Mathilda 

14. August

 

Mit schmerzverzerrtem Gesicht saß Sören auf der Bettkante und starrte ungläubig auf seinen rechten Fuß. Vorsichtig versuchte er, ihn in alle Richtungen zu drehen, soweit es die Schwellung über dem Knöchel zuließ. Die Zehen ließen sich noch bewegen. Es war also zumindest nichts gebrochen. Trotzdem kam er sich hilflos vor wie ein kleiner Junge. Und das ausgerechnet heute. Als er am Abend vor der Haustür seiner Mutter über die Bordsteinkante gestolpert und umgeknickt war, hatte er zwar einen ziemlichen Schmerz verspürt, das Missgeschick dann aber auf die leichte Schulter genommen. Zumindest hatte er die Heimfahrt über nichts mehr gemerkt. Das mochte am Wein gelegen haben. Er fluchte still vor sich hin. Die Schwellung war beachtlich, und er konnte kaum auftreten. Außerdem war der Fuß zum Außenriss hin hässlich blau verfärbt. Es war wohl besser, wenn sich ein Arzt die Sache anschaute. Auf einem Bein hinkte er zum Schrank und suchte nach den dicken Wintergaloschen. Mit diesem Fuß kam er nie und nimmer in seine Schuhe.

Die Pferdebahnstation an der Rothenbaumchaussee lag zwar um die Ecke, aber in seinem Zustand kam Sören der Weg endlos vor. Wenigstens waren noch genügend Sitzplätze frei. Anfangs hatte er noch mit dem Gedanken gespielt, selbst zu fahren, aber die ersten Schritte auf der Straße hatten ihn von dieser Idee sofort Abstand nehmen lassen. Nach dem Fußweg zur Chaussee bildete sich Sören zwar ein, der Schmerz habe etwas nachgelassen, trotzdem war er dankbar, dass er die Fahrt über im rumpelnden Pferdewagen nicht zu stehen brauchte. Eine knappe Stunde Fahrzeit bis nach Altona musste man auch an einem Sonntagmorgen einplanen.

Hugo Simon empfing Sören mit einem spöttischen Gruß. Das Erhebende am Arztberuf sei ja, dass man als Medicus nicht einmal am Sonntag von seinen Verpflichtungen entbunden sei. Zu ihm kämen am Wochenende fast noch mehr Hilfesuchende als wochentags – wohl wissend, dass Dr. Simon niemanden vor der Tür stehen ließ. Dann griff er dem Freund unter die Schulter und führte ihn in sein kleines Behandlungszimmer.

Sören hatte Hugo Simon vor etwa zwei Jahren bei einer Gerichtsverhandlung um ein Notzuchtverbrechen kennen gelernt, und sie hatten sich schnell angefreundet. Ein hoch angesehener, jedoch reichlich betagter Hamburger Medicus hatte wider Erwarten in einem Gutachten die Unberührtheit einer zuvor von zwei preußischen Offizieren vergewaltigten Obsthändlerin aus den Elbmarschen erklärt. Es kam selten genug vor, dass solche Verbrechen überhaupt zur Anklage gelangten, und Sören hatte seine Mandantin eindringlich vor der gesellschaftlichen Schmach, die auch sie als Opfer treffen würde, gewarnt. Aber die mutige Frau hatte darauf bestanden, und so hatte Sören ein weiteres Gutachten eines unabhängigen Mediziners eingefordert. Dr. Hugo Simon hatte die junge Frau daraufhin untersucht, wobei der Tatbestand einer Notzucht eindeutig und zweifelsfrei nachgewiesen wurde.

