2. KAPITEL
Feldforschung wider Willen – eine Tagebuchaufzeichnung
Büro, Freitag, 7. Januar, 15:00 Uhr
 
Liebes Tagebuch!
Hallo. Ist schon’ne Weile her, seit ich das zum letzten Mal gemacht habe... du musst Geduld mit mir haben, bin ein bisschen aus der Übung.
Die Sache ist die: Bin gezwungen, zum Speed-Dating zu gehen – was mir, lägen die Dinge anders, nicht mal in meinen schlimmsten Albträumen einfallen würde! Aber die Umstände erzwingen es: Seit ich weiß, dass Duncans und meine Karriere auf dem Spiel stehen, fällt mir überhaupt nichts mehr ein – mein Hirn ist wie leer gefegt. Und dies scheint die einzige, wenn auch verzweifelte Lösung zu sein.
Ursprünglich dachte ich, es könnte unseren Feldforschungen dienlich sein, wenn wir uns Notizen machten, doch dann kam ich auf den Gedanken, wie lange es her ist, seit ich zum letzten Mal ein Tagebuch geführt habe. Habe als Kind andauernd in mein Tagebuch geschrieben, aber, liebes Tagebuch, du weißt ja, wie das ist (oder auch nicht): Man wird erwachsen, das »wahre« Leben mit all seinen Anforderungen klopft an die Tür, und das Tagebuchschreiben bleibt auf der Strecke... Hatte lange Zeit fest vor, alles später nachzutragen, aber man vergisst so schnell... Und schließlich habe ich das Schreiben, wenn auch mit schlechtem Gewissen, ganz aufgegeben. Aber das ist jetzt vorbei! Jetzt geht’s wieder los, liebes Tagebuch. Es ist inzwischen – in immerhin dreizehn Jahren – viel passiert, aber das wirst du schon nach und nach mitkriegen...
Also, meiner bescheidenen Meinung nach ist Speed-Dating so ziemlich das Unromantischste, was man machen kann. Duncan, unverbesserlicher Optimist, der er ist, scheint dagegen der Meinung zu sein, dass irgendwas Gutes ja an der Sache sein müsse. Er sagt, es sei wie mit all dem anderen Schrott, für den wir uns Werbekampagnen haben einfallen lassen: Man müsse »Das Produkt« so lange »erforschen«, bis man was Gutes oder Nützliches dran findet und daraus kann man dann die Kampagne stricken. Hat nicht einer aus der Branche mal gesagt, man müsse »das Produkt so lange verhören, bis es gesteht«? Bisschen übertrieben, ich weiß, aber nicht ganz unwahr. Also dann, hier kommt sie nun, die minutiöse Aufzeichnung unserer Bemühungen in Sachen Jobrettung, der Beginn des »Verhörs« – Gottchen, ich hoffe, ich werde keine Daumenschrauben benötigen...
006
Zuhause, Freitag, 7. Januar, 18:00 Uhr
 
Also gut, jetzt heißt’s, seine Seele (und seine Würde) dem Teufel zu verkaufen und zum ersten – und hoffentlich letzten – Mal ins müffelnde Wasser des Speed-Datings zu springen. Glücklicherweise wird uns Sally aus der Buchhaltung begleiten – sie hat Erfahrung, es ist schon ihr zweites Mal. Weiß gar nicht, wie ich dir das beibringen soll, liebes Tagebuch, aber es scheint, als ginge sie tatsächlich in der Hoffnung hin, dort einen Jungen zu finden, der ihr gefällt. Sie war es, die mir versicherte, dass es vielleicht gar nicht so schlimm werden würde, wie ich fürchte. Erwarte trotzdem, den schlimmsten Abend meines jungen Lebens zu erleben. Warum? Schwer zu sagen. Aber ich glaube, mein Zynismus hat was damit zu tun, dass das Ganze verdächtig nach Schule stinkt. Der ganze Event ist auf eine Art aufgezogen, die mich an die schlechten alten Tage der Schulzeit erinnert – als könne man sein Liebesleben nicht selbst auf die Reihe kriegen und müsse die Hilfe einer Institution oder Autoritätsperson in Anspruch nehmen. Ärgere mich immer noch über die E-Mail, die ich zur Bestätigung meiner Anmeldung erhalten habe. Da heißt es: »Die Eintragung beginnt ab 18:30 Uhr. Die Veranstaltung fängt Punkt 19:00 Uhr an. Nachzügler müssen damit rechnen, dass sie erst nach der ersten Pause teilnehmen dürfen und auf diese Weise bis zu zehn Dates versäumen.« Ach ja, und das Rauchen ist nur in den Pausen gestattet! (Immerhin – kann ich ja noch dankbar sein.)
