16. August
Der Vorteil der Anfang vergangenen Jahres eingeführten Meldepflicht war, dass es nun vergleichsweise leicht fiel, den Wohnort bestimmter Personen zu erfahren. Vor allem, wenn man über gute Beziehungen verfügte – und die hatte Sören Bischop. Natürlich hätte «Inge Bartels» ein falscher Name sein können, und bei einer Landamme war die Wahrscheinlichkeit, dass sie außerhalb des Hamburger Stadtgebietes lebte, nicht gering. Aber Sören hatte Glück. Das Melderegister vom Juni des Vorjahres wies tatsächlich eine Inge Bartels aus. Wohnhaft in Hamm, Borstelmannsweg Nummer 137.
Das Fußgelenk war inzwischen etwas abgeschwollen, sodass Sören sich mit der eigenen Droschke auf den Weg machen konnte. Eine Linie der Pferdebahn gab es nach Hamm bislang ja auch noch nicht. Obwohl Sören das Verdeck des offenen Zweisitzers aufgestellt hatte, brannte die Sonne erbärmlich. Heute Vormittag war auch noch der Wind eingeschlafen, der in den Tagen zuvor für ein wenig Erfrischung gesorgt hatte. Als er kurz nach Mittag die Alsterbrücke überquerte, konnte er die schlaff herabhängenden Segel der kleinen Dinghis erkennen, die rund um die Alsterlust vor sich hin dümpelten. Die Luft war unangenehm staubig, und Sören drosselte das Tempo, als er die kleine Steigung des Glockengießerwalls hinter sich hatte. Der Blick auf die Kunsthalle erinnerte ihn an sein Vorhaben, Fräulein Eschenbach am nächsten Tag nach der Abendvorstellung vom Stadttheater abzuholen und in das neu eröffnete Gartenlocal am Botanischen Garten auszuführen. Eine ausgezeichnete Idee, wie er fand, aber die süßen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, hätten fast zu einem Unfall geführt.
Der große Planwagen, der ihm vor der neuen Gewerbeschule vor das Gefährt preschte, zwang Sören zu einer Vollbremsung. Nachdem sich das Pferd wieder beruhigt hatte, bog er in die Norderstraße ein und fuhr an der Münze vorbei bis zum Lübecker Bahnhof. Hier hielt er kurz an und überlegte, auf welcher Höhe der Straße in Hamm sich Hausnummer 137 wohl befinden mochte. Der Borstelmannsweg führte vom Hang des Geestrückens, der den ganzen Stadtteil einem hohen Wall gleich in zwei Teile schnitt, bis hinunter zum Billwärder Ausschlag. Sören entschloss sich, den Weg an der Bille entlang zu nehmen. Er unterquerte die Gleise des Bahnhofs und setzte die Fahrt über die Spaldingstraße in Richtung Heidenkampsweg fort.
Die hohen Mauern der Etagenhäuser am Heidenkampsweg warfen ihre Schatten bereits weit auf die Straße. Nirgendwo in der Stadt ragten die Fassaden der Zinshäuser so hoch wie hier im Hammerbrook. Obwohl Sören den Schatten in diesem Moment genoss, mochte er das Quartier mit seinen großen Baublöcken nicht. Während seiner Kindheit hatte man damit begonnen, das hier vor den Toren der Stadt gelegene Marschland konsequent zu entwässern und aufzuschütten, um ein neues Wohngebiet zu schaffen. Am Anfang war nicht absehbar gewesen, wie es hier einmal aussehen würde, aber nachdem in der Innenstadt das Kehrwieder- und das Wandrahmviertel für die Zollanschlussbauten niedergelegt worden waren, hatte sich ein großer Teil der dort lebenden Menschen hier im hafennah gelegenen Hammerbrook niedergelassen. Innerhalb weniger Jahre war das ganze Gebiet bis auf den letzten Quadratmeter erschlossen worden. Die riesigen Baublöcke hatten bis zu sechs Etagen. Sören blickte im Vorbeifahren in eine der großen Tordurchfahrten, durch die man in die dahinter gelegenen Höfe gelangte, die teilweise nur noch wenige Meter breite Gassen waren, da man den Raum mit quer zur Straße angeordneten Terrassenzeilen lückenlos verbaut hatte. Wenn man die Höhe der Gebäude berücksichtigte, herrschte hier im Hammerbrook inzwischen die gleiche Enge wie in den Gängevierteln der Altstadt. Nur für wenige Minuten am Tag kam das Sonnenlicht in die Höfe, an einigen Stellen nie.
Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich ein Hochwasserbassin parallel zum Heidenkampsweg. Dahinter lagen die riesigen Steinlager der Baudeputation. Aus der Ferne wirkten die gestapelten Baustoffe wie eine Miniaturausgabe der diesseitigen Bebauung. Sören fuhr weiter bis zum Bullerdeich, wo sich die enge Bebauung schlagartig auflöste. Am Brackdamm endete das Straßenpflaster. Ab hier war die Umgebung ländlich geprägt, und außer vereinzelten Betrieben und den im Schlick der Bille festsitzenden Lastkähnen und Schuten erinnerte nichts an die Nähe zur Stadt. Bis auf ein kleines Rinnsal war das Flussbett ausgetrocknet. Anders als im unweit gelegenen Hammerbrook, wo alles von rechtwinklig angeordneten Kanälen durchzogen war, deren Wasserstand mit Schleusen und Toren reguliert werden konnte, regelte hier allein die Natur die Schiffbarkeit der Wasserstraßen. Und die anhaltende Hitze hatte den Verkehr gänzlich zum Stillstand gebracht.
Sören lenkte den Wagen zu einer Pferdetränke. Während er dem Tier mit einem feuchten Lappen den Schweiß vom Hals rieb, beobachtete er die Kinder, die vor der Badeanstalt lärmend im brackigen Schlick des Flusses herumtobten und sich gegenseitig mit Matsch bewarfen. Nachdem das Pferd getrunken hatte, lenkte er den Wagen über den Hammer Deich bis zum Borstelmannsweg. Das Bild, das sich ihm bot, nachdem er in die Straße eingelenkt hatte, passte ganz und gar nicht in die ländliche Umgebung. Die Straße wirkte so, als hätte man einfach zwei Häuserzeilen aus dem Hammerbrook hierher verfrachtet. In der Stadt hatte man sich an den Anblick der hohen Zinshäuser ja gewöhnt, aber hier auf dem Land wirkten die Bauten sehr befremdlich. Rechnete man etwa damit, dass sich die städtische Bebauung bis hierher ausbreiten und an die vorhandenen Bauten anschließen würde? Kein Zweifel, hier hatte ein gewiefter Bauherr die Bodenspekulation auf die Spitze getrieben. Wenn man bei den großen Blöcken des Hammerbrook noch versucht hatte, mit etwas Bauschmuck an den straßenseitigen Fassaden darüber hinwegzutäuschen, dass die Höfe dahinter nur aus grau verputzten, kargen Wänden bestanden, so hatte man sich hier nicht einmal diese Mühe gemacht. Auffällig war, dass die Häuser anscheinend keine Keller hatten. Wahrscheinlich lag der Straßenzug so tief, dass bereits ein starker Regenguss oder ein Gewitter ausreichte, um das gesamte Areal unter Wasser zu setzen. Zumindest deutete der Zustand der unbefestigten Straße darauf hin. Sören dirigierte den Wagen vorsichtig an den tiefen Kuhlen, die wohl ausgetrocknete Matschlöcher waren, vorbei. Am Straßenrand hatte man breite Holzbretter ausgelegt, die anscheinend dazu dienten, den Weg bei Regen für Fußgänger überhaupt passierbar zu machen. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Sören blickte sich um. Nirgends war eine Fabrik oder Produktionsstätte auszumachen, die den Gestank erklärt hätte. Er fuhr im Schritttempo weiter. Das gesuchte Haus war schnell gefunden. Man hatte die Hausnummern einfach mit weißer Farbe an die Fassaden gemalt. Sören zählte fünf Stockwerke.