Was letztendlich aus den zwei adeligen Offizieren geworden war, entzog sich Sörens Kenntnis. Die Familien zahlten zur Rehabilitierung des Mädchens eine hübsche Summe, und das Verfahren wurde auf Antrag der Beschuldigten selbst an die Militärgerichtsbarkeit weitergeleitet, wo sich die Ehrbarkeit wahrscheinlich mit einer entsprechenden Spende wiederherstellen ließ. Hugo Simon hatte aus seiner antipreußischen Gesinnung während des Verfahrens keinen Hehl gemacht. Sowohl dieser Umstand als auch die Tatsache, dass Simon gegen das auch unter Medizinern ungeschriebene Gesetz verstoßen hatte, dass eine Krähe der anderen niemals ein Auge auskratzt, hatten wohl bewirkt, dass Dr. Simon nach dem Prozess die Mitgliedschaft im Hamburger Ärztlichen Verein verwehrt wurde. Nach eigener Aussage konnte er es verschmerzen, schließlich habe er im zu Preußen gehörigen Altona genug Patienten zu versorgen. Aber die Wirklichkeit, das wusste Sören, sah anders aus. Kein niedergelassener Arzt konnte es sich erlauben, auf die Klientel der benachbarten Großstadt zu verzichten. Zumal Hugo Simon, was sein soziales Engagement betraf, Sören nicht unähnlich war. Auch er behandelte Patienten aus der unteren Bevölkerungsschicht häufig ohne Honorar. Der Ruf eines Samariters eilte ihm dementsprechend vor allem in der Arbeiterklasse voraus. Satt wurde man davon nicht. Sören wollte die Gelegenheit beim Schopfe packen und den Arzt gleich auch über die Praxis bei der medizinischen Versorgung von Kostkindern ausfragen. Aber sein Fuß hatte natürlich Priorität – schließlich wollte er am Nachmittag mit Fräulein Eschenbach durch die Hamburger Kunsthalle schlendern.

«Autsch!» Sören zog das Bein ruckartig zurück, als Hugo Simon den Strumpf über das Gelenk zog.

«Entschuldige meine Unkonzentriertheit. Ich habe seit mehr als dreißig Stunden nicht geschlafen.» Der Arzt inspizierte das geschwollene Gelenk. «Gleich mehrere Fälle von plötzlichem Brechdurchfall.» Vorsichtig bog er den Fuß in alle Richtungen. «Tut das weh?»

Sören bejahte die Frage. «Üblich bei der Hitze, oder?»

«Und in diese Richtung?» Hugo Simon bog den Fuß auf die Innenseite.

«Aua! – Willst du mir den Fuß abbrechen?»

«Stell dich nicht so an», raunzte der Arzt und drückte vorsichtig auf mehrere Partien der Schwellung. «Du hast Glück gehabt. Sehnen und Bänder sind intakt. – Was sagst du? Ob das üblich ist? Der Häufung nach zu urteilen liegt da was im Busch, wenn du mich fragst. Aus den Krankenhäusern hört man bislang nichts, aber gewöhnlicher Brechdurchfall ist das bestimmt nicht. Und Typhus-Symptome sehen anders aus. Ich muss dringend mit Sanitätsrat Wallichs sprechen. Sollte sich mein Verdacht bestätigen, dann …»

«Dann? Was meinst du?»

«Ich möchte gar nicht daran denken.»

«Woran?», fragte Sören.

«Cholera», entgegnete der Arzt und sah plötzlich sehr erschöpft aus. «Einer ist mir innerhalb weniger Stunden unter den Händen weggestorben.»

«Das meinst du nicht im Ernst?»

«Wie gesagt, es ist nur eine Vermutung. Ich besitze hier gar nicht die Ausstattung, den Erreger zu isolieren und den Nachweis zu erbringen. Ich bin nur ein einfacher Arzt …»

«Ein guter Arzt.»

Hugo Simon ignorierte Sörens Worte, ging zu einem Regal und nahm ein größeres Glasgefäß herunter. «Ich streiche dir das Gelenk mit einer Arnikatinktur ein. Sollte die Schwellung nach zwei, drei Tagen nicht nachlassen, wirst du noch einmal vorbeikommen müssen.»

