20. August
Der Junge, der auf der Treppe vor der Kanzlei saß, war Sören schon aufgefallen, als er das erste Mal mit dem Wagen durch die Schauenburger Straße gerollt war. Jetzt machte er schon die dritte Runde, um einen Stellplatz zu finden, und der Bursche hockte noch immer auf den Stufen. Sören wollte nur kurz nach der Post sehen und sich dann direkt auf den Weg zum Stadthaus der Familie von Wesselhöft begeben, sonst wäre er nie auf die Idee gekommen, an einem Sonnabendvormittag mit dem Wagen hierher zu kommen. Es war immer dasselbe Bild. Jeder, der vor dem Wochenende noch etwas zu besorgen hatte, schien unterwegs zu sein. Es war zum Verzweifeln, aber eine vierte Runde würde er nicht drehen.
Nachdem sich Sören davon überzeugt hatte, dass die Durchfahrt für andere Wagen noch möglich war, stellte er die Droschke schließlich an der Ecke zur Kleinen Johannisstraße in zweiter Reihe ab. Auf dem Weg zur Kanzlei dachte er darüber nach, wie Johanna von Wesselhöft wohl reagieren würde, wenn er ihr mitteilte, dass er das Kind ihrer Schwester gefunden hatte; und vor allem, wenn sie erfuhr, wer es war. Es gab eine Menge zu besprechen.
Der Junge kauerte noch immer auf den Stufen. Sören wollte ihn schon wegscheuchen, da sah er, dass es Ludwig war, einer der zwei Jungen, die für ihn die Wohnung von Steen beobachten sollten. Der Junge erkannte Sören sofort und sprang auf.
«Gibt es Neuigkeiten?», fragte Sören interessiert. Er war mit seinen Gedanken noch ganz woanders, aber irgendetwas musste vorgefallen sein, denn Ludwig blickte ihn mit sichtlicher Verstörung an. «Was ist los?», fragte er erneut.
Ludwig blickte beschämt zu Boden. «Sie haben David erwischt», stammelte er.
«Wer, sie? War jemand in der Wohnung?»
Ludwig nickte. «Muss wohl.» Er zitterte nun am ganzen Körper. «Was genau passiert ist, weiß ich nicht, aber übel zugerichtet haben sie ihn. Eine Hafenbarkasse hat ihn heute früh aus dem Wasser gefischt. Er liegt im Krankenhaus in der Vorstadt.»
Sören zuckte zusammen. «Verdammt!» Er ärgerte sich maßlos über seine Naivität. Da hatte er zwei Vierzehnjährige damit beauftragt, Kriminelle zu beschatten. Wie war er nur auf eine so verantwortungslose Idee gekommen? Nein, so etwas war eigentlich gar nicht zu verzeihen. «Ich mache mich sofort auf den Weg. Wissen seine Eltern schon Bescheid?»
«Wir haben keine Eltern.»
«Was heißt …» Er sprach den Satz nicht zu Ende. Wo war er nur mit seinen Gedanken. Es lag auf der Hand, dass sie Waisen waren, die bei Hannes Zinken so etwas wie ein Zuhause gefunden hatten. «Egal. Dann geh zu Hannes und sag ihm, ich würde mich um alles kümmern.»
«Kann ich nicht mitkommen?»
Er schüttelte energisch den Kopf. «Kommt überhaupt nicht infrage. Es reicht schon, was mit David passiert ist.» Dann machte er auf der Hacke kehrt und ging zügigen Schrittes zu seinem Wagen. So wichtige Post erwartete er nicht, und die Angelegenheit mit Johanna von Wesselhöft konnte warten. Unschöne Gedanken schwirrten die ganze Fahrt über durch seinen Kopf. Hoffentlich war der Junge nicht ernsthaft verletzt. Wie konnte er das nur wieder gutmachen?
Sah man ihm sein schlechtes Gewissen an? Die Menschen, die ihm im städtischen Krankenhaus begegneten, blickten Sören jedenfalls alle merkwürdig an. Oder bildete er sich das nur ein?
