5. KAPITEL
Alarmglocken
Date: 17. Januar 2005, 11:35
Sender: Cwilson@MarshallHopkins.co.uk
To: Holden.Amelie@LGMKLondon.com
Subject: Neuigkeiten
Hast du heute Abend Zeit? Ich muss dir was
Wichtiges erzählen. Wie wär’s in der All Bar One, nach der Arbeit?
Gib mir Bescheid x
»Klingt ominös«, brummelte Amelie und schickte
sofort ihre Antwort:
Cool, bis dann
x.
Erst da kam ihr der Gedanke, dass dies bedeutete,
den Ort des Horrors vom vergangenen Freitag wieder aufsuchen zu
müssen. Ihr Magen krampfte sich unwillkürlich zusammen. Aber da sie
Claire schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte, beschloss sie,
ihretwegen dieses Opfer zu bringen. In diesem Moment klingelte das
Telefon und brachte das Fließband ihrer surrealen Reminiszenzen jäh
zum Stocken.
Wer mag das sein, dachte Amelie und schaute aufs
Display. Die Nummer war ihr unbekannt. »Ah, das ist sicher eine von
diesen Design-Agenturen, die uns was verkaufen wollen«, sagte sie
zu Duncan, der dies mit einem ernsten Nicken quittierte.
Sie hob ab und sagte vorsichtig: »Hallo, hier
spricht Amelie …«
»Was läuft, Amelie? Hier is Maffew«, nuschelte
eine ihr unbekannte Stimme.
»Wie? Matthew... Matthew, wer?«
»Maffew Hunt. Weißt schon. Von Freitag. All Bar
One.«
»Ach! Ja. Hallo.« Amelies Augen waren groß wie
Untertassen.
»Also, sollen wir uns dann mal treffen,
was?«
Amelies Hand, die den Hörer hielt, zuckte zurück.
Sie musterte ihn, als habe er sie gebissen. So schnell? Ohne
Präliminarien? Oder hatte sie was übersehen?
»Also, um ehrlich zu sein, ich habe im Moment
furchtbar viel zu tun, jetzt wo Ostern vor der Tür steht, also...
äh...«
»So’n Pech. Was soll’s. Ruf mich an, wenn du was
Zeit hast, okay?«
»Okay. Klar«, antwortete Amelie verdattert. Dann
fiel ihr ihre wissenschaftliche Recherche ein, und sie erkundigte
sich neugierig: »Also... äh, nur so aus Interesse, aber wie hast du
meine Nummer rausgekriegt?«
»Na, du hast LGMK gesacht, oder nich? Hab bei der
Auskunft angerufen und mich mit der Rezeption verbinden lassen,
oder?«
»Ah! Ach so. Tut mir schrecklich leid, Matthew,
aber im Moment ist es grade total ungünstig. Könntest du ein
andermal anrufen? Danke.« Sie legte schaudernd den Hörer auf und
Duncan brach in haltloses Gelächter aus.
»Ostern!«, rief er. »Ostern steht vor der Tür?! Es
ist grade mal Januar!«
»Was sollte ich sonst sagen? Mir ist auf die
Schnelle nichts Besseres eingefallen!«
»Wer war denn das?«, fragte Duncan beunruhigt. »Du
hättest mal dein Gesicht sehen sollen – ein Bild des
Grauens!«
»Willst du die Wahrheit wissen? Ich hab keine
Ahnung. Ich meine, theoretisch haben wir uns natürlich kennen
gelernt. Aber im Grunde könnte es wer weiß wer sein.«
»Gott, wie du dich angehört hast, das war einfach
unbezahlbar! Du hättest ihn auf Lautsprecher schalten sollen!
Versprich mir, dass du ihn nächstes Mal auf Lautsprecher
schaltest!«
»Der Himmel möge verhüten, dass es je zu einem
nächsten Mal kommt.«
Duncan machte eine besorgte Miene. »Und wenn er
noch mal anruft?«
»Ach, das macht der sicher nicht. Wenn ihn das
nicht abgeschmettert hat, dann weiß ich auch nicht...«
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Eine Stunde später saßen Duncan und Amelie
schweigend in ihre Arbeit vertieft an ihren Schreibtischen. Da
klingelte abermals das Telefon. Sie tauschten einen nervösen Blick.