Gott, mir wird ganz übel, wenn ich sehe, wie schulmeisterlich das klingt. Weiß jetzt schon, dass ich es hassen werde. Weiß jetzt schon, dass – Scheiße, es hat geklingelt, das ist Sally. Muss los.
007
Damentoilette, All Bar One, Freitag, 7. Januar, 18:40 Uhr
 
Und da behauptet man, die Romantik sei tot?
Nun – zu Recht. Konnte mich nur kurz umschauen, bevor ich aufs Klo gerast bin, um dir, liebes Tagebuch, mitzuteilen, was deine Schreiberin erwartet...
Also: Als ich vor wenigen Minuten eintraf, fiel mein widerwilliges Auge auf eine enorme Anzahl von aufgeputzten Tussis, die sich in einer ordentlichen Schlange die Charing Cross Road entlangreihten. Erster Eindruck: Die Männer (eindeutig in der Unterzahl) sehen aus wie ein zusammengewürfelter Haufen von Desperados, die Frauen dagegen wirken – ich geb’s nur ungern zu – total normal: modisch, erfolgreich, attraktiv. Meine Befürchtungen bewahrheiten sich also, noch bevor die Veranstaltung überhaupt angefangen hat. Wenn ich mir dieses Meer von Ben-Sherman-Shirts und Baseballkappen ansehe, dann weiß ich, dass die Romantik tatsächlich tot ist. Wo sind sie hin, die Zeiten, als ein Mädchen sich noch zurücklehnen und hofieren lassen konnte, die Zeiten, als es unter einer wohltuenden Anzahl heiratswilliger Kandidaten wählen konnte? Fort, vorbei, für immer.
Na jedenfalls, jetzt heißt es, die Zähne zusammenbeißen, allen Mut zusammennehmen und an das denken, was auf dem Spiel steht: der Job. Und Duncan ist immer noch nicht da! Ich hätte ihm am liebsten den Kragen umgedreht.
Einmal eingelassen, wurden wir aufgefordert uns hinzusetzen wie brave Schulkinder, nein, wie Affen im Zoo, die man begafft. Dann wurden wir aufgerufen, einer nach dem anderen, und bekamen unsere Namensschildchen ausgehändigt. Namensschildchen! Und Warten. Warten. Immerhin hatte man so die Gelegenheit, mit einem Auge die lachhaften Anweisungen zu studieren, die uns ausgehändigt worden waren, und mit dem anderen das zur Verfügung stehende Angebot an Männern – welches sich am besten so beschreiben lässt: eine Gruppe von militanten Streitern für die Verteidigung des »Landes, das von der Mode unberührt blieb«. Oder urteile ich zu hart? Nun ja, vielleicht, aber ich habe mir vorgenommen, diese blöde Recherche so zynisch wie möglich anzugehen und zu sehen, wohin mich das führt... Oh, ich höre, dass sich draußen vor meiner Toilettentür bereits eine Schlange gebildet hat, ich mache also besser Schluss.
008
All Bar One, 19:10 Uhr
 
Sitze mit Duncan und Sally auf einem Sofa und warte auf Einlass ins »Paradies«. Jeder von uns hat einen billigen Fast-Love-Kuli ausgehändigt bekommen, dazu das unaussprechliche Namensschildchen und die Bewertungskarte samt dazugehörigen Instruktionen. Alle sind gespannt, was wohl als Nächstes passiert – alle fünfzig. Viele müssen stehen, da es keine Sitzplätze mehr gibt. Das Ganze erinnert mich mehr und mehr an eine vollgestopfte U-Bahn zur Rushhour. Ich frage mich, ob das vielleicht so geplant ist, damit man sich in der Enge schon mal ein wenig näherkommt.. Nun, bei mir funktioniert das jedenfalls nicht, ich finde es grässlich. Das ist wie bei einem Vorstellungsgespräch, zu dem alle Bewerber gleichzeitig bestellt worden sind – und man hat nicht nur die Konkurrenz vor Augen, sondern obendrein den möglichen »Käufer«. Alle ganz demokratisch versammelt, bis das formelle »Interview« beginnt. So viel zum pünktlichen Start um 19:00 Uhr.