Die Frau im Erdgeschoss, die Sören nach Inge Bartels gefragt hatte, blickte ihn nur verständnislos an, murmelte etwas in einer fremden Sprache, die er noch nie zuvor gehört hatte, und schloss die Tür mit einem Knall. Was er durch den Türspalt gesehen hatte, reichte aus, um sich die Zustände in den anderen Wohnungen vorstellen zu können. Sören hatte sich schon gefragt, wohin all die Türen auf den Absätzen des Treppenhauses führen mochten. Jetzt ahnte er es. Das riesige Gebäude bestand anscheinend aus einer großen Anzahl kleinster Wohnungen. Zur Seite zweigten je zwei Türen ab, die Längsseite des Treppenabsatzes hatte fünf Türen. Die mittlere davon stand offen. Ein kleiner Junge mit zotteligem Haar blickte Sören aus großen Augen an. Er saß auf einem völlig verunreinigten Closet und zog ununterbrochen an der langen Kordel des Spülkastens. Das Wasser strömte auf halber Höhe des gebrochenen Fallrohres heraus, lief die Wand herunter und vermengte sich mit auf dem Boden liegenden Kotresten. Sören wandte sich angeekelt ab. Nirgends gab es Namensschilder. An einigen Türen hatte man die Namen der Bewohner ans Holz des Rahmens geschrieben – vier, fünf oder sechs auf einmal. Viele davon waren durchgestrichen. Inge Bartels war nicht darunter. Es tropfte vor ihm auf den Boden. Sören blickte nach oben: Über ihm an der Decke breitete sich ein brauner Fleck aus. Als er den nächsten Stock erreicht hatte, sah er den Grund dafür. Das Closet war hier ganz zerbrochen, aus dem Knie der Schüssel lief unaufhörlich eine bräunliche Flüssigkeit, die sich auf den Holzdielen des Treppenabsatzes zu einer kleinen Pfütze gesammelt hatte. Es stank bestialisch nach Jauche und Moder.
«Kommen Sie vom Amt?», fragte die ältere Frau, die auf Sörens Klopfen hin die Tür geöffnet hatte.
Er schüttelte den Kopf. «Nein, gute Frau. Ich suche eine gewisse Inge Bartels. Sie soll hier im Haus wohnen.»
Die Frau machte ein fragendes Gesicht.
«Eine Frau, die wahrscheinlich mehrere Kostkinder behütet hat», erklärte Sören.
«Ach die.» Sie machte eine abfällige Handbewegung. «Behütet ist aber übertrieben. Keine Ahnung, wie die hieß. Gab nur Ärger mit der …» Sie schüttelte den Kopf. «Dritter Stock, zweite Tür. Wohnt aber nicht mehr da. Im letzten Winter ist sie abgehauen.»
«Sie wissen nicht vielleicht, wo die Frau hingezogen ist?»
«Gott bewahre. Mit solchen will ich nix zu tun haben.» Die Frau blickte auf die Pfütze neben Sörens Schuhen.
«Das Closet nebenan», sagte Sören. «Es ist defekt. Was war die Frau Bartels denn für eine?»
«Na, defekt ist hübsch gesagt. Hin ist das. Alles nur Schrott hier», fluchte die Frau. «Warten schon seit dem Märzen, dass jemand kommt. Kommt aber keiner. Aber die Miete, die wird pünktlich kassiert.» Irgendwie schien sie sich nicht von der Idee abbringen zu lassen, dass Sören in Wahrheit doch vom Amt kam und möglicherweise für Abhilfe sorgen konnte. «Woll’n Se mal sehn, was das hier für ’ne Bruchbude is?» Sie öffnete die Tür und machte eine einladende Handbewegung. Aber treten Se mir nicht den Schiet rein. Ich habe gerade gefeudelt!»
Sören putzte sich die Schuhe auf einem Lappen hinter der Tür ab und betrat die Wohnung. Sie bestand aus zwei winzigen, höchstens zehn Quadratmeter messenden Zimmern sowie einer kleinen Küche, die dem Anschein nach auch als Aufenthaltsraum und Esszimmer diente. Es war der einzige Raum mit einem Fenster. Über der Herdstelle waren mehrere Drähte durchs Zimmer gespannt, an denen Wäsche zum Trocknen hing. Sören trat einen Schritt zurück, als er in einer Ecke des Raumes einen Mann auf einer Matratze liegen sah.