Als Amelie jedoch sah, dass es lediglich die Rezeption war, stieß
sie erleichtert hervor: »Alles klar, das ist bloß Chloe.«
Amelie hob ab. »Hallo, Chloe, alles klar?«
»Klar... pass auf, bist du im Moment gerade sehr
beschäftigt?«
»Nu ja, wir sind beim Brainstorming, also nö,
eigentlich nicht... wieso? Was gibt’s?«
»Also«, Chloe hielt einen Augenblick inne, wie um
sich zu sammeln, »erwartest du jemanden? Jemanden – namens Maffew?«
Eine Pause trat ein, und Amelie hörte, wie Chloe sich kurz mit
jemandem unterhielt. Dann war sie wieder dran: »Tut mir leid, ja,
natürlich. Ein Matthew Hunt ist hier, um dich zu sehen. Will nicht
sagen, von welcher Agentur er kommt … und... ich glaube nicht, dass
er ein freier Mitarbeiter ist oder ein Fotograf, denn er hat keine
Mappe bei sich. Also, ich weiß nicht recht, was er hier zu suchen
hat, aber... soll ich ihn zu dir raufschicken?«
»O Gott, nein! Großer Gott, nein! Mach das ja
nicht!«
Duncan starrte Amelie aus neugierig funkelnden
blauen Augen an. Amelie formte die Worte: »Das ist er« – und Duncan
fing prompt an zu wiehern. Amelie zischte: »Pssst!«, und hielt sich
den Hörer wieder ans Ohr. »Äh, pass auf, ich weiß auch nicht, was
der hier zu suchen hat... aber ich will nicht, dass du dich damit
rumschlagen musst – ich komme kurz runter und nehm ihn mir zur
Brust. Keine Sorge, bin in zwei Sekunden bei dir...« Amelie legte
auf.
»Wow, Amelie, dein ganz persönlicher Stalker. Wie
trendy. Ich will auch einen«, neckte Duncan Amelie, die sich
bereits erhoben hatte. Sie schlug ihm im Vorbeigehen spielerisch
die Baseballkappe vom Kopf.
Kurz darauf trat Amelie aus dem Lift. Doch bevor
sie sich in die gepflegte weiße Eingangshalle wagte, beschloss sie,
sich diesen komischen, militantesten aller Speed-Dater erst einmal
heimlich anzusehen und schlich lautlos hinter eine der wei ßen
Säulen. Da sie sich so gut wie an keinen der Männer erinnern
konnte, hatte sie keine Ahnung, wie er wohl aussehen mochte. Nur
zwei Dinge waren gewiss: Er wusste, wo sie arbeitete, also musste
er zu den wenigen »Auserwählten« gehören, denen sie die Wahrheit
über sich selbst erzählt hatte. Was bedeutete, sie musste sich
nicht die Mühe machen, so zu tun, als sei sie ein Mitglied des
Birmingham Royal Ballet, eine erfolgreiche Schmuckhändlerin oder
Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr von Chelmsford. Und das Zweite
war, sie musste diesen Typen so schnell wie möglich wieder
loswerden. Jeder, der – ohne die geringste Ermunterung – solche
Anstrengungen unternahm, ein Mädchen wiederzusehen, mit dem er kaum
drei Minuten lang gesprochen hatte, musste entweder eine Schraube
locker haben – oder exzessiv romantisch sein.
Sie tippte auf Ersteres.
Besorgt kauerte sie hinter der Säule und musterte
den gro ßen, dünnen Burschen mit beginnender Halbglatze in der
grellorangen Steppjacke, der auf dem weißen Empfangssofa lümmelte,
müßig in der Sun blätterte und sich dabei
am Kopf kratzte. Verblüfft schaute sie zu, wie er sich mit einem
Mal energischer zu kratzen begann und dann – Schreck lass nach – zu
kratzen aufhörte und die Schuppen inspizierte, die in einem leisen
Schauer auf seine Handfläche gerieselt waren. Dann, ohne auch nur
auf den Gedanken zu kommen, sich davon zu überzeugen, ob er auch
wirklich unbeobachtet war, blies er die Schuppen von seiner Hand
auf das weiße Sofa.
Lieber Gott, dachte Amelie, von jäher Religiosität
erfüllt, bitte lass nicht zu, dass er das ist. Oder falls doch,
hilf mir zu verstehen, warum dieser Mensch ausgerechnet an mir
interessiert sein könnte? Was kann ich nur getan haben, um das zu
verdienen?
Doch während Amelie noch mit dem grausamen
Schicksal haderte, strich plötzlich jemand an ihr vorbei, und sie
machte einen erschrockenen Satz.
»Amelie?«, dröhnte Josh laut genug, dass es durch
die ganze Eingangshalle schallte. »Warum verstecken Sie sich hinter
dieser Säule? Hoffen Sie hier Inspiration zu finden?«
»Ich?« Amelie stieß ein lautes, verlegenes Lachen
aus und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass der Mensch in der
orangen Skijacke nervös auf seinem Sitz hin und her zu rutschen
begann. O nein, er war es also doch.
»Ach, ich? Also, ich verstecke mich doch nicht.
Ich hab nur... hab nur... wollte mich nur kurz in dem Spiegel da
anschauen!« Sie deutete auf die große Spiegelwand, die von ihrer
Position aus gerade noch in Sichtweite war. »Aber ich hab jetzt
keine Zeit für ein Schwätzchen – muss mich mit einem freien
Mitarbeiter treffen«, sagte sie mit fester Stimme, als wäre das
Thema damit erledigt. Dann marschierte sie quer durch die
Eingangshalle zum schlaksigen Schuppenkratzer und umarmte ihn in
Todesverachtung. »Na so was! Matthew! Wie geht’s, altes Haus?
Danke, dass du so kurzfristig kommen konntest!« Matthew sah aus,
als wär’s plötzlich Weihnachten, wurde jedoch rot, als er Joshs
durchdringenden Blick auf sich fühlte.
