13. August
Sören betrat den Paternoster des Dovenhofs und ließ sich ein Stockwerk höher tragen. Wenn er schon einmal hier war, dann konnte er auch bei Martin im Kontor vorbeischauen. Vielleicht hatte sein Freund genug Zeit, sodass sie gemeinsam auf eine Weinschorle in der Restauration im Parterre einkehren konnten. Es gab einiges zu berichten. Zumindest die gestrigen Ereignisse wollte Sören Martin nicht vorenthalten. Zufrieden rieb er sich die Hände. Nach dem überaus erfreulichen Gespräch, das er gerade mit Ernst Schocke geführt hatte, gab es bis zum Wochenanfang keine weiteren Termine, die ihm die Laune hätten verderben können, und er wollte sich nun ganz auf den morgigen Tag konzentrieren.
Während er den langen Korridor zu Martins Kontor entlangging, rekapitulierte Sören in Gedanken noch einmal alle Fakten. Hatte er etwas übersehen? Nein, sie hielten alle Trümpfe in der Hand. Es konnte nichts mehr schief gehen. Das Material vom Patentamt gab endgültig Aufschluss darüber, dass die Sicherheitsventile der in England ansässigen Firma Perth nicht nur billige Kopien der Erzeugnisse von Schocke waren, sondern dass mit der Produktion ganz offensichtlich das Patentrecht verletzt worden war. Auch wenn man der Firma von hier aus den Vertrieb der Armaturen nicht verbieten konnte, so waren sie zumindest für die Submissionsausschreibung aus dem Rennen. Und das war alles, was für Schocke Bedeutung hatte, denn es gab keinen anderen ernst zu nehmenden Konkurrenten.
Seit im Vorjahr die Gasfabrik auf dem Grasbrook von der Stadt übernommen worden war, glaubte man dort, durch die Übernahme nun nicht mehr an die laufenden Lieferverträge gebunden zu sein, und hatte eine Neuausschreibung ins Leben gerufen. Für Schocke ging es um die Abnahme von viertausend Regelventilen für Straßenbeleuchtungskörper; viertausend Ventile zu einem Stückpreis von achtzig Mark. Nach dem aktuellen Stand der Dinge blieb der Stadt gar nichts anderes mehr übrig, als die Sicherheitsventile, wie ursprünglich verabredet, von Schocke zu beziehen. Wahrscheinlich würde man sich sogar außergerichtlich einigen. Sören grinste. Die Arbeit hatte sich gelohnt. Auch für die Kanzlei. Er war gespannt, was Johns dazu sagen würde.
Martin sah immer noch schlecht aus. Sein Gesicht wirkte eingefallen, und er hatte dunkle Ränder unter den Augen. Zwei Wochen hatte er aufgrund eines Mageninfektes das Bett hüten müssen, dann war er entgegen dem ärztlichen Ratschlag doch zur Arbeit gekommen, mit dem Ergebnis, dass er am nächsten Tag von Magenkrämpfen und Durchfall heimgesucht worden war. Zuerst hatte man geglaubt, er wäre an Typhus erkrankt, aber dieser Verdacht hatte sich Gott sei Dank als falsch erwiesen. Nachdem er die Sache auskuriert hatte, war er im Anschluss für zehn Tage zur Erholung ans Meer gefahren. Seit einer Woche war Martin nun wieder in Hamburg, aber richtig erholt sah er nicht aus. Eher so, als hätte er versucht, die liegen gebliebene Arbeit der letzten Wochen in den wenigen Tagen aufzuholen. Zu einem Glas Weinschorle konnte ihn Sören dennoch überreden.
«Ich habe übrigens das Gut meiner Eltern in Volksdorf verkauft.» Martin schenkte ihm aus der Karaffe ein und rückte seinen Stuhl vom Fenster weg.
Sören tat es ihm gleich. Die tief stehende Sonne über den Dächern der Hafenspeicher blendete. «Das hattest du doch schon lange vor.» Er prostete seinem Freund zu. «Hat sich also ein Käufer gefunden.»