 

Er strich mit einem Spatel eine dicke Paste auf den Fuß, die er vorsichtig mit dem Finger auf der geschwollenen Hautpartie verrieb. Dann nahm er ein langes Mullband und wickelte das Gelenk ein. «Nimm dir einen Stock und belaste das Bein möglichst wenig. Zu wenig Bewegung ist allerdings auch nicht von Vorteil. Wenn du dich setzt, versuche, das Bein hochzulagern. Aber was erzähle ich dir? Du kennst dich ja bestens aus. So, ich muss zu Wallichs und dann dringend ins Bett. Mir fallen die Augen zu.» Er reichte Sören einen Zettel. «Lass dir das in der Apotheke anrühren und reib das Gelenk zweimal täglich damit ein.» Er blickte Sören an. «Neues Leinen wirst du ja wohl im Hause haben. Ist noch was?»

«Wie viel, Hugo?», fragte Sören.

Hugo Simon lächelte ihn an. «Das verrechnen wir mit ein paar Flaschen Wein. Akzeptiert?»

Sören nickte. «Ich will dir nicht deine kostbare Zeit stehlen, aber kannst du mir ein paar Auskünfte zur Behandlung von Kostkindern geben?»

«Ein trauriges Kapitel», entgegnete der Arzt und wiegte den Kopf. «Wo drückt der Schuh?»

«Ich bin auf der Suche nach einem Kostkind, das vor acht Jahren medizinisch versorgt worden ist. Der Name der Amme ist Inge Bartels. Mehr weiß ich nicht.»

«Hier in Altona?»

«Keine Ahnung», sagte Sören und steckte die Rezeptur in die Rocktasche. Dann schlüpfte er mit dem rechten Fuß in die Galosche.

«Landammen gibt’s wie Sand am Meer», meinte der Mediziner. «Den Namen habe ich noch nie gehört. – Wenn das mal ihr richtiger Name ist.»

«Aber du versorgst doch bestimmt einige von den Kostkindern?»

Simon nickte. «Ganz arme Würmer. Ich werde immer erst dann gerufen, wenn’s gar nicht mehr anders geht. Die Ammen leben ja von der Beherbergung und wollen möglichst keine zusätzlichen Unkosten haben. Schwindsucht, Tuberkulose, Unterernährung … Geschichten könnte ich dir erzählen … Was glaubst du, wie viele der toten Kinder, die in der Gosse gefunden werden, den Leihmüttern die Arztkosten nicht wert waren?»

Sören erhob sich, dankte dem Freund mit einem kräftigen Händedruck und verabschiedete sich. Die ganze Rückfahrt über schwirrten ihm unschöne Bilder vom Elend der unzähligen Kostkinder durch den Kopf. Vielleicht lebte das gesuchte Kind schon längst nicht mehr. Dann musste er an Hugo Simons Befürchtungen denken, seine letzten Patienten könnten an Cholera erkrankt sein. Wenn das wahr sein sollte, dann … Der Fuß schmerzte indes schon bedeutend weniger.

 

Mathilda Eschenbach sah umwerfend aus. Sie trug ein hellblaues tailliertes Kleid, das ihre mädchenhafte Figur besonders zur Geltung brachte. Schon am Abend des Konzerts war Sören ihre zierliche Statur aufgefallen. Heute erschien sie ihm noch feingliedriger. Ihre Hände und Finger waren so schmal, wie sie nur eine Violinistin haben konnte. Sie trug ihre Haare heute offen, und die hellbraunen Locken tanzten lustig auf ihren Schultern hin und her, wenn sie den Kopf bewegte. Ihre Stupsnase wurde von einer kleinen Ansammlung Sommersprossen eingerahmt. Sören bemerkte, dass ihre Augen bei Tageslicht noch intensiver leuchteten. Schon bei der ersten Begegnung war ihm die goldgelbe Farbe aufgefallen. Ihr Blick war voller Wärme. Zwischenzeitlich hatte er schon gemeint, er habe es sich nur eingebildet, aber jetzt, wo sie ihm gegenüberstand und in die Augen blickte, durchfuhr ihn wieder diese unsagbare Wärme in der Brust. Mathilda Eschenbach war etwa einen Kopf kleiner als Sören. Ihre Pupillen waren auffällig geweitet, als sie zu ihm aufblickte.