Amelie wollte den Mann so schnell und effizient
wie möglich wieder loswerden. Wenn das ihr zweites Date war, dann
sollte es, wenn es nach ihr ging, ebenfalls höchstens drei Minuten
dauern. Entschlossen sagte sie: »Komm, wir gehen kurz in dieses
Konferenzzimmer hier. Du magst doch sicher einen Kaffee, oder? Ich
hole dir rasch einen aus dem Automaten. Wie war das noch gleich,
schwarz mit einem Stück Zucker?« Und ehe Maffew es sich versah,
hatte sie ihn in das betreffende Zimmer geschubst und die Tür fest
hinter ihm zugemacht.
Als sie sich umdrehte, sah sie Joshs
verständnislosen Blick auf sich ruhen. »Was?«, stieß sie trotzig
hervor und stakste zur Kaffeemaschine. »Er ist hier, um über Fast
Love zu reden. Hat ein paar interessante Feldforschungen für mich
gemacht.«
Josh wandte sich kopfschüttelnd ab, und Amelie
verschwand in Konferenzzimmer 2 und zog die Tür hinter sich
zu.
Wenig später saßen sie und Maffew einander auf
Plastikstühlen gegenüber; Dampf stieg von den Pappbechern mit
synthetischem Kaffee auf und gesellte sich der stickigen Luft in
dem kleinen Raum hinzu.
»Also, wann sollen wir uns dann treffen?«, hob
Maffew an. Amelie rückte ihren Stuhl unmerklich ein wenig weiter
zurück. »Na, wir treffen uns doch gerade, oder? Ich meine, wir
sitzen hier zusammen, nicht?«
»Ja, schon. Aber ich meine ein richtiges Date,
oder?«
»Oh. Ach. Ich bin im Moment ziemlich
beschäftigt... wüsste nicht, wann ich in absehbarer Zeit...« Da
fiel ihr ein, dass sie dies ja aus Forschungszwecken begonnen hatte
und sagte: »Äh, wie wär’s, wenn wir uns einfach gleich jetzt ein
bisschen unterhalten würden? Mal sehen. Was machst du? Ich meine,
wo arbeitest du?«
»In Slough.«
»Ach, wie nett. Und was machst du
beruflich?«
»Ich hab mit Büchern zu tun.«
»Ach, tatsächlich? Dann arbeitest du im
Verlagswesen? Das macht sicher Spaß.«
»Ja, schon. Obwohl, so richtig hab ich nich mit
Büchern zu tun. Kann Bücher nich aussteh’n, um ehrlich zu sein. Die
sind total öde, oder? Obwohl ich das eigentlich nich beurteilen
kann, hab ja nie eins gelesen. Bloß mal in der Schule, irgend so
einen Dickens-Quatsch. Das hab ich aber nich fertig gelesen, also
zählt’s eigentlich nich. Ich hab’s mehr mit DVDs und
Computerspielen, da kapiert man wenigstens, worum’s geht, oder?
Außerdem, wenn man den ganzen Tag lang geschuftet hat, will man
doch nich auch noch in seiner Freizeit sein Hirn anstrengen,
was?«
»Verstehe.« Amelie musste ein Lächeln
unterdrücken. »Aber wenn du so gar nichts für Bücher übrighast,
wieso arbeitest du dann in einem Verlag?«
»Es is nich direkt ein Verlag. Ich arbeite bei
Amazon. Bücher verpacken.«
»Ach so.« In diesem Moment wurde Amelie bewusst,
wie viel sie im Grunde zu tun hatte, und, nun ja, nichts gegen
Maffew, aber sie fragte sich allmählich, wie weit sie es mit ihrer
»Freundlichkeit um der Recherche willen« eigentlich treiben
musste.
»Also, nett, dass du da warst, Matthew, aber...
ich fürchte, ich muss mich jetzt wieder an die Arbeit machen.
Danke, dass du vorbeigeschaut hast.« Sie rang sich ein verzerrtes
Grinsen ab, doch er schien den Wink nicht verstanden zu haben und
rührte sich nicht vom Fleck. Da setzte sie ein bedauerndes Lächeln
auf und sagte so schonend wie möglich: »Hör zu, es tut mir leid,
aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das mit uns irgendwas
werden könnte.« Als sie sah, wie Matthews Miene in sich
zusammenfiel, würgte sie hastig – und in Todesverachtung – hervor:
»Es liegt nicht an dir...«
»Doch... es liegt an mir«, sagte er in einem Ton,
als hätte er das schon zu oft erlebt – ein verbitterter Veteran an
den Fronten der Liebe. Er erhob sich, nahm seine Jacke von der
Stuhllehne und ging. Amelie starrte schuldbewusst auf die beiden
dampfenden Kaffeebecher hinab. Sie kam sich wie ein Schuft
vor.
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Stunden später saßen Amelie und Duncan immer noch
an ihren Schreibtischen. Duncan malte zerstreut Sternchen auf
seinen Zeichenblock, während er gleichzeitig mit leerem Blick aus
dem Fenster starrte. Amelie beschäftigte sich derweil damit,
abwechselnd Duncan und seine ausgebleichten Turnschuhe anzustarren.
