Überwachung 

18. August

 

Sören hatte wenig geschlafen – genau genommen gar nicht. Trotzdem verspürte er keinen Hauch von Müdigkeit. Mathilda hatte bis in die Morgenstunden in seinen Armen gelegen. Als er die Droschke am Gänsemarkt bestiegen hatte, war es bereits nach acht gewesen. Während er sich wusch und rasierte, ließ er die Eindrücke der Nacht noch einmal Revue passieren. Er konnte sein Glück immer noch nicht fassen, und sein Herz pochte wild, als er an den Kuss dachte, den Tilda ihm zum Abschied auf die Lippen gedrückt hatte.

Er wusch sich die Seife aus dem Gesicht, kontrollierte das Ergebnis der Rasur im Spiegel und warf seinem Spiegelbild einen kritischen Blick zu. Wie sollte es jetzt weitergehen? Sollte er ihr einen Antrag machen? Bei allem, was in der Nacht geschehen war, war das erforderlich. Er spülte den Rasierpinsel im Waschbecken aus und holte tief Luft. Nein, nicht nur deshalb. Er hatte Tildas Blick vor Augen, als sie ihn gefragt hatte, ob ihn jemand erwarte. Es war ein tastender, ein unsicherer Blick gewesen. Wie schnell war diese Behutsamkeit aus ihren Augen gewichen. Natürlich würde er ihr einen Antrag machen. Die Erinnerung an ihre Nähe erregte ihn, und er hielt den Kopf unter den kalten Wasserstrahl.

An konzentrierte Arbeit war heute überhaupt nicht zu denken. Am liebsten hätte er mit Martin über alles gesprochen, aber nach dessen nächtlichem Geständnis unlängst schluckte er den Gedanken schnell hinunter. Trotzdem hatte er das Bedürfnis, sich jemandem mitzuteilen, jedoch fiel ihm nur noch seine Mutter ein. Diese Idee kam ihm allerdings albern vor, schließlich war er vierundvierzig. Er musste sich irgendwie ablenken.

Es gab heute keine geschäftlichen Termine, das wusste Sören, auch ohne auf den Kalender zu blicken. Erst morgen Vormittag war er mit Senator Hachmann verabredet. Sein Entschluss stand nach wie vor fest. Er suchte nach dem Schlüssel, den Altena Weissgerber ihm gegeben hatte. Es war an der Zeit, die Wohnung von diesem Marten Steen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht ergab sich dort irgendein Hinweis auf dessen Aufenthaltsort.

 

Sören fuhr über die Ringstraße auf den Holstenwall, ließ Botanischen Garten und Gerichtsgebäude rechter Hand liegen und steuerte auf das Millerntor zu. Nachdem er in die Reeperbahn eingeschert war, musste er das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit drosseln, so dicht war hier der Verkehr. Am Spielbudenplatz, dessen Gestalt seit einigen Jahren einer permanenten Baustelle glich, ohne dass sich, von den Namen der unterschiedlichen Localitäten einmal abgesehen, wirklich irgendetwas zu verändern schien, hielt Sören kurz und kaufte sich an einem der offenen Verkaufsstände ein Rundstück warm. Dann lenkte er den Wagen hinter der Polizeiwache in die Davidstraße und bog nach wenigen Metern in die Erichstraße ein.

Steens Wohnung lag in der oberen Etage einer alten Budenreihe, die wohl weit vor der Jahrhundertmitte erbaut worden war. Zumindest machte sie einen ziemlich baufälligen Eindruck. Das Dach war an mehreren Stellen geflickt, und der Putz war fast vollständig abgefallen. Zwischen vielen Backsteinen hatte sich bereits der Mörtel aus den Fugen gelöst, sodass sich mehrere große Risse quer durch die Hauswand gebildet hatten. Der wild wuchernde Wein, dessen Ranken bis zum Giebel emporgekrochen waren, verlieh dem alten Bau ein morbides und gleichzeitig malerisches Gepräge. Sören fühlte sich an die alten Buden auf dem Kehrwieder erinnert, zwischen denen sie als Kinder herumgetobt und Fangen gespielt hatten. Jeder Schlupfwinkel war ihnen bekannt gewesen, jede lose Zaunlatte, durch die man auf die geheimen Pfade in die verwilderten Gärten gelangte.