Dr. Rieder kam ihm auf dem Flur des Hauptgebäudes entgegen. «Herr Dr. Bischop, nicht wahr? Wollen Sie zu mir?» Bevor Sören etwas entgegnen konnte, redete Rieder schon weiter. «Wir hatten anscheinend Recht mit der Vermutung, die Erkrankten könnten mit der asiatischen Cholera infiziert sein. Ich habe mich mit dem Kollegen Rumpel …»
«Deswegen komme ich nicht», fiel Sören ihm ins Wort und fragte sich gleichzeitig, ob es nicht unhöflich war, den Mann einfach so zu unterbrechen. Normalerweise hätte es ihn schon interessiert, ob man den Erreger inzwischen nachgewiesen hatte; vor allem nach dem gestrigen Gespräch zwischen Hachmann und dem Medicinalrat. Aber momentan kreisten seine Gedanken nur um den Zustand des Jungen. «Am frühen Vormittag wurde ein vierzehnjähriges Kind eingeliefert. Man hat den Jungen – David ist sein Name – irgendwo aus dem Wasser gefischt.»
Dr. Rieder lächelte Sören an. «David heißt er also. Er wollte uns seinen Namen nämlich partout nicht verraten.»
Sören fiel ein Stein vom Herzen. So, wie Rieder von seinem Patienten sprach, konnte es ihm nicht wirklich schlecht gehen.
«Ihr Sohn?», fragte der Arzt.
Sören schüttelte den Kopf. «Nein. Wie geht es ihm?»
Die Erleichterung war ihm offenbar anzusehen, denn Rieder legte ihm immer noch lächelnd die Hand auf die Schulter. «Hat ein paar ziemliche Blessuren davongetragen, der Junge. Mehrere Rippen und das Schlüsselbein sind gebrochen, Prellungen am ganzen Körper. Außerdem hat er Würgemale am Hals.» Der Arzt blickte Sören ernst an, als wüsste er, dass sein Gegenüber nicht ganz unschuldig am Zustand des Jungen war. «Den hat jemand ziemlich vermöbelt, wenn Sie mich fragen. – Aber er wird’s überleben», fügte er mit einem herben Schmunzeln hinzu.
«Kann ich mit ihm sprechen?»
Der Arzt nickte. «Selbstverständlich. Es ist aber kaum ein Wort aus ihm rauszukriegen. Er wollte uns ja nicht mal seinen Namen verraten. Hat nur gesagt, wen wir verständigen sollen: einen gewissen Hannes Zinken vom Schaarmarkt. Wir haben gleich jemanden losgeschickt, aber bislang hat er sich hier nicht blicken lassen. Kennen Sie den Mann?»
Sören nickte. «Flüchtig.»
Dr. Rieder führte Sören zu einem kleinen Pavillon, der etwas abseits auf dem Gelände stand. «Es wäre mir recht», meinte er, während sie die Krankenstube betraten, «wenn Sie ihn in ein, zwei Tagen zu sich nehmen könnten. Er braucht nur ein Bett und viel Ruhe. Wir haben kaum noch Platz, und die Ansteckungsgefahr wächst hier von Tag zu Tag. Sie machen sich keine Vorstellungen.» Er schloss die Tür des Pavillons. «Selbst Hauptmann Weibezahn hat sich angesteckt.» Der Arzt nickte bedeutungsvoll. «Alle bekannten Symptome. Ich habe die kommissarische Leitung des Krankenhauses übernommen, dennoch weiß ich nicht, wie ich der Sache Herr werden soll. Allein gestern sind zwölf unserer Patienten verstorben.» Er verabschiedete sich, nachdem er Sören zum Bett des jungen Patienten gebracht hatte.
Sören setzte sich auf die Bettkante und fasste Davids Hand. Der Junge sah ziemlich mitgenommen aus. Auf der Stirn hatte er eine kleine Platzwunde, die mit einer Tinktur eingestrichen worden war. Seine Unterlippe war stark geschwollen, an einer Stelle hatte sich eine schorfige Kruste gebildet. Sören war stumm vor Scham. Er machte sich solche Vorwürfe.
«Ich hab nichts verraten, ehrlich», flüsterte David.
«Das ist doch völlig egal», sagte Sören und drückte beruhigend seine Hand. «Hast du Schmerzen?»
«Geht so», entgegnete David tapfer. «Sind alle sehr nett hier zu mir.»
«Willst du mir erzählen, was passiert ist?»