Glücklicherweise hatte inzwischen die heilende Wirkung des
Vergessens eingesetzt, was ihre surreale Begegnung mit Maffew
betraf. Während Amelie müßig die zerfransten Enden von Duncans
grünen Schnürsenkeln studierte, fiel ihr etwas ein, das sie vor
einiger Zeit einmal in einem Buch über Werbung gelesen hatte. Darin
hieß es, dass jeder Kreative etwa ein Viertel seiner Zeit damit
zubringe, die Schuhe seines Kreativpartners anzustarren. Damals
hatte sie das für einen albernen Scherz gehalten, doch nun musste
sie zugeben, dass da was dran war.
»Ich glaube, heute kommen wir nicht weiter«, sagte
Amelie schließlich, Duncan aus seinen Tagträumen reißend. »Ich
würde sagen, machen wir Schluss und fangen wir morgen noch mal ganz
frisch an.«
»Gute Idee. Mein Gott, ist es schon so spät? Ich
muss sowieso gehen«, sagte Duncan zur großen Wanduhr hinblickend.
»Und – hast du heute Abend was vor?«
»Ich treffe mich mit Claire. Wieso, was hast du
vor?«, fragte Amelie misstrauisch, als sie sah, dass Duncan rot
wurde.
»Weiß noch nicht... wahrscheinlich gehe ich aus«,
erwiderte Duncan ausweichend und blickte überallhin, nur nicht
Amelie an, was er immer dann tat, wenn er etwas zu verbergen
versuchte.
»Was soll das heißen, du weißt nicht?« Amelie
musterte Duncans rote Backen. »Hat Dunky sich etwa ein Slow Date
eingefangen?«
»Du spinnst ja. Ich gehe doch nur mit Max und
seiner Freundin Audry essen. Aber er meinte, vielleicht kommt auch
ihre Schwester mit. Nichts weiter.«
Max, der in der Buchhaltung von LGMK arbeitete,
war Duncans bester Kumpel. Da dieser nun schon seit sechs Jahren
eine Freundin hatte, versuchte er öfters, mit mehr oder weniger
großem Erfolg, Duncan an seine weiblichen Bekannten zu
verkuppeln.
»Oh, du meinst die ach so glamouröse Sara-Jayne,
die Fashion-Einkäuferin aus New York?«, bohrte Amelie nach, während
sie in ihre Jacke schlüpfte und ihren Schreibtisch ein wenig
aufräumte.
»Ja, das ist sie. SJ, so will sie genannt werden.
Es scheint, als hätte sie vor, wieder hierher zurück zu ziehen«,
erklärte Duncan, während sie sich auf den Weg zum Lift
machten.
Sie schlenderten an all den Workstations, die das
Großraumbüro besiedelten, vorbei und auch an dem neuinstallierten
Ballspielbereich mit Basketballkorb, eine »Inspirationszone«, die
sie Josh zu verdanken hatten. Als sie an Joshs großem Eckbüro
vorbeikamen, sah Amelie, dass die Tür ein wenig offen stand. Josh
saß an Janas altem Schreibtisch, in Janas altem Büro. Amelie war
traurig zu sehen, wie schnell er offenbar Janas Möbel losgeworden
war und durch seine eigenen Sachen ersetzt hatte. Und was für
Sachen! In einer Ecke stand ein poppig bemaltes Didgeridoo, daneben
eine große, mit Aborigenes-Schnitzereien verzierte Bongotrommel.
Und schließlich, im großen sonnigen Erkerfenster, das auffallendste
Stück von allen: eine rotlila Batik-Hängematte, direkt aus der Khao
San Road in Bangkok. Amelie verdrehte verächtlich die Augen. Josh
saß eifrig kritzelnd über seinen Notizblock gebeugt, offenbar
vollkommen in eine zündende Idee vertieft. Amelie wandte den Blick
ab und flüsterte Duncan, während sie zum Lift gingen, zu: »Wozu hat
er all das Zeugs hierher geschleppt? Dieser Angeber!«
Duncan zuckte die Schultern und erwiderte: »Ich
finde es cool – ein Schrein für das einfache Leben! Und überhaupt,
du bist doch auch herumgereist, oder? Warum kritisierst du ihn
dafür, dass er an den Sachen hängt? Hast du nicht gehört, wie er
sagte, wir könnten uns jederzeit in die Hängematte legen, wenn er
nicht da ist? Ich finde, das ist ein wunderbarer Ort zum
Nachdenken, oder?«
»Na ja, kann sein«, brummelte Amelie, während sie
den Lift betraten. »Tut mir leid, Dunc, aber ich mag den Mann
einfach nicht. Mir gefällt seine Einstellung nicht.«
Duncan zuckte gleichgültig die Achseln, und
Sekunden später traten sie aus dem Lift in die Eingangshalle.
»Tschüss, Chloe! Bis morgen«, rief Duncan der
schüchternen australischen Praktikantin zu, die nach Fleurs
Beförderung zu Joshs PA an den Empfang gesetzt worden war.