«Das is Otto, der merkt nix», erklärte die Frau. «Mal wieder voll wie eine Haubitze!» Sie deutete an die Decke, wo sich ein armdicker Spalt quer durch den Raum zog. «Ich warte nur darauf, dass die ganze Schose runterkommt. Nur Bruch hier. Da oben wohnen sechs Leute im Zimmer. Mir rieselt jeden Tag der Putz in die Töpfe.»
«Sechs Leute?» Sören blickte sich um und versuchte sich das Gedränge vorzustellen, wenn sechs Menschen auf so engem Raum lebten.
«Einlogierer, versteht sich», erklärte die Frau. «Arbeiter aus dem Osten. Ich war einmal oben, weil mir zu viel Radau war. Was da für Zustände herrschen. Sie machen sich keine Vorstellungen. Alles voller Fliegen und Brummer! Aber irgendwie muss man die 300 Mark Jahresmiete ja zusammenbringen. Die meisten hier im Haus nehmen zusätzlich Untermieter auf.»
Sören schüttelte den Kopf. Er überschlug die Anzahl der Zimmer je Stockwerk. Wenn in jeder Wohnung nur vier Personen lebten, dann waren das bereits mehr als 30 Menschen je Stockwerk. «Und das mit nur einem Abort auf der Etage?»
«Die meisten benutzen ja schon wieder die Abtritte hinten auf dem Hof», sagte die Frau. «Der Gestank war eh kaum zu ertragen. Der Inhalt der Wasserclosets wird ja in die Gräben hinter dem Haus geleitet. Schauen Sie!» Die Frau öffnete das kleine Küchenfenster und deutete auf die Wiese hinter dem Haus. «Keine zwanzig Meter hinter dem Hof läuft der Graben lang. Die Güllerinne. Die alten Abtritte sind zwar dunkel und voller Fliegen, aber zumindest stinkt’s in der Straße nicht mehr so.»
Sören erinnerte sich an den stechenden Geruch, der ihm sofort aufgefallen war, als er in den Borstelmannsweg eingebogen war. Unglaublich, dass diese Häuser von der Baupolizei genehmigt worden waren. Nicht nur der Zustand der sanitären Anlagen war katastrophal. Das ganze Gebäude wirkte unsolide konstruiert und äußerst schlampig gebaut. Die Stärke der Decken war viel zu schwach für die Vielzahl der Menschen, die hier lebten, und Sören hatte schon länger keine Wohnung mehr betreten, deren Räume so wenig Tageslicht abbekamen. Nicht einmal eine Luke zum Hofschacht gab es hier. «Sie wollten mir etwas über Frau Bartels erzählen.»
«Ich sag doch, ich weiß nicht, wie das Weib hieß», brummte die Frau. «Aber die war schon schlimm. Hat sich gar nicht gekümmert. Fünf Mädchen hatte die. Eine davon war wohl ihre eigene. Die Kleinen haben immer geklopft und um was zu essen gebettelt, und die Größeren, na ja … Kam schon des Öfteren vor, dass die Udls hier auftauchten. Sind wohl häufiger erwischt worden.»
«Erwischt wobei?», fragte Sören nach. «Beim Stehlen?»
«Beim Stehlen?» Die Frau lachte auf. «Na, schön wär’s. Nee, auf den Strich sind die gegangen. Aber die Udls haben wohl ein Auge zugedrückt …»
«Weil sie noch so jung waren?»
«Das wohl weniger.» Die Frau schüttelte den Kopf. «Alle ham doch gewusst, was die … Wie sagten Sie, wie die hieß?»
«Bartels. Inge Bartels.»
«Dass die Bartels nach Sonnenuntergang als Verschickse gearbeitet hat. Ohne Anmeldung und Taxe, versteht sich. Die Kleinen waren ja immer alleine nachts und haben gejammert. Klar, dass die dann auch mal für nischt die Röcke gelupft hat.»
Eigentlich reichte Sören schon, was er erfahren hatte. Die Schilderungen der Frau und das ganze Umfeld hier waren so bedrückend, dass er seine Suche am liebsten sofort abgebrochen hätte. «Sie wissen nicht zufällig, wer die medizinische Versorgung der Kinder übernommen hat, wenn sie mal krank waren?», fragte er dennoch.