David schaute zur Seite, als wolle er kontrollieren, ob sie jemand hören konnte, aber die benachbarten Betten auf dieser Seite des Pavillons waren alle leer. Nur gegenüber lagen noch zwei Patienten, die allerdings schliefen. «Es hat schon gedämmert», begann David so leise, dass Sören sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. «Ich lag auf der Lauer, und dann ist ein Typ gekommen, die Treppe rauf. Er hatte ein Bündel unter dem Arm. Ich vorsichtig hinterher, aber nur bis zum Podest. Aber da stand ich nur ganz kurz, denn er kam gleich wieder raus. Immer noch das Bündel unter dem Arm. Ich bin ihm gefolgt. Ganz vorsichtig. Es ging quer durch die halbe Stadt, dann runter zum Hafen.»
«Hast du den Mann erkennen können?», fragte Sören.
David schüttelte den Kopf. «Ich bin ja auf Abstand geblieben. Aber er war eher klein und bewegte sich sehr flink. Dann ist er in einem Schuppen am Baakenhafen verschwunden. Kurze Zeit später kam er wieder raus und ist Richtung Wandrahm zu den großen Speichern am Sandthorquai. Da ist er dann rein.»
«Weißt du den Block noch?»
David schloss die Augen, als überlege er angestrengt. «Nein», meinte er schließlich. «Ich erinnere mich nicht genau. Da war es ja auch schon dunkel. Aber ich würde es wiedererkennen. Ganz bestimmt.»
«Was ist dann passiert?»
«Er muss wohl irgendwie doch gemerkt haben, dass ihm jemand gefolgt ist, obwohl ich mich immer im Schatten gehalten habe», sagte David entschuldigend. «Ich hatte mich in einer Mauernische versteckt, und plötzlich taucht ein riesiger Kerl auf, der mich am Hals packt.»
«Gustav», murmelte Sören tonlos.
«Der hatte Hände wie ein Schraubstock. Er hat auch nicht lange gefackelt, sondern gleich losgeprügelt. Dann hat er mich mit voller Wucht gegen die Mauer gestoßen. Es hat so wehgetan, dass bei mir für einen Augenblick die Lichter ausgegangen sind. Aber er hat nicht aufgehört. Wenn ich nicht über die Quaimauer ins Wasser gesprungen wäre, hätte er mich sicher totgeschlagen.»
«Ich schwöre dir, der Kerl wird seine Strafe bekommen.» Sören holte tief Luft.
«Für einen Moment bin ich weggetaucht», erzählte der Junge weiter, «dann habe ich mich an einem Dalben festgehalten. Er ist aber nicht hinterher.» David grinste schwach. «Dachte wohl, ich bin ertrunken. Aber ich konnte mich kaum noch bewegen, weil meine Brust so wehtat. Bei Sonnenaufgang hat mich dann eine Barkasse aufgefischt.»
Sören strich ihm behutsam durchs Haar. «Du bist sehr tapfer, David.» Er blieb noch über eine Stunde bei dem Jungen sitzen und erzählte ihm, dass er mit dem Arzt abgesprochen hätte, ihn morgen oder übermorgen hier herauszuholen. David war das erst gar nicht recht; das Bett sei so schön bequem. Erst als Sören ihm versprochen hatte, er könne vorerst bei ihm im Haus bleiben und da gäbe es ebenfalls weiche Betten, war der Junge einverstanden.
Sören wanderte tief in Gedanken versunken über das Krankenhausgelände, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Die Stimme kam ihm bekannt vor, und es gab auch nicht allzu viele Menschen, die ihn beim Vornamen riefen, dennoch vermochte er sie im ersten Moment nicht einzuordnen. Erst als die junge Frau näher kam, erkannte er Frieda von Ohlendorff.
«Frieda. Was machst du denn hier? Alles in Ordnung?» Er zögerte kurz, welche Form der Begrüßung nach der langen Zeit, die sie sich nicht gesehen hatten, angemessen war. Schließlich hatten sie sich einmal recht nahe gestanden. Aber da ohnehin niemand in der Nähe war, der sie hätte beobachten können, gab er ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange, so wie er es schon früher immer gehalten hatte, wenn sie allein gewesen waren.
«Was ich hier mache? Das Gleiche wollte ich dich auch gerade fragen», entgegnete Frieda. «Kommst du von einem Krankenbesuch?»
Sören nickte und musterte Frieda von Kopf bis Fuß. Das Letzte, was er von ihr mitbekommen hatte, war die Geburtsanzeige ihrer Tochter Camilla gewesen, die sie ihm im November letzten Jahres geschickt hatte. Frieda war jetzt einundzwanzig, aber sie hatte sich kaum verändert. Auch ihre jugendliche, kecke Art hatte sie allem Anschein nach nicht abgelegt. Immer noch umspielte das spitzbübische Grinsen ihre Lippen, mit dem sie ihn früher schon betört hatte.
