »Jack, ich kann mir das nicht länger anhören. Ich muss gehen.« Ich griff nach meiner Tasche und meinem Schal. Ich war zwar betrunken, aber so betrunken nun auch wieder nicht, um nicht zu erkennen, dass ich mich vor seiner märchenhaften Logik schützen musste.
»Aber ich bin noch nicht fertig. Den besten Teil meiner Verteidigung hast du ja noch gar nicht gehört -«
Ich musste an mich halten, um nicht in Lachen auszubrechen. »Jack, du bist hier nicht im Gerichtssaal! Du kannst mich nicht dazu überreden, dich wieder zu lieben! Da helfen keine schönen Worte, kein sorgfältig ausgearbeitetes Plädoyer.«
Er sah aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. »Also gut. Vergiss die Argumente. Was ist mit meinen Gefühlen?«
Ich wandte den Blick ab, konnte ihm nicht in die Augen sehen, starrte auf mein fast leeres drittes Glas Wein, auf die Bläschen, die in feinen Fäden aufstiegen, während er mir erklärte, dass er noch nie in seinem Leben jemanden so sehr geliebt habe wie mich, nie jemanden so sehr lieben könnte wie mich. Ich merkte, wie mir schwindlig und ein wenig übel wurde. Ich erhob mich abrupt. Leicht schwankend sammelte ich meine Sachen zusammen, doch die Tasche rutschte mir aus der Hand, und eine Flut von Taschentüchern und Zetteln ergoss sich auf den Fußboden.
»Leb wohl, Jack, es war nett dich wiederzusehen.« Ich bückte mich, raffte hastig die wichtigsten Sachen zusammen und eilte zur Tür. Jack sprang auf und rannte mir nach, meine rote Wollmütze in der Hand, die er mir fast väterlich liebevoll über die Locken stülpte. »Sag mir, dass es dir nicht ebenso geht. Am, schau mich an und sag mir, dass du mich nicht auch noch liebst.« Er schaute mir tief in die Augen, legte seine Hand halb auf meine Wange, halb an meinen Hals, wie er es früher immer getan hatte.
Ich blickte zu ihm auf, betete um Stärke, um Standhaftigkeit. »Jack, du hast mir das Herz gebrochen!«, hörte ich jemanden schreien. Im Lokal wurde es still, ich blickte mich um, und mir wurde klar, dass ich es war, die diese Worte geschrien hatte. Ich räusperte mich und sagte leiser, »hör zu, keine Rede und mag sie noch so brillant verfasst sein, kann wiedergutmachen, was geschehen ist.«
Eine Traurigkeit stieg in seinen Augen auf, die ich nie zuvor darin gesehen hatte. »Ich werde dich nie wieder mit denselben Augen sehen können wie früher. Tut mir leid, dass du immer noch Gefühle für mich hast, aber für mich ist das vorbei. Es ist zu spät, Jack.«
Tränen traten in seine Augen, und mir ging es ebenso. Ich gab ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. Gott, es war schrecklich, ihm so weh zu tun, es drückte mir das Herz ab. Es war genauso schlimm, als würde man seinen Vater oder seine Mutter weinen sehen. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass er genau das war. Mehr ein Verwandter, ein guter Freund. Jemand, der mich sehr gut kannte; in vieler Hinsicht besser als ich mich selber. Ich weiß jetzt, dass er nicht der Eine für mich ist. Warum? Der Funke. Er war weg. Als er mich beim Abschied, bevor ich Hals über Kopf in die Dunkelheit flüchtete, leidenschaftlich küsste, merkte ich es: Der Funke war so gut wie erloschen.