«Das hat der Doktor Rieder gemacht. Der kommt ja aus Oben-Hamm. Ich weiß das, weil er auch meinem Otto das Bein versorgt hat, als es gebrochen war. Ein ganz Netter is das, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber der war schon lange nicht mehr da. Ich glaube, der ist jetzt am Städtischen in St. Georg.»
Sören war geradezu froh, als er den staubigen Fahrtwind einatmen konnte, der ihm auf der Hammer Landstraße entgegenwehte. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, seine Kleidung hätte den Geruch aus dem schrecklichen Haus am Borstelmannsweg angenommen. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu waschen. Zuvor aber wollte er nach diesem Dr. Rieder fragen. Die Fahrt zum städtischen Krankenhaus bedeutete nur einen kleinen Umweg.
«Dr. Bischop! Ein Kollege?» Doktor Rieder ging auf das kleine Handwaschbecken neben der Zimmertür zu und wusch sich gründlich, bevor er Sören die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. Wie es aussah, kam er gerade von einer Visite. Rieder war etwa im gleichen Alter wie Sören.
«Nicht wirklich», meinte Sören. «Ich habe zwar vor geraumer Zeit meinen Asklepiadenschwur geleistet, praktiziere aber schon seit langem nicht mehr.»
«Nun, wer einmal den Eid des Hippokrates abgelegt hat, bleibt der heilenden Zunft auf Lebenszeit verbunden. Womit kann ich dienen, Dr. Bischop?»
«Ich versuche, die ethischen Leitsätze des Handelns auch bei meiner jetzigen Tätigkeit stets zu berücksichtigen. Auch wenn das natürlich nur bedingt möglich ist. Nein, ich bin Advokat, und eine Mandantin beauftragte mich mit der Suche nach einem ehemaligen Kostkind. Ein Mädchen wahrscheinlich, wie ich inzwischen in Erfahrung gebracht habe, dessen Werdegang und Aufenthaltsort mir aber nicht bekannt sind. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass Sie das Kind vor etwa acht Jahren behandelt haben.» Sören reichte dem Arzt die alte Quittung.
Rieder betrachtete den Zettel. «Das ist in der Tat meine Handschrift. – Vor acht Jahren, sagten Sie?»
Sören nickte. «Der Name der Landamme ist Inge Bartels. Bis vor einem halben Jahr hat sie mit fünf Kindern in einer kleinen Wohnung im Borstelmannsweg gelebt. Eine Nachbarin nannte Ihren Namen.»
Der Arzt fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch den Bart. «Inge Bartels, Inge Bartels … Ich erinnere mich schwach; und ungerne, wenn es die ist, die ich meine. Die hatte einen ganzen Haufen Mädchen; wohnte aber hinter den Höfen in einem alten Landarbeiterhaus.»
«Das ist gut möglich», meinte Sören. «Die Häuser am Borstelmannsweg sind noch nicht so alt.»
Rieder nickte. «Ich hatte zu der Zeit einen Großteil der ärztlichen Versorgung in Hamm. Vor allem bei der ärmeren Bevölkerung. Viele von ihnen sind in den Borstelmannsweg gezogen. Jetzt steuern ja die Armenpfleger die Versorgung. Entsprechend viele Einweisungen gibt es. Ich bin seit drei Jahren hier am städtischen Krankenhaus. Seit Anfang des Jahres haben sich die Einlieferungszahlen nahezu verdoppelt.» Er machte ein besorgtes Gesicht. «Und seit zwei Tagen müssen wir vorzeitig entlassen, um Betten freizubekommen. Es werden auffällig viele Fälle von Brechdurchfall und akutem Darmkatarrh eingeliefert – zu viele, selbst für diese Sommerhitze. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich mache mir ernsthaft Sorgen, wenn das so weitergeht.»
«Flecktyphus?»
«Keine Flecken. Weder im Gesicht noch in den Handinnenflächen oder auf den Fußsohlen. Auch keine Darmblutungen. Einfach nur Erbrechen und wässriger Durchfall. Cyanose, die Haut blau verfärbt und wellig. Totale Dehydrierung, Anurie, Extremitäten eiskalt …» Doktor Rieder blickte Sören an. «Na, woran erinnert Sie das Krankheitsbild?»