«Doch hoffentlich nichts Ernsthaftes?»
«Keine Cholera, wenn du das meinst.»
«Ja, das meinte ich. Ich mache mir solche Sorgen …» Frieda deutete auf den Haupteingang des Krankenhauses. «Eine Blumenfrau aus Hamm», erklärte sie. «Sie ist vor meinen Augen zusammengebrochen, als ich ein Arrangement bestellen wollte. Ich habe sie mit der Droschke hergefahren. Niemand wollte wahrhaben, dass sie schnell ins Krankenhaus muss. Gehen wir ein Stück gemeinsam?»
«Gerne. Ich begleite dich zu deinem Wagen.»
«Man hört es ja aus allen Ecken der Stadt. Der Arzt, der sie aufgenommen hat, wusste auch gleich Bescheid.»
«Bist du schon länger in der Stadt?», fragte Sören.
«Ich verbringe gerade ein paar Tage bei meinen Eltern. Zu Hause fällt mir langsam die Decke auf den Kopf. Ich langweile mich auf Klein Tromnau noch zu Tode.» Sie blickte Sören an und schnitt eine Grimasse. «Vielleicht kann ich mich jetzt ja hier etwas nützlich machen. Der Arzt meinte, es gäbe inzwischen so viele Fälle, dass man durchaus mit einer Epidemie rechnen müsse. In Krankenversorgung kenne ich mich ein wenig aus. Und so etwas liegt ja auch in der Tradition unserer Familie, schließlich hat mein Vater im Krieg für die Verwundetenfürsorge extra ein kleines Spital errichten lassen. Ich werde mit ihm sprechen, ob wir nicht …»
«Und was wird dein Gemahl dazu sagen?»
«Nichts», sagte Frieda barsch. «Der weilt doch ständig in Kiew, sein Regiment ist im Gouvernement stationiert.» Sie zuckte mit den Schultern. «Wir sehen uns kaum», erklärte sie. «Und wenn er mal heimkommt, zieht er gleich mit seinen Kameraden los.»
Sören verkniff sich jeglichen Kommentar zu ihrem Ehemann. Er hatte Andreas von Schoenaich nur einmal gesehen, und das war auf ihrer Hochzeit vor gut zwei Jahren gewesen. Er entsprach genau dem Bild, das man von einem Oberst der Preußischen Armee haben konnte. Sören hatte nie verstanden, warum Frieda dieser Verbindung zugestimmt hatte. Die freche und unternehmungslustige Frieda – mit so einem uniformierten Lackaffen. Sonst hatte sie sich mit ihrem Trotzkopf doch auch immer über die Weisungen ihres Vaters hinweggesetzt. Ehrlich gesagt verstand er immer noch nicht, was in sie gefahren war. Als Frieda ihm damals ihre Zukunftspläne gebeichtet hatte, war das natürlich das Ende ihrer kleinen Liaison gewesen, aus der, wenn es nach ihm gegangen wäre, durchaus mehr hätte werden können. Es war natürlich eine heimliche Affäre gewesen, aber bis auf ein paar innige Küsse und zärtliche Umarmungen war auch nichts geschehen, was irgendwelche Folgen oder Verpflichtungen nach sich gezogen hätte.
Jetzt, als er neben ihr herschritt, kam Sören das alles vor, als läge es Jahrzehnte zurück. Irgendwie fühlte er sich immer noch zu ihr hingezogen, aber das war überhaupt nichts im Vergleich zu dem, was er für Mathilda empfand. Sie gingen noch ein Stück bis zu ihrer Droschke. Sören versprach, sich bei ihr zu melden, aber eigentlich wusste er bereits, dass es nicht dazu kommen würde. Wenn ihre Ehe sie wirklich so unbefriedigt ließ, war es besser, wenn er gar nicht erst in Verlegenheit kam, eventuelle Erwartungen ihrerseits zu enttäuschen. Er blickte ihrer Droschke noch einen Augenblick nach, dann ging er zu seinem Wagen und machte sich auf den Weg zu Johanna von Wesselhöft.