Auch hier gab es idyllische Gärten und einen breiten Vorplatz, auf dem eine ganze Horde Gören spielte. Zwei Jungens waren dabei, einen Kreusel durch den Sand zu peitschen, eine andere Gruppe spielte Abo-Bibo mit Abbacken, wie Sören an den auf die Hauswand geschriebenen Phantasienamen erkennen konnte. Die Regeln waren ihm noch gegenwärtig, und er musste schmunzeln, als ihm einfiel, dass Martin früher meistens als Erster ausgeschieden war, weil er nicht so schnell rennen konnte. Adi Woermann hatte immer angefangen zu heulen, wenn er abgebackt worden war. Nun war er einer der wichtigsten Reeder in der Stadt. Sie mussten ungefähr im gleichen Alter gewesen sein wie der schmächtige Junge, der sich gerade vor der Häuserwand zum Wurf bereitmachte.

Mit aller Kraft schleuderte er den kleinen Ball gegen das Mal an der Wand und schrie einen der Namen, woraufhin alles auseinander rannte, bis auf den Angesprochenen natürlich, der den Ball, so schnell es möglich war, fangen musste. Hatte er ihn, durfte sich niemand mehr bewegen, und er hatte die Chance, den Nächststehenden abzubacken. Traf er, schied derjenige aus, und er bestimmte den nächsten Werfer mit einem Wurf gegen das Mal. Wer als Letzter übrig blieb, hatte gewonnen. Sören beobachtete die Kinder einige Augenblicke und versuchte, sich zu erinnern, welche Variante sie früher gespielt hatten. Wenn man den Ball beim Versuch des Abbackens gefangen hatte, durfte man nämlich irgendetwas bestimmen, aber wie genau der Spielverlauf dadurch geändert wurde, fiel ihm nicht mehr ein.

Die in der oberen Etage der Bude gelegenen Wohnungen erreichte man über außen liegende hölzerne Treppen. Im Inneren reihten sich die Zimmer beidseitig an einem finsteren Flur. Sören zählte auf jeder Seite fünf Türen. In der Mitte des Flures gab es eine kleine Feuerstelle und einen ausgeriebenen alten Spülstein. Er brauchte nicht lange zu suchen. Steens Name stand mit Kreide an die Tür geschrieben. Er klopfte mehrmals an, aber wie erwartet rührte sich nichts. Vorsichtig steckte er den großen Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Die Zarge knarrte verräterisch.

Nachdem Sören den Riegel vorgeschoben hatte, blickte er sich um. Die Wohnung bestand aus zwei schmalen Kammern. Eine Tür gab es nicht. In einer Wandnische zum Flur befand sich eine kleine Kochstelle mit einem eisernen Ofen, der schon seit einiger Zeit nicht mehr benutzt worden war, wie Sören an den Spinnweben vor der Feuerklappe erkennen konnte. Durch eine kleine Dachluke fiel ein Streifen gleißenden Sonnenlichts ins Zimmer. Er wischte mit dem Finger über den Fußboden. Den Spuren im Staub nach zu urteilen, war es noch keine Woche her, dass jemand die Wohnung betreten hatte.

Die hölzernen Dielen knarrten bei jedem Schritt. Steens Einrichtung war auf das Allernotwendigste beschränkt: ein Bett, ein kleiner Schapp, ein Stuhl und ein Tisch. Nirgends gab es Bücher, Unterlagen oder irgendwelche Schreibutensilien. Sören suchte die Zimmer nach möglichen Verstecken ab. Er prüfte die Bretterverschläge an den Wänden und untersuchte den Boden nach losen Dielen. Ergebnislos. Dann nahm er sich die Kleidungsstücke vor, die über der geöffneten Tür des kleinen Schapps hingen. Alle Taschen waren leer. Auch im Schrank selbst fand er nichts Außergewöhnliches. Der muffige Geruch, der ihm schon aufgefallen war, als er die Wohnung betreten hatte, stammte von einem Wäschehaufen in der Zimmerecke. Sören nahm die oberste Hose vom Stapel. Ein öliger Geruch stieg ihm in die Nase. Es war kein Schwer- oder Schmieröl, sondern ein feiner, fast blumenartiger Geruch, der an dem Stoff haftete. Sören überlegte, woher er den Geruch kannte, aber er konnte ihn nicht einordnen. Die anderen Kleidungsstücke rochen ähnlich.