«Hundertfünfzig Hektar sind kein Pappenstiel. Das Landhaus, die Stallungen, die Felder … Das will erst einmal bewirtschaftet werden. Wie du weißt, verbringe ich die wenigen freien Tage im Sommer lieber am Meer, und im Winter ist es in Volksdorf ungemütlich. Ich habe nie so recht an der Anlage gehangen. Außerdem erinnerte sie mich immer an das lange Dahinsiechen meiner Mutter. Die letzten Jahre waren fürchterlich. Für den Verwalter und das Personal ist gesorgt. Ich habe vertraglich vereinbaren können, dass der Käufer, ein Herr von Wittenberg aus dem Mecklenburgischen, das Personal übernimmt.»
«Ich könnte mich nicht so einfach vom Haus meiner Eltern trennen», entgegnete Sören. «Der Abriss des Hauses am Brook damals ist mir schon recht nah gegangen, immerhin habe ich meine gesamte Kindheit dort verbracht.» Natürlich waren die Besitztümer der Bischops recht bescheiden im Vergleich zu denen der Hellweges, aber im Prinzip machte das keinen Unterschied.
«Ich erinnere mich kaum mehr an unser Haus am Wandrahm.» Martins Elternhaus hatte im selben Viertel gestanden. Gemeinsam hatten die beiden dort ihre Jugend verbracht. Die gesamten Straßenzüge waren allerdings schon vor mehr als zehn Jahren abgerissen worden, als das Wohngebiet für den Bau der Speicher im Freihafen enteignet worden war. Die Speicherbauten hatten sich inzwischen immer weiter Richtung Osten ausgebreitet. Für Wohnraum war im Hafengebiet bald kein Platz mehr.
Martins Eltern waren damals nach Volksdorf gezogen, und Sörens Mutter, Clara, war nach dem Tod von Hendrik Bischop in ihr Elternhaus in der Gertrudenstraße zurückgekehrt. Sören selbst hatte sich von der Entschädigungszahlung für das Haus am Brook eine schmale Reihenvilla in der Feldbrunnenstraße kaufen können. Unweit von Martin, der in einer deutlich größeren Villa in der Alten Rabenstraße wohnte.
«Wie geht es übrigens deiner Mutter?», fragte Martin.
«Unkraut vergeht nicht. Nur die Hitze macht ihr natürlich zu schaffen. Wie uns allen. Sie verlässt das Haus nur am Vormittag und in den Abendstunden. Gestern habe ich sie zu Pollini begleitet.»
«Ins Stadttheater? Was gab es?»
«Eine Komposition von diesem neumodischen Dirigenten, Mahler ist sein Name. Mutter war ganz begeistert.»
«Gustav Mahler? Man hört, seine Stücke seien sehr eigenwillig.» Martin leerte sein Glas und schenkte nach.
Sören nickte. «Ja, es war recht anstrengend. Seine Kompositionen sind einerseits sehr aufwühlend, andererseits … wie soll ich sagen? Ich verstehe wohl zu wenig von der Materie … Zumindest kann man sie nicht gerade als gefällig bezeichnen.» Er grinste. «Aber es war trotzdem ein sehr schöner Abend. Ich habe eine Bekanntschaft gemacht …»
«Soso.» Martin musterte seinen Freund spöttisch.
Sören merkte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er öffnete den obersten Knopf seines Hemdes und tupfte sich mit einer Serviette die Stirn ab. «Im Anschluss an das Konzert gab es eine kleine Soiree für die Freunde des Hauses. Nun, Mutter ist ja Mitglied im Förderkreis …»
Martin trommelte mit den Fingern auf der Tischkante und grinste seinen Freund an. «Mach es nicht so spannend. Wie heißt sie?»
«Fräulein Mathilda Eschenbach. Sie spielt Violine im Ensemble des Stadtorchesters.»
«Du sprichst ihren Namen aus, als könntest du an nichts anderes mehr denken, mein Freund.»
«Na ja, sie ist eben … sie ist bezaubernd. Du musst sie unbedingt kennen lernen.»
«Nun mal ruhig Blut, mein Lieber. Du hast sie doch selbst gerade erst kennen gelernt. Oder habt ihr euch gleich vor Ort verlobt?»
«Nur kein Neid.» Sören knuffte Martin freundschaftlich gegen die Schulter. «Ich habe mir erlaubt, sie morgen zu einem Bummel durch die Kunsthalle einzuladen.»
«Und?»