Während Sören den Schwanenwik entlangfuhr, fiel sein Blick auf die Uhlenhorster Badeanstalt, die dem Uferstreifen der Alster wie eine kleine Insel vorgelagert war. Es herrschte Hochbetrieb, wie an den vielen farbigen Punkten auf den Stegen und den weißen Badehauben im Wasser zu erkennen war. Jeder, der es sich erlauben konnte, nutzte den Weg zur Badeanstalt für eine kleine Abkühlung, obwohl die Wassertemperatur aufgrund der lang anhaltenden Hitze bestimmt nicht mehr erfrischend war. Sören überlegte, ob er jemals einen so heißen Sommer in der Stadt erlebt hatte. Der letzte Regen mochte mehr als zwei Monate zurückliegen, und es sah nicht danach aus, als wenn sich die Wetterlage in nächster Zeit ändern würde.
Auch die Uferpromenade an der Schönen Aussicht war belebt. Überall flanierten Fußgänger, die seidenen Sonnenschirme der Damen tanzten gemächlich auf und nieder. Ab und zu wirbelte ein schwacher Windstoß eine kleine Staubwolke über die Böschung. Dann blähten sich die Segel der kleinen Dinghis, die unweit des Ufers vor sich hin dümpelten, für einen kurzen Moment auf, und das Ensemble der Ausflugs- und Ruderboote auf dem Wasser geriet in Bewegung. Der Ausblick auf das Panorama der Stadt machte dem Namen der Straße wirklich alle Ehre. An kaum einer anderen Stelle zeigte sich der innerstädtische See so eindrucksvoll wie hier. Dass die Kirchtürme der Stadt von hier aus wie Miniaturen wirkten, führte einem die Größe der Außenalster wirkungsvoll vor Augen.
Sören drosselte das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit, und sein Blick suchte die rechte Seite des Weges nach der gesuchten Hausnummer ab. Die großen Villen, die sich hier hinter halbhohen Bäumen versteckten, bildeten zwar das Pendant zu den Bauten auf der anderen Alsterseite, aber sie waren in der Regel nicht ganz so prunkvoll wie die Villen entlang des Harvestehuder Weges. Den dortigen Bauten konnte man die Selbstliebe ihrer Bewohner nur allzu deutlich ablesen. Es waren Renaissance-Palazzi, die mit ihren Ball- und Festsälen, Treibhäusern und unterirdischen Kegelbahnen wie kleine Herrschersitze das Ufer säumten. Abgesehen vom Uhlenhorster Fährhaus, dessen verspieltes Ensemble aus Türmchen und Arkaden schon fast mediterranes Flair versprühte, waren die großen Stadtvillen auf der Uhlenhorst deutlich schlichter gehalten, was den Gesamteindruck indes nicht schmälerte. Die Villa der Familie von Wesselhöft war eines dieser fast schmucklosen Häuser, die man vergleichsweise bescheiden hätte nennen können, wären sie nicht so groß gewesen. Türme und protzigen Bauschmuck suchte man jedenfalls vergeblich. Hinter den großen Fenstern im Erdgeschoss vermittelten geraffte Vorhänge aus dunkelblauem Samt den zurückhaltenden Eindruck gediegener Eleganz.
Nachdem Sören dem Hausmädchen seine Karte gereicht und sein Anliegen vorgetragen hatte, führte sie ihn in den Salon neben dem Entree und bat ihn, dort zu warten. Der Raum war mit ungewöhnlicher Akkuratesse eingerichtet, es wirkte auf Sören, als hätte man ihn allein für Ausstellungszwecke entworfen. Farblich war alles in Blauweiß aufeinander abgestimmt. Zudem schien die ganze Ausstattung völlig symmetrisch zu sein. An beiden Stirnseiten waren große Kamine in die Wand eingelassen. Bordüren, Kandelaber, Gesimse und halbrunde Nischen, in denen zierliche Gipsfiguren standen, wiederholten sich an jeder Wandseite. Unter der weiß gestrichenen Kassettendecke hing ein filigraner Kronleuchter. Selbst das Arrangement auf dem Tisch in der Mitte des Raumes war sorgfältig auf den Gesamteindruck abgestimmt worden. Blaue Kerzen in weißen Porzellanleuchtern. Daneben blaue Vasen mit weißen Orchideen. Selbst der chinesische Teppich auf dem Boden griff die Farbtöne auf. Einzig das weiße Cembalo, das vor einem der Kamine stand, unterlief das Gesetz der Symmetrie.