Chloe blickte schuldbewusst von der epischen
E-Mail auf, die sie gerade an ihre Freunde in Melbourne schrieb,
und strich sich das Blondhaar aus den Augen. »Ach, ihr seid’s! Ja,
bis morgen, schönen Abend wünsche ich!« Sie lächelte. Da begann das
Telefon zu piepen, und sie setzte sich hastig die Kopfhörer auf.
Mit einem gespielten Verdrehen der Augen flötete sie: »LGMK, was
kann ich für Sie tun?«
»Gehst du auch zur U-Bahn?«, fragte Duncan.
»Nein, ich hab dir doch gesagt, dass ich mich mit
Claire in der All Bar One treffe.« Sie verließen den Soho Square
und bogen in die Frith Street. Es war bereits dunkel, und eine
kalte, klamme Januarkälte hatte die Stadt im Griff.
»Ach, Am, bist du sicher, dass ich dich nicht
begleiten soll? Er könnte schließlich irgendwo da draußen lauern,
hinter einem Laternenpfahl, und nur darauf warten, dich
anzuspringen!«
»Wer?«, fragte Amelie unschuldig. Sie hatte die
Vorfälle des Tages bereits vergessen.
»Na, Maffew – dein Stalker natürlich!«
»Ach, jetzt mach dich nicht lächerlich! Der hat
mich doch längst vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn.«
»Ruf mich an, wenn du mich brauchst«, sagte
Duncan, sichtlich um Ernst bemüht, dennoch brach ein freches
Grinsen hervor. Als sie die Old Compton Street erreicht hatten,
verabschiedeten sie sich voneinander und gingen getrennte Wege.
Amelie vergaß jedoch nicht, Duncan genüsslich viel Glück für sein
»Slow Date« zu wünschen.
Dann wanderte sie durch die geschäftigen Straßen
von Soho, mit ihren Cafés und Bars und Restaurants, voll von
fröhlich schwatzenden Leuten, die auf Sofas lümmelten oder an
Tischen zusammensaßen. Abermals fiel ihr auf, wie viele davon
Pärchen waren. Nein, das kümmert mich nicht, sagte sie sich
entschlossen, zündete sich eine Zigarette an und kuschelte sich
tiefer in ihre Jacke. Nein, sie war gerne Single. Stalker oder
nicht Stalker, sie war erfolgreich, glücklich, unabhängig und
frei.
Als Amelie in der All Bar One eintraf, saß Claire
bereits an ihrem Lieblingstisch am Fenster, vor sich eine Flasche
Pinot Grigio und zwei volle Gläser. Als Amelie auf ihre Freundin
zuging, fiel ihr auf, dass diese aufgeregt zu sein schien, nicht
ihr übliches, gelassenes Selbst – sie trommelte nervös mit den
Fingern auf die Tischplatte und warf ungeduldige Blicke auf ihre
Armbanduhr.
»Entschuldige, ich bin zu spät. Wieder mal im Büro
aufgehalten worden«, verkündete Amelie, während sie sich aus Jacke
und Schal wickelte.
»Ja, ja, blabla«, sagte Claire schmunzelnd. Seit
sie sich kannten, hatte Amelie es so gut wie nie geschafft,
pünktlich zu sein – was sie auf ihre »starke künstlerische Ader«
zurückführte.
»Na jedenfalls, Prost!«, sagte sie und hob ihr
Glas. Amelie setzte sich.
Man stieß an. »Danke, Schätzchen. Also, was hast
du mir so Wichtiges mitzuteilen? Raus damit, die Spannung bringt
mich fast um!«
Claire grinste nur.
»Ist es die Beförderung, für die du so hart
gearbeitet hast?«, fragte Amelie.
Claire schwieg, doch ihr Grinsen wurde womöglich
noch breiter.
»Das ist es, oder? Du hast die Beförderung
gekriegt!«, quiekte Amelie freudenstrahlend. »O Mann! Du bist ja
auch so gut, ich hab’s dir doch immer gesagt! Ich wusste, du
kriegst den Job! Und – was hat diese Ziege Katie dazu gesagt? Die
ist jetzt sicher grün vor Neid!«
Claire sagte immer noch nichts. Sie ergriff mit
der linken Hand ihr Glas und führte es zum Munde.
»Was ist? Warum sagst du nichts? Ich hab Recht,
oder?«
Claire wedelte grinsend mit den Fingern, die das
Glas umspannten. Sie schien auf eine Reaktion von Amelie zu warten.
Ihre Augen funkelten beinahe so hell wie der Diamantring an ihrem
Finger.