Ein siegesgewisses Lächeln huschte über Sörens Lippen. «Sie hat zugesagt.»
«Du führst dich auf, als wärst du zwanzig und nicht vierundvierzig.»
«Glaub mir, ich fühle mich auch, als wäre ich nur halb so alt.»
«Wie alt ist denn das Fräulein Eschenbach, wenn ich fragen darf?»
«Sechsundzwanzig. Sag mal …», begann Sören schnell, bevor Martin Zeit hatte, den Altersunterschied mit einer spöttischen Bemerkung zu kommentieren, «erwähntest du nicht irgendwann, dass du den Direktor der Kunsthalle ein bisschen kennen würdest?»
Martin nickte. «Alfred Lichtwark, ja. Wir hatten ihn von der ‹Harmonie› aus gebeten, uns einige Empfehlungen zu geben. Es ging darum, dass ein Kunstmaler Porträts altverdienter Mitglieder der Gesellschaft fertigen sollte, welche die ‹Harmonie› dann ankaufen wollte. Ich hatte den Vorsitz des Ausschusses inne und habe mich mehrfach mit ihm getroffen. Wieso fragst du?»
«Ich dachte …» Sören zögerte. «Ob du ihn fragen könntest … vielleicht … Also, wenn es die Gelegenheit zulässt, ob er nicht zufällig zu uns stoßen könnte. Ich kann mir vorstellen, dass Fräulein Eschenbach sehr beeindruckt wäre.» Sören schaute Martin erwartungsvoll an. «Was ich damit sagen will: Ich habe doch keinen Schimmer von Malerei.»
«Hättest du ihr dann nicht besser vorgeschlagen, in den Hansa-Concert-Saal, auf die neue Rennbahn nach Groß-Borstel oder irgendwo anders hinzugehen?»
Sören schüttelte den Kopf. «Ein abendlicher Konzertbesuch schickt sich nicht beim ersten Rendezvous. Außerdem ist sie ja selbst Musikerin. Sie freut sich bestimmt über ein wenig Abwechslung. Und Rennbahn … ich weiß nicht. Bei der Hitze und dem Staub?»
«Ich hätte Badeanstalt vorgeschlagen», feixte Martin.
«Sehr komisch.» Sören zog eine Grimasse. «Und? Arrangierst du was?»
«Wenn er da ist und Zeit hat.» Martin nickte. «Ich verabrede mich mit ihm, wir treffen uns dort zufällig, ich stelle euch einander vor, und dann mache ich mich aus dem Staub. So hast du dir das doch in etwa gedacht, oder?»
«Dann würdest du sie auch gleich kennen lernen.»
«Abgemacht. Aber gib nachher nicht mir die Schuld, wenn sich das Fräulein Eschenbach in mich verliebt.»
Der Kutscher blickte Sören entgeistert an. Nicht dass es ungewöhnlich gewesen wäre, sich von der Schauenburger Straße zu den Vorsetzen fahren zu lassen, aber in seiner Aufmachung entsprach Sören nicht im Geringsten der Klientel, die für solche Wegstrecken eine Droschke in Anspruch nahm. Er lächelte in sich hinein, während er dem Kutscher ein Markstück reichte. Es erstaunte ihn immer wieder aufs Neue, mit welch geringem Aufwand sich aus Dr. Sören Bischop der Hafenarbeiter Sören machen ließ. Ein zerschlissener schwarzer Rock, ein staubiger Hut mit lädierter Krempe, ein Paar alte Schuhe und dazu noch ein wenig mit Kohle geschwärzte Wagenschmiere auf der Stirn sowie unter den Fingernägeln reichten aus. Fräulein Paulina hatte die Nase gekräuselt, als er wieder einmal in dieser Aufmachung die Kanzlei verlassen hatte. Dabei kam von ihr der entscheidende Hinweis, auf den hin Sören beschlossen hatte, sich noch heute am Nachmittag ein wenig in der «Möwe» umzuhören. Auch wenn Fräulein Paulina keine Details zu dem Verbrechen kannte, der Name des verstorbenen Wirtes war ihr aus unerfindlichen Gründen geläufig: Wilhelm Mader, genannt Willy. Wahrscheinlich hatte sie in der Zeitung über den Mord gelesen. Sören blickte auf seine Uhr, dann verstaute er das kostbare Erbstück wieder in der Hosentasche. Viertel nach vier. Er kam genau richtig zum Schichtwechsel. An der Ecke Baumwall ließ er sich absetzen. Wenn er seine Rolle glaubhaft spielen wollte, konnte er nicht mit einem Wagen bei der «Möwe» vorfahren.