Obwohl sich Sören alle Mühe gab, seine Behinderung, so gut es ging, zu verstecken, war es Fräulein Eschenbach natürlich nicht entgangen, dass er sein rechtes Bein nachzog. «Ein kleines Missgeschick», beteuerte er auf ihre Frage und biss die Zähne zusammen, als sie die Droschke bestiegen. Am liebsten hätte er seinen rechten Fuß in einen Bottich mit Eiswasser gestellt. Aber die Bewegung tat ihm gut. Die Fahrt mit der Droschke dauerte nur wenige Minuten; zu wenig für ein Gespräch, allein lange genug für unauffällige begehrliche Blicke. Den kurzen Weg vom Ferdinandstor hinauf zur Kunsthalle, die wie ein Tempel auf der ehemaligen Bastion Vincent über Alster und Vorstadt thronte, legten sie zu Fuß zurück, und Sören war froh, dass Fräulein Eschenbach den ihr angebotenen Arm mit einem Hinweis auf Sörens körperliche Verfassung ausgeschlagen hatte. So näherten sie sich betont langsamen Schrittes dem imposanten Gebäude aus rotem Backstein, das mit seinem prächtigen Bauschmuck aus Sandstein und Terrakotta an einen Palast der Renaissance erinnerte.

«Ich muss zugeben», meinte seine Begleiterin, nachdem Sören zwei Billetts gelöst hatte, «dass ich bislang noch nicht die Zeit gefunden habe, in die Kunsthalle zu gehen, obwohl ich mich sehr für die bildenden Künste begeistern kann. Man sagt ja, ihr Direktor habe ein besonderes Auge auf die zeitgenössische Malerei. Das gefällt mir. Man tut sich doch im Allgemeinen sehr schwer mit zeitgenössischer Kunst. Das ist in der Musik nicht anders. Ich hoffe sehr, sein Engagement findet Zustimmung beim Publikum.»

Sören wusste nicht, was er darauf hätte erwidern können. Er war ja selbst noch nie in der Kunsthalle gewesen, und seine Meinung über moderne Musikkompositionen behielt er in diesem Moment besser für sich. Er konnte nur hoffen, dass Martin ihr zufälliges Zusammentreffen nicht vergessen hatte.

Sie deutete auf das prächtige Treppenhaus vor ihnen. «Man könnte meinen, man stünde in Stülers Neuem Museum in Berlin», sagte sie, und Sören nickte, auch wenn er das Berliner Museum nicht kannte. Zumindest wusste er, dass die Kunsthalle von zwei Berliner Architekten gebaut worden war.

«Sie waren zuvor in Berlin?», fragte er.

Sie nickte. «Vier Jahre lang. Im Herbst letzten Jahres bekam ich dann die Stelle hier in Hamburg. Es ist schon ein glücklicher Zufall, dass Mahler auch hier weilt. Er ist ein phantastischer Dirigent, einfühlsam und behutsam. Als Komponist vielleicht etwas melancholisch.»

«Melancholie ist sehr treffend», entgegnete Sören. «Genau das empfand ich auch an dem Abend, als ich Ihr Violinspiel hörte.» Ihr Spiel hatte tatsächlich etwas in ihm berührt – ganz im Gegensatz zum eigentlichen Stück, das er als unruhiges und konfuses Getöse empfunden hatte.

«Wir kommen gut miteinander aus», meinte sie. «Nur Pollini scheint leider von Mahlers Kompositionen nicht viel zu halten, was aber wohl mehr dadurch begründet ist, dass die Konzerte so schlecht besucht sind. Schade, dass das Hamburger Publikum so … so konservativ ist.»

Sören lächelte. «Das ist nicht allein bei der Musik so. In dieser Stadt hält man sehr an Traditionen fest. Auf den ersten Blick scheint es so gut wie unmöglich, je etwas verändern zu können.»