Unter dem Wäschehaufen fand er schließlich zwei Postkarten aus Melnik. Der Absender war jener Albin, Steens Freund, der auf einem Kettenschiff auf der Elbe fuhr. Den Namen hatte Altena Weissgerber ja bereits erwähnt. Sören entzifferte das fast unleserliche Gekritzel, aber Albin hatte nur Belanglosigkeiten geschrieben. War es möglich, dass sich Marten Steen bei ihm einquartiert hatte? Aber das zu überprüfen machte keinen Sinn. Bis zum 22. August waren es nur noch vier Tage, und bis dahin würde Marten Steen wieder in der Stadt sein. Sören überlegte, wie lange man bis Melnik unterwegs war. Er schüttelte den Kopf. Melnik lag kurz vor Prag. Ein Kettenschiff war mit Sicherheit länger als vier Tage unterwegs. Er schob die Karten zurück unter den Stapel. Steen war nicht in Melnik. Er hielt sich bestimmt irgendwo hier in der Stadt versteckt. Es lag nahe, dass ihm dieser Gustav oder der Typ namens Ratte Unterschlupf gewährt hatte. Sören musste unbedingt herausfinden, was die beiden im Schilde führten.

Er wollte schon gehen, da vernahm er ein leises Knirschen unter seinen Füßen. Er bückte sich und inspizierte seine Schuhe. In das Leder der Sohlen hatten sich mehrere Steinchen gedrückt, die bei jedem Schritt auf dem hölzernen Fußboden knirschend zerbröselten. Steinchen? Nein. Bei genauerer Betrachtung erkannte er, dass es sich nicht um Steinchen, sondern um Reiskörner handelte. Er legte sich flach auf den Boden und suchte die Dielen nach weiteren Körnern ab. Dann untersuchte er die Regale neben der Kochstelle. Es gab einen Topf mit ranzigem Griebenschmalz, ein Glas Mehl und eins mit getrockneten Rosinen sowie eine Zigarrenkiste mit Zucker, an der sich wohl schon ein paar Mäuse versucht hatten, wie die Beißspuren verrieten. Ein Reisvorrat war jedoch nirgendwo zu entdecken.

Sören griff sich einen schmutzigen Strumpf vom Wäschestapel und schob ihn beim Verlassen der Wohnung hinter die fast geschlossene Tür. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass er selbst den Reis mit in die Wohnung getragen hatte, und den Spuren im Küchenregal nach zu urteilen, gab es hier jede Menge Mäuse, wahrscheinlich auch Feuerwürmer und anderes Ungeziefer. Undenkbar also, dass die Reiskörner hier schon länger auf dem Boden lagen. So, wie es aussah, war hier vor nicht allzu langer Zeit jemand in der Wohnung gewesen. Das hatte Sören schon vermutet, als er die Spuren im Staub gesehen hatte. Er war gespannt, ob der Strumpf noch hinter der Tür lag, wenn er morgen noch einmal vorbeischaute.

 

Fräulein Paulina reichte Sören mit der restlichen Post auch einen Umschlag, den ein Bote am frühen Vormittag gebracht hatte. Der Junge habe nicht gesagt, wer ihn geschickt habe, erklärte sie auf Sörens Nachfrage, nur, dass Sören die Nachricht dringend erwarte. In dem Couvert steckte ein Brief, der akribisch in Druckbuchstaben verfasst worden war. Er brauchte nicht lange zu lesen, um zu wissen, wer ihn verfasst hatte. Die Nachricht war kurz und voller Schreibfehler. Entweder hatte Hannes Zinken nie eine Schule besucht, oder er hatte den Brief jemandem diktiert, der keine Schreibschrift gelernt hatte.