Immerhin habe ich so Zeit, mir ein paar Notizen zu machen. Da wären zum Beispiel die Instruktionen. Ob das ein Witz sein soll? Nein, wohl nicht. Kein Schimmer von Ironie, was da steht, ist todernst gemeint, selbst diese Zeile (fürchte ich): »Die Teilnehmer werden gebeten, während der Gespräche Höflichkeit und gute Formen zu wahren und ihre Bewertung erst am Ende abzugeben.«
Komisch, wie jeder jeden heimlich mustert und – man kann es förmlich an der Miene ablesen – in die Kategorie »wär was« beziehungsweise »bleib mir vom Leib« einordnet. Viele notieren sich schon mal verstohlen die Namen jener, die ihnen gefallen, um hinterher besser den Überblick zu behalten. Leider müssen die Jungs härter arbeiten, die armen Würmer. Offenbar dürfen wir Mädels hübsch sitzen bleiben, während die Herren von Tisch zu Tisch wandern müssen. Duncan fragt sich – und nicht zu Unrecht -, wie er da die blöde Bewertungskarte ausfüllen soll, ohne dass das Mädchen es mitkriegt? Unterwegs zum nächsten Tisch? Da bleibt ihm nicht viel Zeit, da nur ungefähr zehn Zentimeter dazwischenliegen! Oder erst mal hinsetzen und es vor dem neuen Mädchen machen? Egal wie, mir erscheint es in jedem Fall peinlich und unsensibel. Und meinen Namen notiert sich keiner im Voraus – ich werde mein Namensschildchen erst in allerletzter Sekunde dranstecken.
Duncan ist total begeistert. Wir haben ihm nämlich mitgeteilt, dass er unter all den anwesenden Männern der bei weitem attraktivste ist. Was nicht viel heißen will, aber er findet’s toll. Er witzelt, dass er so viele »Kreuzchen« kriegen wird, dass er die Post-Speed-Dating-Flut nur mit einer Gruppen-E-Mail wird bewältigen können:
Betr.: Gratulation! Du hast Duncan auserwählt
 
 
Hallo Mädels, wann passt es euch denn? Bitte Datum ankreuzen! Freue mich auf ein Rendezvous, euer Duncan
Ja, ja, Duncan, beruhig dich wieder. Wir machen uns jedenfalls in der Zwischenzeit mit den Regeln vertraut. Offenbar hat man, wenn man keinen »Treffer« landet (es gibt drei Optionen – »ja«, »nein« oder »vielleicht eine Freundschaft«), einen weiteren Besuch frei. Ich muss lachen, wenn ich das lese – da blüht doch sicher der Missbrauch, oder? Wer weiß, wie viele auf so eine Option hin »süchtig« werden und zum »Serien-Speed-Dater« mutieren? Nicht auszudenken.
Ach – haben soeben erfahren, dass der Grund für die Verspätung in der unauffindbaren Fast-Love-Glocke liegt, mit der der Beginn und das Ende der dreiminütigen Dates eingeläutet wird. Offenbar hat Camilla, unsere charmante Gastgeberin (würg), die Glocke verschusselt, und ohne die geht’s nun mal nicht. Umso besser. Vielleicht wird die Veranstaltung aufgrund der Verspätung ja verkürzt und mir bleiben ein paar Dates erspart. Zumindest habe ich jetzt noch Zeit für eine schnelle Zigarette.