«Diesen Eindruck habe ich auch. Ich bin zwar erst ein knappes Jahr in der Stadt, aber ich kann jetzt schon mit Sicherheit sagen, dass Pollini bloß eine Wagner-Oper anzukündigen braucht, um ein volles Haus zu haben. Es scheint geradezu, als kenne man in dieser Stadt nur Wagner. Wagner oder Barock. Steht Wagner auf dem Programm, dann stehen die Bürger Schlange. Leider hat das zur Folge, dass die Gesangssolisten von Pollini auch viel besser bezahlt werden als die Orchestermitglieder. Hätte ich eine schöne Stimme, dann müsste ich tagsüber wahrscheinlich nicht am Conservatorium unterrichten. Es gibt nichts Ermüdenderes, als unbegabten Kindern das Spielen eines Instrumentes zu vermitteln, für das sie nie das nötige Gespür entwickeln werden. – Aber ich langweile Sie mit meinen Geschichten …»

«Durchaus nicht. Sie haben völlig Recht. Solange es zum guten Ton bürgerlicher Weltanschauung gehört, dass zumindest die Töchter des Hauses ein Instrument zu spielen haben, obwohl man die künstlerischen Beschäftigungen in den meisten Fällen doch besser aufs Häkeln und Sticken hätte beschränken sollen, so lange hat Musik nur etwas mit Wohlerzogenheit und wenig mit Kunst zu tun.»

«Richtig», bekräftigte Fräulein Eschenbach. «Andererseits: Gäbe es dieses Bedürfnis in den bürgerlichen Kreisen nicht, stünden wir Musiker noch ärmer da als ohnehin schon. Viele leben vom Unterricht.»

«Wie sind Sie zu Ihrem Instrument gelangt?»

«Genau so, obwohl mir mein Werdegang im Nachhinein wie ein Märchen vorkommt. Ich stamme aus einer Familie, die sich niemals einen Musiklehrer hätte leisten können. Ganz im Gegenteil: Normalerweise wäre ich der Musik in dem für mich vorgezeichneten Leben nicht einmal begegnet.»

«Sie machen mich neugierig.»

«Meine Familie stammt aus dem Westfälischen», erklärte sie. «Mein Vater, ein einfacher Bergmann, kam bei einer Explosion unter Tage ums Leben, als ich vier Jahre alt war. Der Grubenbesitzer, ein für seinen Stand beachtenswert verantwortlicher Mensch, hat meine Mutter daraufhin als Köchin in sein Haus genommen. So habe ich einen Teil meiner Kindheit in diesem sehr vornehmen Haus verbracht – in einer Dachkammer, versteht sich. Die Kinder der Familie erhielten natürlich Musikunterricht. Klavier und Violine, wie es sich gehört.» Sie lachte auf. «Die beiden waren ungefähr so begabt, wie eben von Ihnen geschildert. Ja, wirklich. – Eines Tages habe ich, unerlaubt, versteht sich, das Instrument in die Hand genommen und einfach zu spielen begonnen. Ich hatte ja schon häufiger beobachtet, wie man es hält und wie man mit dem Bogen darüber streicht. Es war ganz einfach. Es war, als wenn ich nie etwas anderes gemacht hätte. Die Töne, die ich mit dem Mund trällern konnte, kamen wie von selbst. Nach wenigen Malen schon schien mir das Instrument zu gehorchen. Irgendwann erzählten es die Kinder dem Musiklehrer, dem ich daraufhin vorspielen musste und der danach sofort mit dem Hausherrn sprach. Er hat alles bezahlt. Ich werde dem Mann für den Rest meines Lebens dankbar sein müssen. So weit meine Geschichte.» Sie lächelte Sören auf eine merkwürdig unbekümmerte Weise an.