Kurz vor dem Anleger Baumwall traf er auf die ersten Lüd von de Eck, wie die Arbeit suchenden Hafenarbeiter im Volksmund genannt wurden. Es gab bestimmte Ecken, an denen sie herumlungerten. Wer zu keiner festen Gang gehörte, dem blieb nichts anderes übrig, als sich dieser Form der Arbeitsvermittlung zu bedienen. Die Vorarbeiter suchten sich natürlich mit Vorliebe nur die kräftigsten Kerle aus, weshalb die Kleinwüchsigen und Schmächtigen an diesen Ecken kaum zu finden waren. Die mussten sich ihren Arbeitsplatz ertrinken, wie man es nannte. Das hieß, sie waren auf die Vermittlung durch die Schankwirte der hafennahen Arbeiterspelunken angewiesen. Wer am meisten konsumierte, wurde natürlich auch schneller vermittelt.
An den Vorsetzen hatten unzählige Schuten und Ruderboote festgemacht, von denen die Arbeiter der am anderen Elbufer liegenden Schiffswerften in die Kneipen strömten. Im Gegensatz zu den Festmachern, Schauerleuten, Stauern und Tallymännern arbeiteten die Nieter, Schlosser und Schiffszimmerer der Werften größtenteils im Schichtdienst. Zum Schichtwechsel hin waren die Kellerwirtschaften und Schänken dementsprechend bis zum Bersten gefüllt. So auch die «Möwe». Am Ende der Kellertreppe roch es trotz der Temperaturen feucht und muffig. Sören versuchte, nicht daran zu denken, wie viele betrunkene Seeleute und Hafenarbeiter hier in den letzten Stunden gegen das Geländer und auf die Stufen uriniert hatten, dann wurde er von einer nachrückenden Gruppe durch die Tür geschoben.
Der Geruch von Schweiß und Fusel verschlug ihm den Atem. Sören benötigte einige Augenblicke, bis er in dem rauchgeschwängerten Kellerraum überhaupt etwas erkennen konnte, so schummrig war die Beleuchtung. Die Räume der «Möwe» verzweigten sich in schmale, niedrige Gänge, die nach hinten führten. Irgendwo in der Ferne lärmte ein verstimmtes Akkordeon. Sören versuchte, einen Platz am Tresen zu ergattern, wo hektisches Gedränge herrschte. Langsam kämpfte er sich durch die Menge nach vorne.
«Na, Sie hab ich hier ja wo noch nie geseh’n! Neu hier, wa?», schrie ihm die rotwangige Bedienung hinter dem Tresen entgegen, als er endlich an der Reihe war. Die Frau hatte eine üppige Figur. Genau genommen war sie fast so breit wie hoch.
Sören stützte sich mit beiden Händen auf den Tresen, der mit einer klebrigen Dreckschicht besudelt war. «Nein, eigentlich nicht. Komme nur nicht jeden Tag. Ein Bier für mich.»
Sie musterte ihn. «Auf Suche?», fragte sie, während sie das Bier abzapfte.
«Kann man so sagen, ja.»
Die Frau schüttelte nachdenklich den Kopf und ging zum vertraulichen Du über. «Wie ’n Festmacher siehste nich gerade aus! Was kannste denn?!»
Ein glatzköpfiger Riese tauchte hinter dem Tresen auf, wischte die Hände an seiner dreckigen Schürze ab und schob sich die Hemdsärmel hoch. «Elsa, du sollst nich so bannich am Tresen schnacken!», schrie er der Frau zu. «Da hinten will einer ’ne Lage. Nu mach hinne!»
Die Bedienung kuschte augenblicklich, reichte Sören stumm sein Bier herüber und schob sich am Tresen vorbei zum Schankraum.
«Wo is’n der Willy?», fragte Sören, als ihm der Riese einen finsteren Blick zuwarf.
«Willst du mich veräppeln?», brummte der Mann zurück. «Weiß doch jeder hier. Den hamm se abgestochen.»