009
Starbucks, gegenüber von All Bar One, 21:00 Uhr
 
Puh, endlich eine Pause. Die habe ich allerdings auch bitter nötig! Musste einfach raus und frische Luft schnappen und das Ganze ein wenig verdauen. Ich hasse Starbucks, aber es war das Erste, worauf mein traumatisiertes Auge fiel, als ich aus dem Club stürzte. Keine Zuflucht war mir je so willkommen. Anderthalb Stunden Speed-Dating – neunzig Minuten meines Lebens unwiderruflich dahin. Hab nicht viel Zeit, nur eine Viertelstunde, dann muss ich wieder zurück, aber lieber hier sitzen und eine rauchen, als zwischen all den anderen Fast Lovern hocken zu müssen.
Eins ist klar: Meine Befürchtungen haben sich in vollem Umfang bestätigt, denn dies ist DIE HÖLLE AUF ERDEN. Nein, schlimmer noch.
Ich will das erklären. Jedes Mädchen hat es wohl schon einmal erlebt: Du lehnst in einem Club an der Bar oder sitzt irgendwo und plötzlich taucht irgend so ein schleimiger Typ auf und quatscht dich an, in der irrigen Annahme, du würdest dich darüber freuen. Meistens Typen, die du nicht mal mit der Kneifzange anfassen würdest. Du betest innerlich, dass sie den Wink verstehen und sich wieder verziehen, aber nein, oft muss man zu drastischeren Mitteln greifen, muss vorschützen verheiratet oder lesbisch zu sein, damit die Botschaft durchdringt. Also: Man stelle sich so einen Typen vor. Er kommt und setzt sich zu dir an einen windigen, wackeligen kleinen Tisch mit Papiertischdeckchen, das dir bei jeder Bewegung im Weg ist und dich in den Wahnsinn treibt. Und der Typ ist alles andere als gut aussehend, ja, man wäre schon glücklich, wenn er durchschnittlich aussähe. Weit gefehlt. Und – was das Schlimmste ist – statte dieses männliche Prachtexemplar mit der Überzeugung aus, dass du entzückt darüber bist, ihn drei Minuten lang vor dir sitzen zu haben. Dass es dich tatsächlich freut, wenn er dich mit intimen Fragen löchert, schlimmer noch, er weiß, dass du gutes Geld bezahlt hast, um dies erleben zu dürfen. Und er genießt es in vollen Zügen.
Am schlimmsten sind diejenigen, die versuchen, das Eis mit besonders »originellen« Fragen zu brechen. Meine bisherigen Favoriten: »Wenn du ein Gemüse wärst, welches würdest du gerne sein?« Dicht gefolgt von »welche Sorte Nuss wärst du gern?« Und ein anderer fragte mich, etwa dreißig Sekunden nachdem wir uns einander bekannt gemacht hatten – was ich sehr zurückhaltend fand -: »Was ist deine liebste Sexfantasie?« Nun ja, sie können nichts dafür, die armen Trottel, sie befolgen ja nur die Ratschläge auf dem Bewertungsbogen. Da heißt es: »Es empfielt sich, immer ein paar Fragen in petto zu haben, falls einem der Gesprächsstoff ausgeht. Von einer Liste mit vorformulierten Fragen wird jedoch abgeraten.«
Um die Monotonie des Abends ein wenig erträglicher zu machen, bin ich in meiner Verzweiflung auf die Idee verfallen, mir eine Reihe spannender Identitäten zuzulegen. Dem einen habe ich erzählt, ich besäße einen Juwelierladen in Weston-Super-Mare und dächte daran, eine Kette zu eröffnen. Einem anderen schwindelte ich vor, ich sei Politik- und Soziologieprofessorin, was ich jedoch sofort bereute, kaum dass es mir herausgerutscht war. In den folgenden drei Minuten saß ich wie auf Kohlen und betete, dass er mir keine Fragen zur Tagespolitik oder zu Soziologie stellen würde. Und schließlich behauptete ich, eine Feuerwehrfrau aus Essex zu sein, die in einem Kibbuz aufgewachsen war. Man merke: In drei Minuten glaubt man dir fast alles.