Sören dachte an die Worte von Hugo Simon, die ähnlich sorgenvoll geklungen hatten. Er selbst hatte während seiner Zeit als Arzt keinerlei Erfahrungen mit Choleraerkrankungen sammeln können, und über den neuesten Stand der medizinischen Forschung war er auch nicht informiert. Während seines Studiums war der Kommabazillus, den Robert Koch nachgewiesen hatte, noch nicht bekannt gewesen. Damals hatten alle an Pettenkofer und dessen Miasmalehre geglaubt. Viele Ärzte waren ja immer noch der Meinung, die Cholera entstehe ähnlich wie ein Pilz aus ungesunder Luft und Ausdünstungen des Bodens. Die Symptome der Krankheit waren Sören hingegen bekannt. «Vibrio Cholerae», murmelte er undeutlich. «Cholera asiatica.»
Man konnte durch den Vollbart hindurch erkennen, wie Rieder die Lippen aufeinander presste. «Wir wollen es nicht hoffen», sagte er schließlich. «Vor allem, weil unsere neue Krankenhausleitung immer noch ein begeisterter Anhänger von Pettenkofers antikontagionistischer Theorie ist. Seit Hauptmann Weibezahn hier die Leitung übernommen hat, ist preußische Ordnung ins Haus eingezogen. Man merkt, dass der Mann vorher für ein Militärlazarett zuständig war … Und wo Sauberkeit und militärische Ordnung vorherrschen, da gibt’s keine Cholera!» Der Arzt schlug übertrieben laut die Hacken seiner Schuhe zusammen. «Aber ich schweife ab. Sie kamen ja mit einem ganz konkreten Anliegen zu mir. Bedauerlicherweise erinnere ich mich an die Frau sogar ganz genau. Die hatte immer einen ganzen Haufen Mädchen im Haus. Sie selbst arbeitete wohl bei einem Beherberger. Ich musste mehrfach Meldung an den Kreisphysikus machen … Schwere Misshandlungen, ein stümperhaft ausgeführter Schwangerschaftsabbruch – das Mädchen war erst dreizehn und wäre fast verblutet …»
«Erinnern Sie sich an die Namen der Kinder?»
«Nein, tut mir Leid. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob mir die Namen überhaupt genannt wurden. Wenn ich gerufen wurde, dann ging es den armen Kreaturen meist so schlecht … Immer nur solche Sachen. Furchtbar. Wie kann man einer solchen Frau nur Kinder anvertrauen?»
Es klopfte an der Tür. Im gleichen Augenblick wurde sie geöffnet, und eine Krankenschwester steckte den Kopf herein. «Herr Doktor! Es ist dringend. Schon wieder zwei!»
Doktor Rieder reichte Sören die Hand. «Sie entschuldigen, aber Sie sehen ja, ich werde gebraucht. Ich hoffe, ich konnte Ihnen ein wenig behilflich sein …» Sörens Antwort bekam er schon nicht mehr mit, so schnell war er zur Tür hinaus.
Bei der Sittenpolizei, der 3. Abteilung der Hamburger Polizei, gab es sogar eine Akte zu Inge Bartels. Allerdings konnte man Sören auch dort nicht weiterhelfen, was den momentanen Aufenthaltsort der Frau betraf. Die Einträge und Protokolle reichten zurück bis zur Reichsgründung. Dem Anschein nach war es jedoch nie zu einer Anklage gekommen. Zumindest gab es keine entsprechenden Vermerke. Bei den Einträgen handelte es sich anfangs um den Verdacht der Gelegenheitshurerei sowie der gewerbsmäßigen Prostitution, später tauchte auch der Vorwurf der Koberei und Zuhälterei auf. Seit etwa zehn Jahren stand der Name Bartels dann nur noch im Zusammenhang mit verschiedenen Vergnügungslocalitäten, wo sie als Bedienung angetroffen worden war. Der letzte Eintrag lag zwei Jahre zurück. Zu der Zeit war Inge Bartels Wirtin in einem Local namens «Rote Rose» gewesen. Vergnügungslocale mit derartigen Namen waren in Hamburg meist nichts anderes als Bordelle. Die waren zwar seit der Reichsgründung und dem neuen Strafgesetzbuch nach verboten, aber anders als in den meisten deutschen Städten ging man mit einschlägigen Betrieben in Hamburg sehr nachsichtig um, da es einfacher war, feste Etablissements unter Kontrolle zu halten als die versteckte Hurerei in den Gassen und Gängevierteln. Ganz unterbinden konnte man das Gewerbe so oder so nicht. Seit zwei Jahren gab es keine Einträge mehr in der Akte, und die «Rote Rose» existierte auch nicht mehr. Sören machte sich ein paar Notizen, dann fuhr er nach Hause, nahm ein kühles Vollbad und machte sich auf den Weg zu Martin. Es war an der Zeit, die Last des Tages abzuschütteln. Außerdem war er neugierig, was sein Freund von Mathilda Eschenbach hielt.