Zinken schrieb, seine Erkundigungen bezüglich der gesuchten Personen liefen auf Hochtouren, aber mit dem Aufenthaltsort von Ratte könne er bislang noch nicht dienen. Der Mann namens Gustav sei vermutlich ein Österreicher, der eine zweifelhafte Karriere als Söldner für unterschiedliche Armeen hinter sich hatte und sich hier seit einigen Monaten als Geldeintreiber über Wasser hielt. Genaueres würde er, Zinken, aber noch in Erfahrung bringen. Zum Aufenthaltsort von Ilse Mader berichtete er, man habe sie angeblich in einem Etablissement mit Namen «Wollers Stuben» gesehen, er hätte das allerdings noch nicht überprüfen können. Abschließend gab er Sören noch den Tipp, herauszufinden, wem die «Möwe» gehöre. Der Formulierung nach zu schließen hatte Zinken wohl etwas läuten gehört, wollte sich aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht konkreter dazu äußern. Vom Zustand seiner Nichte schrieb er nichts.

Sören nahm sich vor, Hannes Zinken nachher noch einen Besuch abzustatten; vielleicht konnte der alte Ganovenhäuptling ihm bei der Überwachung von Steens Wohnung behilflich sein; außerdem war Sören das genannte Etablissement nicht bekannt. Eine Anfrage bei der Gewerbeabteilung der Polizei hätte zwar schnell Abhilfe geschaffen, aber solange man nach Ilse Mader fahndete, galt es, keine schlafenden Hunde zu wecken. Der Weg zu Hannes Zinken war einfacher, und dabei konnte sich Sören auch nach dem Zustand des kleinen Mädchens erkundigen. Zuerst aber wollte er zur «Möwe», um herauszufinden, wem die Spelunke eigentlich gehörte. Fräulein Paulina schüttelte verständnislos mit dem Kopf, als er die Kanzlei wieder einmal als Hafenarbeiter verkleidet verließ.

 

«Der Chef is nich da. Macht Besorgungen», erklärte die dicke Elsa, als Sören sich nach dem Pächter der Wirtschaft erkundigte. «Was willst’n von dem? Glaubste, der zapft besser?»

Es kam Sören so vor, als hätte die Bedienung der «Möwe» seit seinem letzten Besuch noch ein paar Pfunde zugelegt. Vielleicht lag es aber auch daran, dass in der Spelunke heute nicht so ein Gedränge herrschte und man Elsas ganze Ausmaße erst erkennen konnte, wenn sie frei im Raum stand. Im vorderen Teil der Kaschemme waren nur zwei Tische besetzt. An einem saßen drei ganz in Schwarz gekleidete Nietenklopper und spielten Karten, am Tisch dahinter trank eine Gang von Schauerleuten mit zwei Barkassenführern, wie an den Mützen unschwer zu erkennen war, um die Wette. Im hinteren Teil der Wirtschaft sah es ähnlich aus.

«Warum ist das denn so leer heute?», fragte Sören und orderte ein Bier.

Elsa zuckte mit den Schultern, soweit ihre Leibesfülle diese Bewegung ermöglichte. «Wohl wieder eine von diesen Versammlungen … Du weißt schon, Gewerkschaft.» Sie deutete auf die Uhr hinter dem Tresen. «Eigentlich war schon längst Schichtwechsel. Hecken wahrscheinlich wieder einen Streik aus, die Jungs. Und dann gibt’s Zoff hier, weil der Umsatz nicht stimmt.» Sie schob Sören sein Bier zu. «Außerdem habe ich gehört, dass es einige Fälle von Cholera in der Stadt gibt – der Chef is schon los, um mehr Klare zu ordern. Hehe, Schnaps is gut bei Cholera.»

«Sag mal, warst du eigentlich hier, als man den Willy abgestochen hat?», fragte Sören, nachdem Elsa aus dem hinteren Teil der Wirtschaft zurückgekommen war.

«Nee, hatte schon Feierabend.»

«Und wie ist der Neue?»

«Büschen grantig manchmal – aber schon in Ordnung», erwiderte Elsa. «Willste noch eins?» Sie deutete auf Sörens leeres Glas.

Er nickte. «Ja, mach mir mal noch eins. Was ist eigentlich, wenn hier einer Schulden macht?»

«Musst du doch wissen», antwortete sie. «Dann gibt’s Abzüge.»