Keine Ahnung, woher all diese Ideen auf einmal kamen, aber ich hatte ganz einfach Angst, mein Gehirn könnte nach dem dritten Schnelldurchlauf meiner wahren Lebensgeschichte einfach einpacken und abreisen. Die einzige Rettung war, es auf diese Weise ein wenig spannender zu machen – kindisch, ich weiß, aber was soll man machen. Ich gebe selbst zu, dass ich nicht sehr geduldig bin, aber meine Geschichte dreiundzwanzig Mal an einem Abend zu erzählen – das geht über meine Kraft. Und es macht Spaß, sich alle möglichen alternativen Amelies auszudenken. Was ich vielleicht hätte werden können, wenn... Als wäre mein Leben eins von diesen Abenteuerbüchern, wo der Leser selbst entscheiden kann, wie es weitergeht. Vor fünf Minuten war ich die Rechtsanwältin, die ich schon immer sein wollte. Glücklicherweise ist Amelie, die Streiterin für Menschenrechte, inzwischen von der Justiz desillusioniert und nun auf der Suche nach einem kreativeren Betätigungsfeld. Es scheint also, als hätte ich am Ende doch die richtige Entscheidung getroffen! Und vor einer halben Stunde war ich die (Prima)Ballerina, die sich meine Mutter so sehr gewünscht hätte, und das war richtig nett. Wie gesagt, es ist kindisch, aber auch die beste Art Eskapismus, die ich mir denken kann... Alle drei Minuten in eine völlig neue Identität schlüpfen... was ist befreiender als dies? Und ohne dieses Spiel hätte ich mich sicher in eine schreiende Irre verwandelt – Veranstaltungen wie diese sind ungeeignet für Menschen, die sich schnell langweilen. Ach, mein Handy klingelt. Kacke, das ist Duncan – ich muss zurück in den Boxring. Letzte Runde. Bis später.
010
Barleiche, All Bar One, 22:00 Uhr
 
Hilfe, wer rettet mich?!
Hab meine Stimme verloren. Hab allen Lebensmut verloren. Und meinen Glauben an die Menschheit. Sitze auf einem Barhocker und lausche mit müden Ohren Aretha Franklin. Gott, das war der ödeste Abend, den ich je erlebt habe. Kein einziges Kreuzchen. Nicht mal annähernd. Nicht, dass ich es erwartet hätte. Zugegeben – ein paar waren ganz erträglich. Ein bisschen zumindest. Und ein, zwei waren darunter, mit denen hätte ich mich zur Not vielleicht sogar verstehen können, hätten uns die Umstände nicht das Ambiente einer Schuldisco aufgezwungen. Ich schätze, Nummer 13 wäre ganz passabel, wenn er sich nicht gar so viel Mühe mit seinem Drei-Minuten-Auftritt gegeben hätte.
Rückblickend muss ich sogar zugeben, dass Nummer 6 ziemlich gut ausgesehen hat, und ich gestehe, dass ich mich leise auf meine drei Minuten mit ihm gefreut hatte. Leider hat irgendeine Laune der Rotation dazu geführt, dass er nie an meinen Tisch kam. Dort drüben steht er, umgeben von einer Mädchentraube, die ihn einer »Nachbehandlung« unterzieht. Na, der kann so gut aussehen, wie er will, ich werde mich jedenfalls nicht unter die Cowboystiefel-Horde mischen. Nein, ich bin vollkommen zufrieden damit, hier zu sitzen, einen Wodka zu schlürfen und den Albtraum literarisch zu verdauen. Dazu dudelt im Hintergrund »Get Into the Groove«.