Martin Hellwege war sichtlich enttäuscht, als Sören es entgegen ihrer Gewohnheit ablehnte, eine Partie Schach mit ihm zu spielen. «Aber einen Wein trinkst du doch mit?», fragte er und stellte wie selbstverständlich zwei Gläser auf den Tisch. «Ich habe einen ganz vorzüglichen weißen Burgunder offen. Genau das Richtige für diese Temperaturen.»
Es war in der Tat immer noch sehr warm, obwohl die Sonne bereits untergegangen war. «Da kann ich kaum nein sagen», antwortete Sören und folgte Martin auf die große Veranda zum Garten.
«Gratulation übrigens zu deinem Auftritt neulich.» Martin entzündete zwei Kerzen auf dem Tisch und setzte sich. «Der gute Lichtwark war sehr angetan von dir. Was ist übrigens mit deinem Fuß? Du humpelst.»
«Zu viel Alkohol.» Sören griente seinen Freund an. «Hab’s erst gar nicht gemerkt. Bin unglücklich gestolpert und umgeknickt.» Er hob das Glas und prostete Martin zu. «Ich werde mich also in Zukunft ein wenig zurückhalten. Außerdem habe ich morgen Vormittag einen Gerichtstermin.»
«Ich fand den Vorschlag, den du Lichtwark gemacht hast, übrigens auch sehr gelungen. Eine elegante Lösung. Ich wusste gar nicht, dass du solch ein diplomatisches Geschick besitzt.»
«Vielen Dank nochmals, dass du das arrangiert hast. Fräulein Eschenbach war natürlich schwer beeindruckt. Was hältst du denn im Übrigen von ihr?»
Martin spitzte die Lippen. «Recht apart», meinte er nach einigen Sekunden.
«Apart. Hmm.» Sören zog die Augenbrauen zusammen. «Das ist sehr knapp gehalten.»
Martin zuckte mit den Schultern. «Was erwartest du von mir für ein Urteil? Wir haben ein paar Stunden Konversation getrieben. Sie schien mir recht gebildet.»
«Und sonst? Ich meine ihre Erscheinung. Sieht sie nicht bezaubernd aus?»
Martin nickte. «Doch, doch. In der Tat.» Er fixierte Sören. «Du hast ernsthafte Absichten?», fragte er schließlich.
«Nun tu nicht so erstaunt. Ich bin vierundvierzig. Da darf man sich doch wohl schon mal Gedanken machen …»
«Spät genug», entgegnete Martin schwach lächelnd und nippte an seinem Weinglas. «Du meinst also, es wäre an der Zeit, an die Gründung einer Familie zu denken.»
«Warum nicht? Ich spiele schon seit längerem mit dem Gedanken. Nur ist mir eben noch nicht die Richtige begegnet. Bis jetzt. Mein Herz bebt förmlich, wenn ich in ihrer Nähe bin. Ihre Blicke berühren etwas in mir, das mir bislang unbekannt gewesen ist. Ich komme mir zwanzig Jahre jünger vor. Wenn also nicht jetzt, wann dann?» Sören blickte seinen Freund an, aber Martin wich seinem Blick aus. «Was ist mit dir?», fragte er. «Du lebst hier in einer riesigen Villa mit zehn Zimmern, von denen die Hälfte leer steht. Soll das ewig so bleiben?»