«Beim Lohn? Bislang hab ich noch nie auf Pump getrunken», erklärte Sören.

«Na, was denkst du denn, wovon.»

Sören nahm das nachgefüllte Glas entgegen. «Hat der Willy das häufiger gemacht? Also Lohn einbehalten?»

«Ist vorgekommen.» Sie blickte Sören musternd an. «Sach mal, bist ’n Spitzel, oder warum willste das wissen?» Sie griff automatisch nach dem Geldschein, den Sören ihr hingehalten hatte.

«Der ist schon echt», erklärte Sören leise, als sie den großen Schein zweimal kontrollierend umgedreht hatte. Zehn Mark waren als Trinkgeld deutlich zu viel. «Wer rechnet denn mit dem Pächter ab? Also, ich meine, wem gehört eigentlich die ‹Möwe›?»

Elsa steckte den Schein blitzschnell in die Schürze. «Wem der Laden gehört, weiß ich nicht. Aber jeden Montag ist Zahltag – so gegen Mittag.»

«Zahltag?»

«Na ja, dann wird die Pacht kassiert. Montags musste der Willy immer abdrücken, und beim Neuen ist es auch nicht anders. Keine Ahnung, wo die Kohle hingeht. Ich horch nicht anner Tür. Damit will ich nix zu tun haben.» Sie gab Sören ein Zeichen, erst einmal keine weiteren Fragen zu stellen, als sich einer der Schauerleute zu ihnen an den Tresen gesellte. «Na, was willste? Noch ’ne Runde?»

«Was bin ich’n schuldig?», lallte der Mann, dessen linke Gesichtshälfte von einem dunklen Muttermal verunstaltet war. Er hatte eine ziemliche Alkoholfahne, und auch sonst machte er einen recht ungepflegten Eindruck. Sören wollte schon auf Abstand gehen, da nahm er neben den Ausdünstungen von Fusel und Schweiß plötzlich den Geruch wahr, den er bei Steen in der Wohnung gerochen hatte.

«Na, was wird das denn?», raunzte der Kerl Sören ungehalten an.

Sören wich augenblicklich zurück. Er war ihm wohl etwas zu nahe gekommen. «Was arbeitest du?», fragte er freundlich.

«Schauermann bin ich!», antwortete der Mann und blickte Sören misstrauisch an.

«Und wonach riechst du?»

«Sach ma, spinnst du!?» Der Mann wandte sich Sören zu und stemmte die Hände in die Hüften. «Na, nach Schweiß, nehm ich ma an», sagte er, nachdem Sören ihn unbeeindruckt freundlich anlächelte. «Ich hab zehn Stunden geschuftet – und das bei der Hitze.»

«Nein, das meine ich nicht», erklärte Sören. «Es riecht irgendwie süßlich. Ich kenne den Geruch genau, aber es will mir verdammt nochmal nicht einfallen, was es ist.»

«Ach das!» Der Mann lachte auf und griff sich in die Jackentasche. «Riecht man das wirklich?», fragte er und hielt Sören ein winzig kleines Stöckchen entgegen. «Nelken! – Ist heute ein Sack am Kran gerissen und alles durch die Luke auf uns runter. Der Kranführer ist an einem Ausleger an Deck hängen geblieben. Arme Sau. Mann, gab das ’nen Ärger … Das Zeug ist schweineteuer. Gibt wohl heftig Abzug, schätze ich, oder er kriegt gar nicht erst wieder was. Dabei landet doch so oder so wieder alles bei denen, die uns bezahlen.»

«Wie soll ich das jetzt verstehen?»

Der Mann hatte inzwischen eine weniger bedrohliche Haltung angenommen und lehnte mit einem Arm auf dem Tresen. «Nun tu nich so», brummte er und versetzte Sören einen kumpelhaften Stoß gegen die Schulter. «Weiß doch jeder, wie das hier funktioniert: Vermittlung nur da, wo gesoffen wird. Und da, wo gesoffen wird, kommt der Lohn auch her, nich, Elsa?» Er warf der Bedienung einen Blick zu. «Denen gehört doch alles: die Schiffe, die Werften, die Waren …» Er stockte für einen Moment. Dann schlug er mit der flachen Hand rhythmisch auf den Tresen, als könne er seinen Worten damit mehr Ausdruck verleihen. «Und die Kaffeeklappen und die Wirtschaften natürlich auch!»