Kaum zu fassen, aber Duncan und Sally scheint es ganz gut gefallen zu haben. Sie haben jeder großzügigerweise sechs Kandidaten angekreuzt und sich prompt unters Volk gemischt, um ihre Treffer »nachzubearbeiten«. Nein, ich kann mir beim besten Willen keinen Reim darauf machen, wie zwei gut aussehende, erfolgreiche, intelligente Freunde von mir daran etwas finden konnten. Wieso geht mir das alles nur so auf die Nerven? Was stört mich daran? Ist es -
011
Amelie zuckte erschrocken zusammen, weil jemand sie an den Haaren zupfte. Es war Sally. Sie kreischte ihr nun förmlich ins Ohr: »Amelie Holden, du bist erbärmlich! Was sitzt du hier rum und kritzelst in dein Buch! Komm und misch dich unter die Leute!«
»Genau«, ertönte nun auch Duncans vorwurfsvolle Stimme. »Wenn du schon nicht deinen Kreuzchen nachjagen willst, dann komm wenigstens auf die Tanzfläche! Den Song magst du doch ganz besonders, wenn ich mich recht erinnere?«
Amelie klappte ihr Tagebuch zu und blickte die beiden mit einem entschuldigenden Lächeln an. »Sorry, Leute, aber ich bin einfach nicht in Stimmung. Ich finde das alles zu... bizarr, zu verrückt. Und ich muss aufschreiben, was mir durch den Kopf geht – ich habe schon jede Menge Material... bestimmt ist was drunter, was wir für die Kampagne gebrauchen können.«
Duncan stellte kopfschüttelnd sein Bierglas ab. Er musterte Amelie mit einem forschenden Blick. »Am, es ist jetzt zehn Uhr nachts. An einem Freitagabend. Du hast dir ein paar Notizen gemacht. Na toll. Wunderbar. Aber könntest du das jetzt vielleicht sein lassen und dich einfach amüsieren?«
Amelie schenkte Duncan ein warmes Lächeln. Sie fragte sich, wie er sich auf diesem institutionalisierten Fleischmarkt bloß amüsieren konnte. »Freut mich, dass es dir gefällt, aber ich bin vollkommen zufrieden damit, einfach nur hier zu sitzen. Hier hab ich alles, was ich brauche.«
»Was soll das heißen, alles, was du brauchst?«, wollte Sally wissen. »Du spinnst doch. So viel kann man doch gar nicht darüber schreiben!« In diesem Moment sah sie, dass sich sexy Nummer 6 endlich aus den Oktopusarmen von Nummer 14 befreit hatte. Rasch sagte sie: »Äh, sorry, ich muss weg. Bis später.« Und schon war sie in Richtung Tanzfläche entschwunden. Duncan blickte Sally kurz nach, dann schaute er wieder Amelie an. »Jetzt komm schon, Am, misch dich ein bisschen unter die Leute. Sitz hier nicht so allein rum wie ein Mauerblümchen.«
Amelie griff abermals zum Stift, schlug ihr Tagebuch auf und sagte streng: »Ja, gleich. Aber erst muss ich noch diese Seite hier fertig schreiben.«
012
All Bar One, noch immer, 22:20 Uhr
 
Was finden die bloß alle an diesem Speed-Dating-Karussell? Ich kapier’s einfach nicht. Stimmt was nicht mit mir? Jetzt mache ich mir allmählich ernsthaft Sorgen. Wie zum Teufel sollen wir das verkaufen? Wer ist der Markt?? Bin ich blind? Ich kann beim besten Willen keinen USP, keinen Unique Selling Point erkennen. Nicht im Entferntesten. Vielleicht bin ich ja wirklich blind oder ich sehe das Ganze nicht richtig, aber mir scheint es so, dass Speed-Dating sowohl hirntötend öde und repetitiv ist als auch abgrundtief unromantisch. Nach allem, was ich gerade erlebt habe, sollte das Motto unserer Kampagne lauten:
Alleinsein war nie verlockender.