«Dann verbindet uns vielleicht so etwas wie eine Seelenverwandtschaft», erklärte Sören. «Auch ich habe meine Karriere mehreren glücklichen Zufällen zu verdanken. Mein Vater, ein einfacher Polizist, heiratete in zweiter Ehe die Tochter seines besten Freundes, eines Amtsmedicus, der in seinem Testament verfügte, dass man mir mit seinem bescheidenen Erbe das Studium der Medizin ermöglichen solle.» Sören versuchte, sich an Conrad Roever zu erinnern, dem er eigentlich seinen ganzen Werdegang zu verdanken hatte. Aber das Gesicht seines Großvaters war ihm nur noch von einer ererbten Daguerreotypie präsent. «Eigentlich hatte ich Schiffbauer werden wollen, aber natürlich fügte ich mich dem Wunsch meiner Eltern und studierte Medizin, auch wenn ich letztendlich kein Arzt, sondern Jurist geworden bin. Das Studium der Jurisdiktion ermöglichte mir unter anderem ein wohlwollender Freund, der, wie es den Anschein hat, der Hitze des heutigen Tages auch hierher in die Kunsthalle entflohen ist …»

Keine Planung hätte das Zusammentreffen besser arrangieren können. Martin stand zusammen mit Lichtwark vor einem großen Gemälde, und wie es aussah, war eine lebhafte Diskussion zwischen ihnen im Gange. Lichtwark hielt Martin am Arm, seine andere Hand kreiste wild gestikulierend umher, als versuche er, irgendwelche Linien des Bildes vor ihnen nachzuzeichnen. Die beiden standen sehr dicht beisammen, ein merkwürdiger Eindruck persönlicher Vertrautheit lag zwischen ihnen in der Luft. Sören machte mit einem Räuspern auf sich aufmerksam, und beide drehten sich abrupt um, wobei Lichtwark seinen Arm von Martins Schulter nahm, als wäre es nur eine flüchtige Berührung gewesen. «Das nenne ich einen Zufall!», sagte Sören mit gedämpfter Stimme. «Gerade war die Rede von dir.»

«Sören.» Martins Überraschung wirkte echt und nicht einstudiert. Mit einer vornehmen Verbeugung wandte er sich Sörens Begleitung zu. Es war nicht zu übersehen, dass er Mathilda Eschenbach dabei interessiert musterte. Dann stellte er Lichtwark vor. Sören war dem Kunsthallendirektor ein- oder zweimal flüchtig begegnet, aber es hatte sich nie die Möglichkeit eines Gesprächs ergeben. Er fühlte sich sofort an seinen Sozius erinnert. Auch Johns hatte diesen scharfen Blick, dem man sich kaum zu entziehen vermochte. Lichtwarks Gesichtszüge waren ausgesprochen fleischig, mit etwas hängenden Wangen und einem ausgeprägt großen Kinn. Obwohl er etwa in Sörens Alter sein musste, war sein Haupthaar schon stark gelichtet. Die Oberlippe zierte ein etwas zu knapp gestutzter Schnauzbart.

Lichtwark wandte sich Sören zu, nachdem er dessen Begleitung seine Aufwartung gemacht hatte. «Dann sind Sie der Advokat, von dem mir Herr Hellwege erzählt hat?»

Sören blickte Martin fragend an.

«Es geht um einen juristischen Rat, den Herr Lichtwark gerne zu einem äußerst delikaten Vorfall haben möchte. Ich sagte ihm, da wäre er bei dir an der richtigen Adresse.»

«Es geht um das Bild eines Malers. Max Liebermann ist sein Name», erklärte Lichtwark und deutete auf das große Gemälde vor ihnen an der Wand. «Er hat dieses Werk geschaffen, das ich dank einer Schenkung vor zwei Jahren erwerben konnte. Es heißt ‹Die Netzflickerinnen›.»

Sören betrachtete das mannshohe und mehr als zwei Meter breite Gemälde, das von einem patinierten Goldrahmen eingefasst war. Vor ihm breitete sich bis zum Horizont eine Wiesenlandschaft aus, auf der mehrere Frauen vor ausgebreiteten Fischernetzen knieten oder hockten. Im Vordergrund schleppte ein lebensgroß dargestelltes, junges Fischermädchen ein weiteres, sichtbar schweres Netz heran. Über der Szenerie lag grauer, sturmbewegter Wolkenhimmel.