Sören kippte sein Bier herunter, schluckte zweimal nach Luft und gab einen lauten Rülpser von sich. Es war doch ein komisches Gefühl, sich in der Öffentlichkeit so richtig gehen zu lassen. «War ’ne Zeit weg», meinte er. «Sind Sie der neue Wirt?»
«Hab die Schänke letzte Woche übernommen!»
«Und?» Sören reichte dem Mann auffordernd das leere Glas. «Stimmt der Umsatz?»
«Kann nich klagen! – Noch ’n Bier?»
Sören nickte.
«Musst dich ranhalten, mien Jung, wenn du für Montag noch was abhaben willst!»
Es war Sören bekannt, wie das mit der Arbeitsvermittlung funktionierte, aber mit so deutlichen Worten hatte er nicht gerechnet. Wenn er in dem Tempo weitertrank, war er spätestens in einer Stunde abgefüllt. Er nahm das volle Glas entgegen und reichte dem Wirt drei Groschen. «Danke, aber bis nächste Woche bin ich versorgt.» Dann drängelte er sich durch die Menge zurück zum Schankraum. Auf einer der Bänke war noch Platz. «Rück mal!», forderte er den ersten Mann am Tisch auf und schob sich auf die Bank.
«Bist du Stauer?», fragte der Mann rabiat. Dann musterte er Sören, der mindesten einen Kopf größer war, und wechselte in eine freundlichere Stimmlage. «Hier sitzen nur Stauer!»
Sören nickte und stellte sein Glas ab.
«Das ist Tom, der da is Heiner, und ich bin Paule!», stellte er die anderen am Tisch der Reihe nach vor. «Und wie heißt du?»
«Sören.»
«Prost, Sören!»
«Prost! – War ’ne Zeit weg. Hab gerade erfahren, dass einer den Willy abgemurkst hat. Unschöne Sache …»
«Mir egal!», rief Paule. «Hauptsache die Elsa is noch dor! Nich, mien Deern?» Er grapschte nach dem ausladenden Hintern der Bedienung, die sich mit einem Tablett gerade ihren Weg zwischen den Bänken hindurchbahnte.
«Finger wech! Sonst gib’s gleich was anne Backen, du Spacken!», rief Elsa, die allerdings keine Hand frei hatte, um sich zu wehren.
Die Männer lachten dreckig. Auch die Tischnachbarn grölten. Es stank erbärmlich nach Tabak und Schweiß. Der Qualm war auf einmal so dicht, dass man kaum weiter als bis zur nächsten Tischkante gucken konnte. An der Decke hing ein Fischernetz, in dem allerlei ausgetrocknetes Meeresgetier in den merkwürdigsten Formen hing. Es sah aus, als zappelten die Fische; das Gewölbe war nämlich so niedrig, dass man kaum aufrecht darunter stehen konnte, und jeder, der aufstand, stieß unweigerlich mit dem Kopf gegen das Netz. Irgendwo fiel ein Krug auf den Boden, woraufhin schallendes Gelächter ausbrach. Am Tresen kabbelten sich zwei Betrunkene, die der riesige Wirt sogleich am Schlafittchen packte und mit einem Fußtritt an die frische Luft beförderte.
Paule stellte einen Knobelbecher vor Sören auf den Tisch. «Machst du mit, Schüttler?»
Sören legte einen Groschen zu den Würfeln. «Klar – ein Torfstich!»
«Gut, zwei Runden, ein Stich!», rief Tom und warf seinen Groschen dazu. Die anderen taten es ihm gleich.
«Dann geht die erste Runde auf mich», sagte Sören und orderte für sich und die Stauer eine Runde Lütt un Lütt. «Hat man den schon, der’s gewesen ist?», fragte er, als die Biere und Schnäpse verteilt waren.
«Man munkelt da was», meinte Heiner mit gedämpfter Stimme, woraufhin ihm Tom einen Stoß in die Rippen versetzte.
«Schnauze!», fauchte er.
«Wenn der Willy was einbehalten hat …»
«Ich sag’s nich noch einmal!» Tom knallte die Faust auf den Tisch und blickte Heiner zornig an. Seine Augen funkelten.