«Na klar.» Sören nickte zustimmend. «Genau wie die ‹Möwe› hier.» Er gab sich Mühe, seinen Worten einen resignierten Klang zu geben, als hätte auch er sich seit langem mit dieser Tatsache abgefunden. «Wem gehört die eigentlich genau?»

«Keine Ahnung. Irgendeinem von denen. Die stecken doch alle unter einer Decke.»

«Natürlich.» Sören wartete, bis der Mann seine Zeche gezahlt hatte. «Sag mal, kennst du zufällig einen Marten?», fragte er beiläufig.

«Nö, wer soll’n das sein?»

«Freund von mir», meinte Sören. «Hab ihn aus den Augen verloren.»

«Nee, tut mir Leid, du. Aber der taucht schon wieder auf.» Er hielt Sören die flache Hand entgegen, auf der einige Nelken lagen. «Willste noch welche? Ich hab genug in den Taschen.»

Sören nahm sich zwei. «Danke. Wo habt ihr denn gelöscht?»

«Auf’m Grasbrook drüben, im Baakenhafen. – So, ich muss jetzt. Mach’s man gut.»

 

Den Weg zu Hannes Zinken legte Sören zu Fuß zurück. Obwohl er ja inzwischen den direkten Weg zu ihm kannte, beschloss er, dennoch am üblichen Spiel festzuhalten. Während er abermals durch die Gänge gelotst wurde, überlegte er, was es mit den Nelken auf sich haben könnte. Es lag nahe, dass Marten Steen genau wie der Hafenarbeiter in der «Möwe» in irgendeiner Form mit Nelken in Berührung gekommen war. Wahrscheinlich reichte es schon aus, wenn man einige mit Nelken gefüllte Jutesäcke vor dem Bauch getragen hatte, um den Geruch anzunehmen. Alle schmutzigen Kleidungsstücke von Steen hatten danach gerochen. Aber es war wenig sinnvoll, sich im Baakenhafen nach Marten Steen zu erkundigen. Nelken wurden wahrscheinlich auch in anderen Häfen gelöscht. Und wenn Steen davon ausging, dass nach ihm gesucht wurde, war es eher unwahrscheinlich, dass er sich in der Öffentlichkeit blicken ließ. Sören dachte an die Reiskörner in der Wohnung. Reis war auch ein Handelsgut aus Übersee. Sicherlich lieferte diese Kombination einen Hinweis auf Steens Aufenthaltsort, aber in einem Gebiet wie dem Hamburger Hafen gab es Dutzende von Möglichkeiten, mit Reis und Nelken in Berührung zu kommen. Erfolgversprechender erschien es Sören da, Steens Aufenthaltsort über Gustav und Ratte in Erfahrung zu bringen. Aber die musste er erst einmal ausfindig machen. Keiner hatte ihm bezüglich der beiden weiterhelfen können, dabei waren sie doch eigentlich ein sehr auffälliges Gespann.

 

Genau wie bei ihrem Treffen am Vortag saß Hannes Zinken auf dem alten Hocker und rauchte seine Pfeife, aber er blickte nicht einmal auf, als Sören den kleinen Platz zwischen den Fachwerkhäusern betrat, sondern starrte nur apathisch vor sich hin. Sören nahm wortlos neben ihm Platz.

«Wie steht es um deine Nichte?», fragte er, nachdem sie mehrere Minuten schweigend nebeneinander gesessen hatten.

Ohne den Blick zu heben, zuckte Hannes Zinken mit den Schultern. «Der Arzt sagt, es ist noch zu früh für eine Prognose.» Schließlich hob er doch den Kopf und blickte Sören mit traurigen Augen an. «Vielen Dank für alles.»

«Nicht der Rede wert.»

Der Alte paffte ein paar Rauchkringel vor sich hin. «Heute Nacht wieder zwei aus der Nachbarschaft. Das gleiche Bild. – Warum unternimmt man nichts?»

«Ich kann es dir nicht sagen, Hannes.»

«Hast du meine Nachricht erhalten?»

Sören nickte. «Ging ja schnell.»