013
Endlich daheim (hurra!), Freitag, 7. Januar, Mitternacht
 
Gott sei Dank, endlich daheim. Nicht zu fassen, dass ich sämtliche dreiundzwanzig Dates lebend überstanden habe. Musste so laut schreien, um mich in dieser abscheulichen Schuldisco verständlich zu machen, dass ich meiner Stimme jetzt vollkommen verlustig geworden bin. Diese Fast-Love-Leute haben wirklich auch noch das Letzte aus den gemieteten Räumlichkeiten rausgeholt. Nachdem wir eine Ewigkeit im Barraum gewartet hatten, wurden wir endlich in ein stickiges Hinterzimmer geführt, das so mit Tischchen vollgestopft war, dass man buchstäblich schreien musste, um seine eifrig disputierenden Nachbarn zu übertönen. Eine Atmosphäre, bei der man kaum denken, geschweige denn wirklich reden konnte. Hinzu kam das ständige enervierende Läuten dieser Glocke, alle drei Minuten, ding-dong, ding-dong. Als ich es zum ersten Mal hörte, fühlte ich mich unwillkürlich in meine Schulzeit zurückversetzt, war auf einmal wieder eine bezopfte Neunjährige und rannte um den Pausenhof, rannte und rannte vor Asif davon, dem dicken Asif aus meiner Klasse, der mir immer seine nassen Küsse aufdrängen wollte. Ich rannte, bis ich das erlösende Schellen der Schulglocke hörte, das einem durch die Ohren, durchs Hirn schnitt, mich aber gleichzeitig von einem Schicksal, schlimmer als der Tod erlöste. Wieder zurück auf der Erde, oder besser in der Dating-Hölle, fand ich mich plötzlich Auge in Auge mit einem Börsenmakler namens Aswad. Der Gedanke, dass mich dieselbe Glocke nach siebzehn Jahren vor einer ganz ähnlichen Kuss-Jagd rettete, ließ mich heimlich lächeln.
014
Küche, 4:00 Uhr morgens
 
Kann nicht schlafen, und da ich das Abendessen ausgelassen habe, bin ich nun in meinen Eiscreme-Notvorrat eingebrochen. Der Abend lässt mich einfach nicht los, geht mir um und um im Kopf und lässt mich nicht einschlafen. Was für ein surreales Erlebnis. Ein abgedroschener Ausdruck, wenn man bedenkt, dass ich ihn von fast jedem Date gehört habe, aber bei mir trifft es wirklich zu – es war surreal, verstörend sogar. Als habe die Totenglocke das Ende jeder Romantik eingeläutet. Stimmt es? Gibt es heutzutage wirklich keine Romantik mehr? Ist es nicht mehr möglich, auf normalem, alltäglichem Wege einen Partner zu finden? Gehört diese Vorstellung vielleicht einer ausgestorbenen, archaischen Vergangenheit an? Ich glaube, das ist der eigentliche Grund, warum ich das alles mit solcher Skepsis betrachte – weil die Vorstellung von »Speed-Dating« so total gegen alles spricht, was meiner Ansicht nach die Liebe ausmachen sollte.
Ich nehme mir das Ganze zu sehr zu Herzen. Vielleicht bin ich ja zu empfindlich, zu puristisch, was das alles betrifft, aber ich kann nicht umhin mich zu fragen, was Jane Austen zu einem Abend sagen würde, wie ich ihn gerade hinter mir habe?
Ein schwuler Freund von mir hat mir einmal etwas erzählt – eine wahre Geschichte! -, was mich einfach umgehauen hat. Es ist meiner Meinung nach die romantischste moderne Liebesgeschichte, die ich in diesem Jahrzehnt gehört habe. Es ist die Geschichte, wie er und sein Lebensgefährte einander vor fünf Jahren kennen lernten. Sam – er ist einer unserer Finanzplaner – war eines Abends sturzbetrunken und hat mir seine Geschichte erzählt. Sie ist kurz und süß – vielleicht findest du sie ja gar nicht romantisch im traditionellen Sinne, liebes Tagebuch, aber mich hat sie jedenfalls tief bewegt.
Sam saß eines Samstagmorgens um drei Uhr an einer Bushaltestelle. Ein Mann tauchte auf und ließ sich unweit von ihm nieder. Er kannte den jungen Mann nicht, doch nahm er ihn unbewusst als äußerst attraktiv wahr. Niemand sonst weit und breit, sie waren vollkommen allein. Nach ein paar Sekunden tauschten sie einen scheuen Blick und ein Lächeln.
»Ich heiße Dave und wohne nur fünf Minuten von hier entfernt.«
Darauf gab es nach Sams Meinung, nur eine Antwort: »Ich heiße Sam und wohne verflucht noch mal am anderen Ende der Stadt. Komm, gehen wir zu dir.«
Fünf Jahre später und der Rest ist Geschichte. Heute ist er die Liebe seines Lebens, und sie sind das wundervollste Paar, das ich kenne. Ich war sogar bei ihrer Hochzeit. Dave und Sam sind für mich der Beweis dafür, dass Speed-Dating mitunter ganz natürlich geschieht. Man braucht nicht einmal drei Minuten dafür.