«Is schon gut. Hab ja verstanden», murmelte Heiner kleinlaut und schob den Becher weiter.
Sören hakte nicht weiter nach. Auch wenn das hier nur Gerüchteküche war, hatte Toms Reaktion ausgereicht, ihm den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Warum hatte Tom so heftig reagiert? Weil man Sören nicht kannte? Was hätte Wilhelm Mader einbehalten können? War es nur Zufall, dass er gleich beim ersten Gespräch in ein Wespennest gestochen hatte, oder wusste jeder der Stammgäste hier mehr?
Für heute reichte es. Sören spielte die zwei Runden zu Ende, warf noch einen Groschen zu den Würfeln und verließ die Wirtschaft. Er blickte zur Uhr. Vielleicht traf er im Stadthaus noch Ernst Hartmann an. Ohne detaillierte Informationen über den Tathergang und darüber, was die Polizei über Täter und Opfer wusste, kam er nicht weiter. Normalerweise gab es Auskünfte darüber nur vom zuständigen Staatsanwalt. Normalerweise – es sei denn, man kannte dessen Lieferanten.
Die Droschke hielt wenige Minuten später an der Stadthausbrücke. Sörens Blick fiel auf die neue Kaiser-Wilhelm-Straße, die sich wie ein breiter Flur in Richtung Holstenthor öffnete. Sörens Standpunkt markierte genau die Grenze zwischen Alt- und Neustadt. Für den Bau dieser Straße war vor zwei Jahren das dichte Gängeviertel zwischen Bäckerbreiter- und Specksgang niedergelegt worden. Vereinzelt säumten schon hohe Etagenmietshäuser den neuen Straßenzug.
Für die Hamburger Polizei hatte man vor vier Jahren ein großes Verwaltungsgebäude an der Ecke zum Neuen Wall gebaut – das neue Stadthaus. Der Bau war vor kurzem eingeweiht worden. Wie viele städtische Verwaltungsbauten war die Fassade in Renaissanceformen gehalten. Entworfen hatte das prachtvolle Gebäude Baudirektor Zimmermann. Er zeichnete für fast alle Bauvorhaben des städtischen Gemeinwesens verantwortlich. Neben den neuen Verwaltungsbauten waren das in letzter Zeit vor allem Schulhäuser, die neuerdings in der ganzen Stadt wie Pilze aus dem Boden schossen. Die Gebäude ähnelten sich alle irgendwie, obwohl man ihren Zweck trotzdem auf den ersten Blick zuordnen konnte. Sören mochte diese Formensprache. Sie erinnerte ihn an Paris, ein wenig auch an Berlin. In diesem Fall war besonders auffällig, dass sich das Stadthaus an der Geschosshöhe des barocken Palais orientierte, in dem der Präsident der Polizei bisher gesessen hatte und das in direkter Nachbarschaft am Neuen Wall stand. Der Neubau war aber nicht nur viel größer, sondern auch moderner. Das Erdgeschoss schien aus dicken Quadern zu bestehen. Es wirkte uneinnehmbar wie eine Festung.
Ernst Hartmann runzelte die Stirn, als Sören sein Amtszimmer betrat. «Du meine Güte, Sören, wie siehst du denn aus? Fehlt nicht viel, und du gehst als Vigilant der Politischen durch.»
Polizeisekretär Ernst Hartmann war seit zwei Jahren Leiter der Criminalen Polizeiabteilung. Wie fast alle leitenden Verwaltungsbeamten der Stadt war er promovierter Jurist. Sören kannte Hartmann, der etwa zehn Jahre jünger war, schon seit der Studienzeit. Wie der Zufall es wollte, waren beide Mitglieder in der Gesellschaft «Harmonie».
Sören blickte grinsend an sich herab. «Entschuldige meinen Aufzug, aber du weißt ja, es gibt Situationen, wo es ratsam ist, seinen gesellschaftlichen Stand nicht nach außen zu tragen. Ich kam nicht dazu, mich umzuziehen, ich wollte dich nicht verpassen.»
«Dann lag ich mit der Vigilanz ja gar nicht so verkehrt. Wie kann ich dir helfen?»
«Ich benötige dringend einige Informationen über einen Wilhelm Mader.»