Nach einer Weile erschien das Mädchen aufs Neue, machte einen höflichen Knicks und forderte Sören mit einer schlichten Geste auf, ihr zu folgen.
Sie durchquerten die große Halle in der Mitte des Hauses und betraten einen Raum auf der gegenüberliegenden Seite, der, wie Sören überrascht feststellte, fast identisch eingerichtet war, nur dass hier alles in Grün-Weiß gehalten war und anstelle des Cembalos eine große Harfe im Zimmer stand. Offenbar hatte das Mädchen seinen Besuch nicht Johanna von Wesselhöft gemeldet, sondern ihrem Mann. Adolf von Wesselhöft erhob sich, als Sören das Zimmer betrat, aus seinem Stuhl. Sören nahm erstaunt zur Kenntnis, dass der Senator nur unwesentlich älter als er selbst sein mochte. Das letzte Mal hatte er ihn im Mai beim Richtfest des neuen Rathauses gesehen. Ohne Amtstracht wirkte er deutlich jünger.
«Guten Tag, Herr Dr. Bischop. Welches Anliegen führt Sie in mein Haus?» Adolf von Wesselhöft strich einige Falten aus seinem Hausrock. Er war aus grüner Seide, und Sören überlegte kurz, ob das Zufall war oder krankhafte Akribie.
«Herr Senator.» Sören deutete eine Verbeugung an. «Der Weg führte mich eigentlich zu Ihrer Frau Gemahlin.»
Adolf von Wesselhöft zog die Augenbrauen zusammen und musterte Sören. «Ihrer Karte entnehme ich, dass Sie Advokat sind.»
Sören nickte. «Ihre Frau Gemahlin beauftragte mich wegen einer Erbschaftsangelegenheit», sagte er, da er nicht genau wusste, inwieweit Adolf von Wesselhöft im Bilde war.
«In rechtlichen Fragen konsultiert die Familie traditionell eine andere Kanzlei», entgegnete Adolf von Wesselhöft und zupfte sich einige für Sören unsichtbare Fussel vom Ärmel.
«Es handelt sich um die Schwester Ihrer Frau Gemahlin», antwortete Sören. Adolf von Wesselhöft wusste also von nichts. Wenn Johanna von Wesselhöft nicht im Hause war, musste sich Sören etwas einfallen lassen, wenn er in der heiklen Angelegenheit die nötige Diskretion wahren wollte.
«Viktoria starb vor vier Jahren», erklärte der Senator. «Schwindsucht», fügte er hinzu. «Ich wüsste nicht, was es da noch an offenen Fragen geben könnte. Und um das Erbe ihres Vaters kümmert sich, wie ich annehme, doch ihr Bruder?»
Es war also, wie er von Anfang an vermutet hatte, dachte Sören. Johanna von Wesselhöft hatte ihn angelogen. Ihr panisches Flehen um absolute Diskretion galt nicht dem Ruf ihrer Schwester. Es war ihr eigenes Kind, das Sören ausfindig machen sollte. «Ich komme wegen einiger Papiere Ihrer verstorbenen Frau Schwägerin, die erst jetzt aufgetaucht sind. Darunter befindet sich eine unbezahlte Rechnung», log er. «Es ist ein geringer Betrag, und Ihre Frau Gemahlin wollte Sie wohl nicht mit so einer Petitesse belästigen; also beauftragte sie mich, die Angelegenheit ohne großes Aufsehen ins Reine zu bringen.»
«Ich verstehe.» Adolf von Wesselhöft zwirbelte sich den Schnauzer. «Das sieht meiner Frau ähnlich. Sie weiß ja, dass ich derzeit eine Menge um die Ohren habe …» Er wandte sich zum Fenster. «Sie ist leider nicht im Hause, sondern bei ihrem Bruder, Herrn Gunnar Smitten. Wenn Sie es also vielleicht morgen noch einmal versuchen könnten? Dann werden Sie meine Frau antreffen. Sie brauchen ja nicht zu erwähnen, dass ich nun von der Sache Kenntnis habe. Ich für mein Teil werde zumindest nichts verlauten lassen.» Er deutete ein Lächeln an und streckte Sören die Hand zur Verabschiedung entgegen. «Auf Wiedersehen, Herr Dr. Bischop.»