«Ich hab dir doch versprochen, dass ich mich umhören werde.»

«Wo finde ich ‹Wollers Stuben›?»

«St. Georg», antwortete Zinken und klopfte dabei seine Pfeife am Stuhlbein des Hockers aus. «Die genaue Adresse habe ich nicht parat, aber die Stuben liegen zwischen Böckmannstraße und Pulverteich. Sieht aus wie eine gewöhnliche Restauration und Gaststätte. Im hinteren Teil der Herberge findest du die Damen. Ziemlich schmieriger Schuppen.»

«Die Polizei sucht Ilse Mader. Wird die Herberge nicht kontrolliert?»

Sören konnte erkennen, wie Zinken seine rechte Augenbraue lupfte. Irgendwie schien er trotz seiner trübseligen Verfassung über Sörens Äußerung amüsiert zu sein. «Die Polizei sucht viele», erklärte er. «Hast du herausfinden können, wem die ‹Möwe› gehört?»

«Bislang noch nicht», sagte Sören. «Wie kommst du eigentlich darauf, dass das von Interesse sein könnte?»

Zinken wiegte den Kopf hin und her. Dann zog er einen Tabaksbeutel hervor und begann, seine Pfeife neu zu stopfen. «Es gibt Gerüchte, der Willy hätte Schulden gehabt.»

«Das passt zu dem, was ich gehört habe», sagte Sören. «Ich bin bislang davon ausgegangen, jemand hätte bei Wilhelm Mader in der Kreide gestanden, und der hätte die Zechschulden mit der Lohnauszahlung verrechnet. Daraus ergibt sich zwar nicht zwingend ein Mordmotiv, aber wer weiß schon, wie weit einigen Leuten das Wasser bis zum Halse steht. Wenn aber der Willy Schulden gehabt hat, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Vor allem, wenn die Lohngelder von demjenigen kommen, der gleichzeitig die Pacht kassiert.»

«So ist es», erklärte Hannes Zinken. «Die Arbeiter verdasseln in den Schänken ihren Lohn, um an neue Arbeit zu kommen, und die Schankwirte zahlen einen Teil ihrer Einnahmen demjenigen, der für die Lohnauszahlungen verantwortlich ist. Da wird die Pacht dann mit den Lohnauszahlungen verrechnet, und so fließt letztendlich ein großer Teil des Lohns zurück in die eigene Tasche.»

«Raffiniert ausgedacht. Aber wie beweist man so etwas? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die Namen der Eigentümer in den Grundbüchern mit denen, die die Hafenarbeiter bezahlen, decken werden. So dumm ist doch niemand.»

«Keine Ahnung», entgegnete Zinken. «Ich kenn mich mit so ’m juristischen Krams nicht aus. Ist jedenfalls ein mieses Ding, was da läuft. Kann mir nur vorstellen, dass die sich untereinander absprechen. Eine Hand wäscht die andere …»

«Da sollte ich mich beizeiten mal drum kümmern. In der ‹Möwe› ist, was die Pachtgelder betrifft, Montag immer Zahltag. Man braucht sich ja nur auf die Lauer zu legen und den Weg der Gelder zu verfolgen.»

«Das ließe sich durchaus arrangieren. Für so etwas habe ich meine Leute.»

Sören nickte. «Wo du es sagst: Ich könnte zwei von deinen Jungens gebrauchen.»

«Worum geht es?»

«Um die Überwachung einer Wohnung. St. Pauli. In der Erichstraße. Ich muss nur wissen, ob da jemand rein- und rausgeht, und wenn ja, wohin die Person verschwindet.»

«Kein Problem. Ludwig und David können das machen. Is ja nicht das erste Mal.»

Sören hatte sich jeglichen Kommentar dazu verkniffen, warum die beiden Vierzehnjährigen als Beobachtungsposten schon so erfahren waren. Als Lohn für zwei Tage drückte er jedem der Jungen fünf Mark in die Hand, erklärte ihnen, worum es ging, und setzte sie hinter der Davidwache ab. Sie versprachen, sich Tag und Nacht auf die Lauer zu legen. Dann machte er sich auf den Weg zum Stadttheater. Heute würde Mathilda ihn sicher erwarten.