Hartmann spitzte die Lippen und nahm sein Monokel vom Auge. «Willy Mader? Der tote Schankwirt? – Hast du etwa vor, der Polizei ins Handwerk zu pfuschen, oder wie erklärt sich dein Interesse?»
Sören schüttelte den Kopf. Da er nicht wusste, wie weit die Polizei bei diesem Fall war, und er den Namen Steen nicht voreilig erwähnen wollte, hatte er sich etwas zurechtgelegt.
«Es ist so: Ein Mandant von mir erwähnte den Namen im Zusammenhang mit einer Sache, die vielleicht auch für dich von Interesse ist.»
Hartmann runzelte die Stirn. «Der Name deines Mandanten?»
«Er kommt als Täter nicht infrage», erklärte Sören unbeirrt, «da er zur Zeit der Tat in Untersuchungshaft saß. Nur so viel: Es geht möglicherweise um krumme Geschäfte, in die Mader verwickelt gewesen sein könnte.»
«Über so etwas haben wir auch schon nachgedacht.» Hartmann klemmte sich sein Monokel wieder ins Auge, strich sich den Schnauzer glatt und schlug einen Aktenordner auf. «Zumindest legt sein bisheriger Werdegang so etwas nahe. Wilhelm Mader war kein unbeschriebenes Blatt. In den letzten fünf Jahren gab es eine Anzeige wegen Körperverletzung, drei wegen Betruges, diverse Bezichtigungen der Hehlerei, Zuhälterei und eine Anklage wegen versuchten Totschlags, von der er aber, wie in den anderen Fällen auch, freigesprochen wurde. Weiß der Teufel, warum man ihm nicht längst die Schankkonzession entzogen hat.»
Sören stieß einen Pfiff aus. «Donnerlittchen. Um den Fall beneide ich dich nicht. Gibt es denn schon einen Tatverdächtigen?»
«Wir gehen einigen Hinweisen aus dem Milieu nach …»
«Also noch nichts Konkretes?»
«Leider. – Wie du schon richtig bemerktest, gibt es mehr als eine Richtung, in die wir unsere Fühler ausstrecken müssen.» Er blickte Sören fragend an. «Was hat denn dein … Mandant so verlauten lassen?»
Sören setzte eine neutrale Miene auf. Was konnte Wilhelm Mader einbehalten haben? Abgesehen von dem, was die Stauer in der «Möwe» angedeutet hatten, war er ja nicht wirklich im Besitz verwertbarer Hinweise, wenn man einmal davon absah, was Altena Weissgerber ihm berichtet hatte. Und das wollte er erst einmal für sich behalten. Wie es aussah, war der Polizei der Name Steen in diesem Zusammenhang noch kein Begriff, und die beiden Trinkkumpane von Marten Steen spielten mit einiger Wahrscheinlichkeit ein falsches Spiel. Er musste unbedingt herausfinden, welchen Auftrag Steen für die beiden erledigen sollte. «Er sagte, Willy Mader würde ihm noch etwas schulden. Nun, wie es aussieht, wird er sich mit dem Verlust abfinden müssen.»
Hartmann nickte grimmig. «Es wäre nicht das erste Mal, dass Mader Lohnauszahlungen verweigert hätte. Die Betrugsvorwürfe gegen ihn betrafen genau diesen Punkt. Mader konnte jedoch in allen Fällen glaubhaft nachweisen, dass die Kläger hohe Zechschulden bei ihm hatten. Na, nun muss er sich ja um Ausreden keine Sorgen mehr machen …»
«Ist es eigentlich üblich, dass die Schankwirte neben der Arbeitsvermittlung auch für die Lohnauszahlung zuständig sind?», fragte Sören, dem diese Praxis bisher nicht bekannt gewesen war. Das warf natürlich ein ganz anderes Licht auf die Sache.
«In einigen Fällen schon», antwortete Hartmann. «Aber es wird höchste Zeit, dass man dem einen Riegel vorschiebt. Es kann nicht angehen, dass eine erfolgreiche Arbeitsvermittlung vom in den Schänken getätigten Alkoholkonsum abhängt. Aber den Firmen, die sich auf diese Weise ihre Arbeitskräfte organisieren, kann diese Praxis natürlich nur recht sein. Man bezahlt einen Agenten, vielleicht noch eine Hand voll Vorarbeiter, dafür benötigt man kein Lohnbüro, und auch die Buchhaltung ist, was die Belegschaft angeht, kaum zu überprüfen. Klar, dass denen das recht ist.» Hartmann lächelte verschmitzt. «Du glaubst gar nicht, was da geschachert wird.»