Martin sagte nichts. Stattdessen zog er ein silbernes Etui aus seiner Jacke und steckte sich eine Zigarette an.
«Seit wann rauchst du?», fragte Sören.
«Gelegentlich.» Martins Blick streifte durch das Dunkel des Gartens.
«Ich habe dich noch nie rauchen gesehen.»
«Weißt du, es gibt vermutlich so einiges, das du nicht von mir weißt, Sören. Das Rauchen zum Beispiel. Ich tue es nicht regelmäßig.» Martins Blick war immer noch in die Dunkelheit gerichtet, als suche er in den nächtlichen Schatten der Bäume und Sträucher etwas, das man nur in der Finsternis erkennen könne. Irgendetwas in seiner Stimme verriet Sören, dass es Martin Überwindung kostete weiterzusprechen. «Wie lange kennen wir uns jetzt? – Seit unserer Kindheit, wirst du sagen. Richtig. Wir sind durch dick und dünn zusammen gegangen. Wir haben so mancherlei zusammen ausgeheckt und durchgestanden. Waren immer füreinander da.» Martin inhalierte den Rauch der Zigarette mit einem tiefen Atemzug. Immer noch starrte er wie gebannt in die Nacht. «Und dennoch! Was wissen wir wirklich voneinander? Ich meine, was tief in uns ist. Was in unserer Seele schlummert. Du wirst dich erinnern, dass ich dich nie danach gefragt habe, warum du dir keine Frau nimmst. Vielleicht – vielleicht war es die Hoffnung, dass man nicht darüber sprechen muss, weil du genau das fühlst, was ich fühle. Ich dachte, es geht dir vielleicht wie mir. Aber so war es nicht. Mit dir darüber zu sprechen war mir nicht möglich, und auch jetzt fällt es mir schwer. Und nun willst du einen Rat, den ich dir als bester Freund nicht geben kann. Verlang nicht von mir, dass ich dir weitere Rechenschaft darüber ablege. Nur so viel: Ich umgebe mich gerne mit Frauenzimmern, aber ich fühle mich nicht zu ihnen hingezogen. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich feststellte, dass ich nicht allein damit bin. Viele Menschen fühlen wie ich.»
Endlich trafen sich ihre Blicke, und Sören sah, dass die Augen seines Freundes feucht schimmerten. «Ja … also …» Sören wollte etwas entgegnen, aber sein Kopf war leer. Eigentlich hätte er seinen Freund jetzt gerne in den Arm genommen, ihm zumindest eine Hand auf die Schulter gelegt. Aber irgendetwas sperrte sich in ihm. Er hatte Angst, dass diese Geste der Vertrautheit, die körperliche Nähe, bei der er sich nie zuvor etwas gedacht hatte, genau in diesem Moment missverstanden werden könne. Im gleichen Moment wurde Sören bewusst, wie albern das war. Hatte er seinem Freund nicht gerade eben seine Gefühle für Mathilda Eschenbach gestanden? Und nun hatte Martin sich ihm nach all den Jahren offenbart, hatte ihm ebenfalls etwas gestanden, was ihm selbst viel peinlicher sein musste. Wie lange musste er sich damit schon herumgequält haben? Sie kannten sich doch so lange. War er selbst so blind gewesen, oder hatte er die Wahrheit nur nicht sehen wollen? Verschämt senkte er den Blick.
«Ich kann dir nicht erklären, warum. Nimm es so, wie es ist.» Sörens Verstörtheit wich ein wenig, als er erkannte, dass sich ein zaghaftes Lächeln um Martins Lippen abzeichnete.
Stumm begann auch er zu lächeln.
Als Sören weit nach Mitternacht heimkehrte, fiel er todmüde ins Bett. Trotz seiner Vorsätze hatte er zu viel Wein getrunken, und eigentlich hätte er sofort in einen Tiefschlaf fallen müssen, aber das merkwürdige Geständnis seines Freundes ging ihm nicht aus dem Kopf. Als er an Mathilda dachte, fühlte er sich irgendwie schuldig, auch wenn er wusste, dass das absurd war.