»Ach du großer Gott!«, kreischte Amelie. »Ist es
das, was ich glaube? O mein Gott, Claire!«
»Dan hat mich gestern Abend gefragt!«, stieß
Claire strahlend hervor. »Ich weiß, was du denkst; was du sagen
wirst. Aber ganz ehrlich, Am, ich war mir noch nie im Leben so
sicher, noch nie. Ich wusste, dass er seit Paris darüber nachdachte
und dachte zuerst, ich sei vielleicht noch nicht bereit... aber
dann hat irgendwas in mir ›klick‹ gemacht, und ich wusste, dass ich
bereit war, zu heiraten. Ja, ich sehe überhaupt keinen Grund, noch
länger damit zu warten!«
»Ach, Claire, ich weiß gar nicht, was ich sagen
soll«, stammelte Amelie. Als sie sah, wie sich Enttäuschung auf
Claires Miene breitmachen wollte, fügte sie hastig hinzu: »Aber du
weißt hoffentlich, wie sehr ich mich für dich freue, oder?« Amelie
stand auf und umarmte ihre Freundin herzlich. »Es ist toll,
ehrlich. Ich war bloß so überrascht. Aber... ich kann mir keinen
besseren Mann für dich vorstellen, Claire. Du verdienst den besten,
ehrlich.« Amelie erschauderte und sagte: »Igitt, wie ich mich
anhöre – all diese Klischees!«
»Manchmal sind gerade die am passendsten«, sagte
Claire. »Ich weiß, wie du über die Ehe denkst, Amelie, du hast mir
oft genug damit in den Ohren gelegen, aber...«
»Ja, ich weiß«, sagte Amelie. »Aber irgendwie...
ja, ich glaube irgendwie kann ich mich sogar mit dem Gedanken
abfinden, dass du heiratest... Und ich wollte auch sagen, dass du
neulich wohl Recht hattest – ich war wirklich ein bisschen bitter
und vielleicht sogar neidisch auf dich und Dan...«
»Ach, du dummes Huhn«, sagte Claire
liebevoll.
»Na ja und hinzukommt, dass ich mir sicher bin,
als elende, vertrocknete alte Jungfer zu enden...«, sagte Amelie
trocken, während sie aufstand und Anstalten machte, zur Bar zu
gehen.
»Was hast du vor?«
»Ich besorge uns was Anständiges zu trinken.
Champagner, Schätzchen! Champagner ist angesagt!«
»Au ja, toll, danke!«
Wenige Minuten später kehrte Amelie mit einer
Flasche Moët zum Tisch zurück. Sie ließ den Korken knallen und
keckerte fröhlich, als Claires Gesicht ein paar Spritzer
abbekam.
»Auf dich und Dan«, sagte Amelie. Sie stießen an
und nahmen jeder einen kräftigen Schluck.
»Also, ich gehe davon aus, dass ihr euch noch
reichlich Zeit lasst bis zur eigentlichen Hochzeit, oder? Erst mal
ein Jahr Verlobung oder so?«, tastete Amelie sich vorsichtig
vor.
»Tja, das sollte eigentlich meine zweite
Überraschung sein.«
»Ach?«
»Also, wir wollen es beide unbedingt. Jetzt, wo
wir wissen, was wir wollen.... na ja, ist vielleicht ein bisschen
überstürzt, aber wir finden, wir sollten’s so schnell wie möglich
machen – bevor wir unsere Meinung womöglich noch ändern!«
»Im Ernst?« Amelie spürte auf einmal
Schmetterlinge im Bauch.
»Ja. Also... also werden wir in dreieinhalb Wochen
heiraten! Rechtzeitig zum Valentinstag! Ist das nicht irre? Wir
wollen nichts Großartiges, nichts, was monatelange Planung
erfordert. Eine schlichte, kleine Hochzeit. Nichts Extravagantes,
nichts zu teures, verstehst du. Also haben wir beschlossen, es
gleich zu buchen, dann gibt es kein Zurück mehr!«
»O mein Gott, das ist ja so aufregend!«, sagte
Amelie laut. Im Stillen dachte sie jedoch, dass Claire es ihr doch
sagen würde, wenn sie schwanger wäre? Diesen erschreckenden
Gedanken rasch beiseiteschiebend fragte sie: »Habt ihr es euren
Eltern schon gesagt?«
»Ja, und sie sind entzückt. Ich glaube, Dans Mum
hat’s regelrecht den Atem verschlagen. Oh, ach ja und das bedeutet
natürlich, dass wir einen kurzfristigen Junggesellinnenabschied
einplanen müssen. Hoffentlich überfahre ich dich damit nicht zu
sehr – aber hättest du übernächsten Samstag Zeit? Ich glaube Lydia
von der Uni organisiert alles – nichts Großartiges – bloß ein
feuchtfröhlicher Mädchenabend in Brighton... und es könnte sein,
dass er ein Thema haben wird – Pink Ladys, oder so – ich gebe dir
Bescheid... aber bitte sag, dass du kommen kannst!«
Amelie kramte ihren Terminkalender hervor. Sie
blätterte darin herum und seufzte dann erleichtert auf. »Du hast
Glück – es ist nicht das Wochenende, an dem wir an diesem
›Creativity Weekend‹ teilnehmen müssen, auf das Josh so wild ist.
Ja, ich bin dabei! Also, wann genau findet das große Ereignis nun
statt? Bei der Kürze der Zeit hattet ihr sicher nicht viel Auswahl,
was die Örtlichkeit betrifft, oder?«
»Nein, das stimmt. Wir haben beschlossen, es im
Haus seiner Eltern in Penarth zu machen – die haben dort ein
wunderschönes Anwesen am Meer. Mit einer dramatisch
hervorspringenden Klippe, einem großen Garten und allem. Wir
dachten, wir würden im örtlichen Standesamt heiraten und den
Empfang hinterher im Haus und im Garten abhalten.« Claire schaute
Amelie an, als suche sie ihre Billigung dieser Idee. »Ich weiß, das
hört sich vielleicht ein bisschen öde an, aber glaub mir, es ist
wunderschön dort, das musst du gesehen haben! Und so kurzfristig
blieb uns nichts anderes übrig.«
»Ich finde, das hört sich alles großartig an.