«Ich kann es mir vorstellen», antwortete Sören. «Ist es da vielleicht denkbar, dass ein verschuldeter Hafenarbeiter die Nerven verloren hat und dem Wirt …» War es vielleicht möglich, dass Marten Steen die Nerven verloren hatte?
«Im Streit ein Messer in die Brust gerammt hat?», ergänzte Hartmann die Frage und beantwortete sie sogleich selbst: «Wenn es so war, dann ist es wohl nicht vor Zeugen geschehen … Wir haben die Stammkundschaft bereits ausführlich vernommen. Mehrmals. Keiner will was gesehen haben. Aber die halten natürlich alle zusammen.» Hartmann schien den Begriff Sozialdemokraten in diesem Zusammenhang bewusst vermeiden zu wollen. Auch ihm war das Vorgehen der Politischen Polizei suspekt, wie er Sören vor einiger Zeit in der «Harmonie» unter vier Augen anvertraut hatte, als es um die zu erwartende Neuorganisation der Hamburger Polizei gegangen war. Sören hatte ihn aus gutem Grund nicht davon unterrichtet, dass Senator Hachmann ihm selbst die Leitung angeboten hatte, denn was die Erfahrung betraf, war Hartmann bestimmt befähigter als Sören. Aber Hartmann machte sich keine wirklichen Hoffnungen auf den Posten; zwischen ihm und seinem Dienstherrn herrschte eine nicht gerade entspannte Atmosphäre. Senator Hachmann hielt Hartmann für fachlich unfähig, da ihm die Fälle nicht zügig genug aufgeklärt wurden, und Hartmann wiederum sprach dem Senator jegliche Führungskompetenz ab, da Hachmann seiner Meinung nach allein Wert auf schöne Statistiken legte.
«Wir gehen jedenfalls bislang davon aus, dass es sich um einen Einzeltäter handelt, der bis zur Sperrstunde gewartet hat. Wahrscheinlich war wirklich kein anderer Gast mehr in der Kaschemme. Die einzige Person, die die Tat beobachtet haben könnte, ist dummerweise verschwunden.»
«Und das wäre?»
«Seine Frau. Ilse Mader. Sie ist seit der Tat spurlos verschwunden. Wahrscheinlich ist sie im Rotlichtmilieu untergetaucht. Sie hat früher schon als Prostituierte gearbeitet.» Hartmann beugte sich zu Sören vor. «Ihr Spitzname war Stiefel-Elli.»
Stiefel-Elli. Sören hob die Augenbrauen. «Könnte sie die Tat begangen haben?», fragte er.
«Eher unwahrscheinlich», entgegnete Hartmann. «Taubmann, unser Polizeiarzt, meint zwar, theoretisch sei es denkbar, allerdings ist mir kein Fall bekannt, wo eine Frau ihrem Mann ein Messer bis zum Heft in die Brust gerammt hat. Genau ins Herz. So eine Tat wirkt nicht gerade weiblich. Außerdem sind am Ledergriff der Tatwaffe so etwas wie Initialen eingeritzt.»
Sören blickte Hartmann fragend an.
«Ein M und ein S», erklärte Hartmann. «Ist natürlich genauso möglich, dass es sich dabei um einen Schiffsnamen handelt. Einige Dampfer tragen neuerdings diese Kennung vor ihrem eigentlichen Namen, und das Leder am Griff wurde an einigen Stellen erneuert. – Wie es auch sei, die Fahndung nach Ilse Mader läuft jedenfalls auf vollen Touren.»
Ein M und ein S. Sören verzog keine Miene. Es war also Marten Steens Messer. Fraglich blieb hingegen, ob er auch die Tat begangen hatte. Sören bedankte sich bei Hartmann für die Informationen, versprach, sich sofort zu melden, falls ihm irgendetwas Relevantes über den Fall zu Ohren käme, und verabschiedete sich. Es war spät genug. Seine Mutter erwartete ihn um acht zum Essen, und zuvor musste er sich noch umziehen.