015
Im Büro, Montag, 10. Januar, 11:00 Uhr
 
Hatte heute eins dieser typischen U-Bahn-Erlebnisse. Von der Art, wo du in deinem übermüdeten und/oder verkaterten Zustand annimmst, dass noch genug Platz für dich im Abteil ist, und dich noch durch die bereits langsam zugehende Tür quetschst, in der irrigen Annahme, du hättest keine Zeit, um die eine Minute auf den nächsten Zug zu warten. Und da steckt man dann, wie ich heute Morgen, zwischen zwei korpulenten Herren mittleren Alters, macht sich so klein wie möglich, den Blick zu Boden gesenkt, und versucht so wenig wie möglich vom nicht vorhandenen Sauerstoff einzuatmen. Festhalten kann man sich nirgends – au ßer, man ist bereit, einen der Gentlemen in liebevoller Hingabe zu umarmen, um an eine der Haltestangen heranzukommen – wozu ich beim besten Willen nicht bereit war. Das Einzige, was mir übrig blieb, war, mich mit den flachen Händen, so gut ich konnte, an der Tür abzustützen, während wir rüttelnd und ruckend dahinbrausten, und zu beten, die U-Bahn möge mich wieder ausspeien wie ein missglücktes Experiment und als Warnung an alle Zuspätkommer, die, wie ich, dort Platz sehen, wo keiner mehr ist.
Was ich eigentlich sagen will ist, dass mich dieses Erlebnis daran erinnert hat, dass ich – in meiner längst vergangenen, blau äugigen Jugend – davon träumte, den Mann meines Lebens in der U-Bahn kennen zu lernen. Er würde mir gegenübersitzen, und wir würden beide auf geheimnisvolle, schicksalhafte Weise wissen, dass wir füreinander geschaffen waren. Wie in Sie liebt ihn – sie liebt ihn nicht oder Before Sunrise...
Ich bin einmal in einer Zeitschrift auf eine Anzeige für geführte Wandertouren gestoßen. Man solle sich da, so hieß es, zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Zug und einem bestimmten Zugabteil einfinden, um sich schon einmal vorab kennen zu lernen. Vollkommen Fremde, die in dasselbe Zugabteil einsteigen, die den Tag mit Wandern in schöner Landschaft – Buckinghamshire oder so – zubringen. Vielleicht sollte man so was ähnliches ja mit Singles machen, die auf der Suche nach einem Partner sind... In der U-Bahn, zum Beispiel. Irgendein Kennzeichen – eine Nelke im Knopfloch -, mit dem du anzeigst, dass du noch zu haben bist. Man könnte es U-Bahn-Dating nennen! Oder doch nicht – wäre wohl doch zu verrückt, zu abwegig. Aber was könnte verrückter und abwegiger sein, als sich drei Minuten lang mit einem Wildfremden an einen Tisch zu setzen und seinen Lebenslauf runterzurasseln? Wie verkaufe ich mich am besten in drei Minuten? Was habe ich dem Mädchen am Nachbartisch voraus? Was ist das Besondere an mir? Die Kunst der Drei-Minuten-Präsentation, destilliert in die Welt der Romantik. Ich glaube nicht, dass ich mich je damit anfreunden könnte, aber vielleicht repräsentiert das ja, im Kleinen, das Leben und die Liebe im Allgemeinen. Versuchen wir uns nicht andauernd zu verkaufen, nach dem Motto: »Warum ich es wert bin, geliebt zu werden«? Sind wir nicht alle Produkte, die auf einem überquellenden Markt »gekauft« werden wollen? Welches ist die beste Strategie? Der beste Pitch?
Aber zumindest kann man beim normalen Dating (Slow-Dating?) ein bisschen tiefer gehen, als es in drei Minuten möglich ist. Beim Speed-Dating kommt es im Grunde doch nur auf die Selbstpräsentation an. Darum geht es. Es geht um die Kunst der Drei-Minuten-Präsentation. Und darin war ich noch nie besonders gut.