Kann’s kaum abwarten... das heißt, falls ich eingeladen bin?«,
scherzte Amelie.
»Natürlich bist du eingeladen! Und bring Duncan
mit, ich hab ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.« Claire
warf Amelie einen bezeichnenden Blick zu und meinte: »Ich wünschte,
du würdest endlich merken, was für ein toller Bursche er ist.« In
ihren Augen glomm dieses gewisse Funkeln, das Leute haben, wenn sie
ihre besten Freunde verkuppeln wollen.
»Ja, klar, ich bringe ihn mit, wenn er Zeit hat«,
sagte Amelie, ohne auf Claires Anspielung einzugehen.
»Ach ja, da wäre noch eine Kleinigkeit. Eine
winzige Kleinigkeit«, hob Claire ominös an. »Ich hab mich gefragt,
ob du vielleicht... meine errötende Brautjungfer sein
könntest?«
Amelie machte eine unbehagliche Miene und begann
die zerfransten Papiertaschentücher in ihrer Jackentasche zu
zerpflücken. »Äh, also weißt du... ich bin nicht sicher, ob ich das
könnte – mich so aufputzen, du weißt schon, Kleidchen und Rüschen
und all das – das ist nicht meine Tasse Tee.« Sie hielt inne und
rutschte unbehaglich auf ihrem Sitz hin und her. »Könnte ich nicht
einfach kommen und zuschauen? Ich meine, ich will kein Heuchler
sein – du weißt, wie ich über die Ehe denke …«
»O Amelie, ich verlange doch nicht von dir, deine
Seele an den Teufel zu verkaufen!«, stieß Claire irritiert hervor.
»Und es ist ja nicht so, als müsstest du eine Kirche
betreten...«
»Gott bewahre!«, rief Amelie erschrocken.
»Bitte, Ammie. Es würde mir so viel bedeuten. Es
gibt niemanden, den ich an einem solchen Tag lieber an meiner Seite
hätte, als dich.«
»Ach, Claire! Ich weiß, ich weiß. Tut mir leid,
ich glaube, ich kann einfach nicht anders, als zynisch sein, wenn
ich dran denke, wie viele desaströse Versuche meine Eltern
diesbezüglich hinter sich haben... Entschuldige. Natürlich werde
ich für dich da sein. Aber erwarte nicht von mir, den Brautstrauß
aufzufangen und in deine Fußstapfen zu treten, okay?!«
»Natürlich, natürlich. Danke! Ich danke dir! Du
wirst es nicht bereuen. Wer weiß, vielleicht macht’s dir ja sogar
Spaß!«
Stunden später, immer noch in derselben
Sitznische, leerten sie, merklich berauscht, ihre Gläser.
»Mein Gott, ist es schon so spät?«, stieß Claire
mit einem erschrockenen Blick auf ihre Uhr hervor. »Ich muss morgen
früh in ein wichtiges Meeting, ich mache jetzt besser
Schluss.«
»Ja, mir ist der Champagner auch ganz schön zu
Kopf gestiegen, bin fix und fertig«, stimmte Amelie zu.
»Willst du bei mir übernachten?«, erbot sich
Claire, als sie in ihre Mäntel schlüpften. Dann, nachdem sie
schweigend das Lokal verlassen hatten, fügte sie hinzu: »Mann, hör
dir nur an, wie wir reden! Seit wann sind wir so langweilig und
vernünftig geworden?«
Amelie lachte. »Du hast Recht; früher hätten wir
die ganze Nacht durchgefeiert und wären irgendwann in einer Disco
gelandet, Meeting oder kein Meeting!«
Claire giggelte. »Ja, es ist beängstigend. Wir
werden langsam alt... He, weißt du noch, dieses
Spießigkeits-Thermometer, das Lydia, Lisa und ich in unserer
Wohnküche an der Wand hängen hatten? Ich wette, heute würden wir
eine ziemlich hohe Punktzahl erzielen! Trotzdem, Lisa und Lyd
sicher noch mehr, wo sie jetzt verheiratet sind, mit Häuschen und
allem. Mein Gott, wie die Zeit verfliegt!« Claire kickte im
Vorbeigehen ein Steinchen auf die Straße. »Und ich mach’s auch
nicht gerade besser, oder, jetzt wo ich auch unter die Haube
komme!«
»Nein, wohl nicht, aber so ist das nun mal«, sagte
Amelie nachdenklich und hängte sich freundschaftlich bei Claire
ein.
»Sollen wir uns ein Taxi teilen?«, fragte Claire
und winkte eins heran.
Amelie überlegte kurz. »Nein, ich glaube, ich gehe
noch ein Stück und nehme den Bus.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Dann sehen wir uns also zum
Junggesellinnenabschied, ja?«
»Ja.« Claire umarmte Amelie herzlich. »Pass gut
auf dich auf, Babe, und viel Glück mit diesem verflixten Auftrag!