«Das klingt ungeheuerlich.» Mathilda schüttelte ungläubig den Kopf, nachdem Sören ihr erzählt hatte, dass Johanna von Wesselhöft nicht nur eine geborene Smitten war, sondern allem Anschein nach auch die Mutter des verschwundenen Kindes. Sie reichte Sören eins von den Broten, die sie geschmiert hatte, und goss Wein in die beiden Gläser. «Aber in welcher Form will sie sich um das Kind kümmern, wenn sie ihrem Mann nichts davon erzählt hat?»
«Ich weiß auch nicht, was ich von der Sache halten soll. Johanna von Wesselhöft dürfte vor gut zwanzig Jahren jedenfalls selbst noch ein halbes Kind gewesen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich bezüglich des Alters auch angelogen hat, andernfalls hätte ich das Kind kaum ausfindig machen können. Aus demselben Grund nehme ich ihr auch ab, dass sie nicht weiß, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt.»
«Und wenn es doch das Kind ihrer Schwester wäre?»
«Auszuschließen ist das nicht», erwiderte Sören, «aber mein Gefühl sagt mir, dass es ihr Kind ist. Ich bin gespannt, was für eine Geschichte dahinter steckt.» Er nahm einen Schluck. «Damals gab es jedenfalls noch keine Reederei Smitten. Ihr Vater, Oscar Smitten, hatte zahlreiche Gastwirtschaften und Herbergen in der Stadt. Darunter wohl auch einige üble Spelunken und Bordelle. Natürlich wird in der Öffentlichkeit nicht erwähnt, womit die Familie zu Geld gekommen ist. Aus der gleichen Quelle habe ich auch erfahren, dass Smitten ziemlich viele Liebschaften gehabt hat.»
«Die Quelle ist diese Hure, bei der du gestern warst?»
«So wie du es aussprichst, könnte man denken …»
«Du weißt, was ich meine», fiel Mathilda ihm ins Wort.
«Ich will dich doch bloß ein bisschen aufziehen.» Sören prostete ihr zu. «Natürlich blieben einige seiner Eskapaden nicht ohne Folgen. Die Früchte seiner Liebschaften schob er als Kostkinder einer Landamme unter, die zeitweilig auch in seinen Häusern als Beherbergerin arbeitete.»
«Inge Bartels.»
«Genau», entgegnete Sören. «Und dasselbe tat er auch mit dem ungewollten Kind seiner eigenen Tochter. Dieser Mann scheint wirklich frei von jedem Skrupel gewesen zu sein; denn er muss gewusst haben, dass die Bartels die Mädchen regelrecht als Prostituierte ausgebildet hat.»
«Seine eigenen Töchter und Enkeltöchter?» Mathilda verzog angewidert ihr Gesicht.
«Aus den Augen – aus dem Sinn.» Sören legte sein Brot zurück auf den Teller. «Irgendwie ist mir der Appetit vergangen», sagte er entschuldigend und leerte sein Weinglas in einem Zug.
Mathilda fasste nach seiner Hand. «Kein Wunder, bei der Geschichte.»
«Irgendwann hat Smitten dann die Reederei gegründet», fuhr Sören fort. «Wahrscheinlich hatten ihm seine unehrenhaften Geschäfte so viel eingebracht, dass er sich ein seriöses Umfeld schaffen musste, damit sich niemand fragte, wie er seinen opulenten Lebensstil finanziert. Und bei einem erfolgreichen Kaufmann gesellt sich zum Wohlstand ja fast automatisch das Ansehen. Zumindest in dieser Stadt. Tja, und dass er die Familie durch die Heirat seiner Tochter Johanna mit der alteingesessenen Senatorenfamilie von Wesselhöft verschwägerte, war dann das Sahnehäubchen. Nun hatte er alles erreicht, was in Hamburg zählt. Anfang des Jahres ist Oscar Smitten gestorben. Zumindest darin hat Johanna von Wesselhöft mich nicht belogen.»
«Wenn ich an eine Hölle glauben würde, wünschte ich ihm, darin zu schmoren.» Mathilda schenkte Wein nach und nahm sogleich einen kräftigen Schluck. «Er muss ein wahres Ungeheuer gewesen sein.»