Du schaffst das schon, da bin ich sicher! Die zündende Idee wird
nicht lange auf sich warten lassen! Und wer weiß, vielleicht lernst
du dabei ja den Mann deines Lebens kennen!«
»Ach, ich glaube, das habe ich bereits.« Amelie
dachte mit einem leisen Grinsen an Maffew. Als Claire sie
interessiert anschaute, fügte sie hinzu: »Ach, bloß ein Scherz.
Aber danke – ich werde alles Glück brauchen, das ich kriegen kann,
um diesen Auftrag zu knacken. Ich wünsche dir jedenfalls viel Spaß
bei der Hochzeitsplanung! Ich kann’s immer noch nicht
fassen.«
Sie verabschiedeten sich mit einem Küsschen auf
die Wange und Claire stieg ins Taxi. »Nach Hampstead, bitte«, sagte
sie, schlug die Tür zu und winkte Amelie zum Abschied zu, während
das Taxi davonfuhr.
»Bis dann«, sagte Amelie, obwohl Claire längst
außer Hörweite war. Mit gesenktem Kopf machte sich Amelie auf den
Weg zur Bushaltestelle. Sie konnte nicht umhin, ein Gefühl der
Wehmut zu empfinden, als habe sie sich soeben von ihrer ältesten
Freundin, von einem Stück Jugend verabschiedet. Obwohl sie
Klischees hasste, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, als
habe Claire soeben eine unsichtbare Grenze überschritten.
Als Amelie einen 139er-Bus die Oxford Street
entlang auf sich zukommen sah, rannte sie los und erwischte ihn
gerade noch. Sie stieg ein, führte ihre Oystercard durch den
Schlitz und ließ sich ganz hinten auf einen Sitz fallen. Müde
lehnte sie ihren Kopf ans Fenster und ließ die Lichter und den
großstädtischen Glanz von London an sich vorbeiziehen, während der
Bus rumpelnd seine Fahrt aufnahm. Sie versuchte die Neuigkeiten des
Abends zu verdauen.
Zwanzig Minuten später wurde sie mit einem Ruck
wach und sah die Graffiti-bemalten Wände der Abbey Road Studios an
sich vorbeiziehen. Sie war fast da. Automatisch drückte sie auf den
Halteknopf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sicher würden
ihre Kontaktlinsen jetzt wieder an den Augäpfeln kleben. Mit einem
resignierten Seufzer stellte sie sich auf ein längeres Gepule und
Gefiesel ein, um die blöden Dinger herauszukriegen.
An der Ecke Abercorn Place stieg sie aus und
zündete sich eine Zigarette an. Tief inhalierend schlenderte sie
die ansteigende Straße zu ihrer Wohnung am Violet Hill hinauf. Dort
angekommen hob sie ihre Post auf und begann sie müßig durchzusehen,
während sie gleichzeitig in die Küche ging. »Hallo, Malibu«,
begrüßte sie das kleine weiße Pelzbündel, ihr neues Kätzchen, und
bückte sich, um es zu streicheln. »Wie war dein Tag? Meiner war
nicht schlecht«, antwortete sie sich, setzte den Wasserkessel auf
und ließ sich erschöpft aufs Sofa plumpsen. Sie blickte sich in
ihrer Wohnung um. Überall an den Wänden hingen Fotos und Bilder von
ihren Reisen, die sie mit Anfang zwanzig unternommen hatte. Da
waren Fotos, auf denen sie selbst und Claire zu sehen waren, aus
der Schulzeit und aus den Uni-Tagen und Fotos mit Freunden, die sie
während ihrer einjährigen Reise durch Asien und Südafrika gemacht
hatte. All dies schien jetzt auf einmal weit hinter ihr zu liegen,
eine ferne, idyllische Zeit, in der alles möglich schien, alles,
bloß nicht älter zu werden, erwachsen zu werden, auf einem festen
Platz im Leben zu kleben.
Der Kessel begann zu zischen, und Amelie erhob
sich gähnend, um sich eine Tasse Tee zu machen. Während sie trank,
überlegte sie, dass in nicht ganz einem Monat ihre älteste Freundin
verheiratet sein und wahrscheinlich eine eigene Familie gründen
würde. Alles schien auf einen Schlag anders geworden zu sein. Und
da war er wieder, dieser lästige kleine Gedanke, der glimmte und
nicht ausgehen wollte – der Gedanke, dass sie, tief in ihrem
Innern, genug von diesem Singledasein hatte. Sie liebte zwar die
Spontaneität und Unabhängigkeit, die es mit sich brachte, doch mehr
und mehr begann sie ihre Einsamkeit zu spüren. Amelie begann sich
zu fragen, ob es nicht wirklich besser wäre, jemanden zu haben, zu
dem man nach Hause kommen konnte. Jemand – mit zwei Beinen, nicht
mit vier -, der einem eine Tasse Tee machen und mit dem man die
Ereignisse des Tages besprechen könnte. Zum ersten Mal seit sie mit
Jack Schluss gemacht hatte, begann Amelie sich ein klein wenig
einsam und verloren zu fühlen.