«Und in seinem Sohn wird er einen würdigen Nachfolger gefunden haben», spekulierte Sören. «Gunnar Smitten hat nicht nur die Reederei seines Vaters übernommen, sondern anscheinend auch die anderen, immer noch lukrativen Einnahmequellen. ‹Wollers Stuben› gehören Smitten genauso wie weitere Localitäten, Kaffeeklappen und Hafenwirtschaften. Die Reeder und andere Arbeitgeber im Hafen scheinen sich wirklich zu einer Art Kartell zusammengeschlossen zu haben. Diese Vermutung wurde ja neulich Abend auf der Versammlung bei Auer & Co. schon angesprochen. Anscheinend hat man durch die Verpachtung der Hafenschänken, wo ja der Lohn ausgezahlt wird, eine Möglichkeit gefunden, Teile des Geldes in die eigenen Taschen zurückfließen zu lassen. Über Mittelsmänner, versteht sich.»
«Es ist ja allgemein bekannt», sagte Mathilda, «dass die Vermittlung in den Hafenwirtschaften abhängig vom Zechumsatz ist, aber einen solchen Hintergrund hätte ich nicht vermutet.»
«Es wird schwer nachzuweisen sein, aber du kannst sicher sein, dass ich mich der Sache annehmen werde», erwiderte Sören kämpferisch. «Vorerst konzentriert sich mein Interesse jedoch auf den Mord an Willy Mader, den Wirt und Pächter der ‹Möwe›. Dieses Local scheint auch zum Imperium der Smittens zu gehören. Ilse Mader erzählte mir, ihr Mann sei hoch verschuldet gewesen. Aber das allein rechtfertigt noch keinen Mord. Ich kann mir da noch keinen Reim drauf machen. Fest steht jedenfalls, dass man die Tat einem jungen Hafenarbeiter unterschieben will, der in besagter Nacht sturzbetrunken war und sich an nichts erinnert. Als Gegenleistung für das Schweigen zweier angeblicher Zeugen der Tat soll er übermorgen etwas für die beiden erledigen. Was, ist mir nicht bekannt. Der Mann ist untergetaucht. Bislang hatte ich noch keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Vielleicht halten ihn die beiden so genannten Zeugen auch versteckt. Ich habe jedenfalls seine Wohnung überwachen lassen …» Sören warf Mathilda einen langen Blick zu. «Es ist ein Desaster», sagte er schließlich. «Ich habe einen vierzehnjährigen Jungen damit beauftragt …»
«Und? Was ist ein Desaster?»
«Er liegt im Krankenhaus», sagte Sören leise und blickte beschämt zu Boden. «Brutal zusammengeschlagen. Wahrscheinlich von einem der beiden Ganoven, die den Hafenarbeiter erpressen.»
«Das ist ja furchtbar.» Mathilda legte Sören teilnahmsvoll eine Hand auf den Arm.
«Ich hole ihn, sobald es möglich ist, hierher. Ich hoffe, du hast Verständnis dafür. Ich habe da etwas gutzumachen.»
«Das ist doch selbstverständlich. Wie geht es dem Jungen denn?»
«Den Umständen entsprechend.» Sören zuckte hilflos mit den Schultern. «Ein gebrochenes Schlüsselbein, Prellungen, Platzwunden. Er sieht erbärmlich aus. Der behandelnde Arzt meinte zu mir, er brauche in erster Linie Ruhe, und am besten wäre es, wenn ich ihn so bald wie möglich holen würde. Im Krankenhaus herrschen Zustände … du machst dir keine Vorstellungen. Fälle von Cholera, wohin man auch blickt. Es werden täglich mehr.»
Mathilda war aufgestanden und hatte sich hinter Sören gestellt. Jetzt begann sie, zärtlich seine Schultern zu massieren.
«Ich bin vorhin noch runter zum Baakenhafen gefahren», sagte er. Mathildas Liebkosungen waren Balsam für seine Seele. Dennoch mochte er sich nicht so recht entspannen. «Das ist die Gegend, wohin der Junge seinem Peiniger, oder einem Komplizen von ihm, gefolgt ist. Du glaubst nicht, was ich dort entdeckt habe. An vier der Schuppen dort prangt der Name Smitten. Es scheint, als lösche die Reederei ihre Schiffe vornehmlich dort. Smitten! Was ich auch mache, überall stoße ich auf diesen Namen.»
«Vielleicht wartest du erst mal ab, was dein Gespräch mit Johanna von Wesselhöft ergibt.» Mathilda hatte sich an ihn geschmiegt, und ihre Hände tasteten sich langsam zu seinen Hemdknöpfen vor. «Du fährst doch morgen zu ihr?»
Sören lehnte sich zurück. «Worauf du dich verlassen kannst.»