«Man hört förmlich, wie der Wind über das Feld pfeift», meldete sich Fräulein Eschenbach. «Ich mag diese großen Genrebilder. Sie wirken wie aus dem Leben gegriffen, dabei sind sie doch bestimmt nicht vor der Natur entstanden.»

«Sie haben Recht.» Lichtwark lächelte erfreut. «Liebermann hat viele Skizzen und Studien dazu angefertigt, bis er die endgültige Komposition auf die Leinwand brachte. Ich kenne einige davon.»

«Und doch wirkt es, als hätte sich die Szene genau so zugetragen. Am liebsten möchte man der jungen Frau im Vordergrund beim Tragen des schweren Netzes helfen. Nur die Gesichter der Frauen sind ihm etwas zu schön geraten. Es sind Arbeiterinnen, deren Kleidung ärmlicher, deren Gesichter von der Seeluft bestimmt zerfurcht und deren Hände spröde und rissig sein müssten.» Alle blickten auf Fräulein Eschenbach, die angesichts der Wirkung ihres kleinen Vortrags aufs zauberhafteste errötete.

«Sie sind nicht zufällig Malerin?», fragte Lichtwark erstaunt.

Sie lächelte bescheiden. «Nein, Musikerin – ich spiele Violine.»

«Der Wunsch nach mehr Realismus in der Malerei ist ungewöhnlich für eine so junge Dame», erklärte Lichtwark, und seine Lippen kräuselten sich amüsiert. «Aber tatsächlich haben Sie mit Ihrer Feststellung den Nagel auf den Kopf getroffen. Liebermann kann sehr wohl realistischer malen. Jedoch fehlt die Akzeptanz des Publikums.» Er breitete die Arme zu einer hilflosen Geste aus. «Ich tue schon mein Möglichstes, das Publikum zu erziehen. Man muss den Menschen eine Anleitung geben, wie Kunst zu verstehen ist; man muss sie auffordern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dennoch stoße ich immer wieder an eine Mauer, denn die große Menge will sich nicht von der überholten Ansicht befreien lassen, allein das Schöne sei das Gute. Die Realität ist aber nicht immer schön.»

«Man strebt nach einem Wunschbild, nicht nach einem Abbild», meinte Martin.

«Genau», erwiderte Lichtwark. «Kommen Sie! Ich möchte Ihnen etwas zeigen.» Während er die Gruppe aus dem Raum führte, wandte er sich Sören zu. «Es handelt sich um das vorhin von Herrn Hellwege angedeutete Problem, zu dem ich gerne Ihren Rat einholen möchte. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich vor einigen Jahren für die Kunsthalle die Sammlung von Bildern aus Hamburg ins Leben gerufen. Ich versuche seither, zeitgenössischen Malern, wie etwa Corinth, Slevogt, Kalckreuth und eben auch Liebermann, Porträtaufträge in der Stadt zu vermitteln. Nebenbei hoffe ich natürlich, dass eben auch Landschafts- und Genrebildnisse dieser Künstler, von Gönnern und wohlwollenden Spendern finanziert, für die Galerie der Kunsthalle erworben werden können. Nun, ich konnte unseren geschätzten Bürgermeister Petersen gewinnen, den Anfang für diese Reihe von Bildnissen zu machen. Max Liebermann hat also ein Porträt von ihm angefertigt. – Am besten zeige ich es Ihnen, damit Sie sich, nun ja, ein Bild machen können.» Lichtwark geleitete sie zu einer Tür, die etwas abseits an einem Korridor lag. Er schloss sie auf und ließ die Gruppe eintreten. Am Ende des Raumes stand eine große Staffelei, über der ein Leinentuch hing, das der Direktor nach hinten zurückschlug. «Voilà! – Unser Bürgermeister, Carl Friedrich Petersen!» Er ging einige Schritte zurück und stellte sich zu den anderen. «Was sagen Sie?»

«Der Gute liegt ja seit einiger Zeit unpässlich danieder», bemerkte Sören. Liebermann hatte den Bürgermeister im Ornat eines Hamburger Senators vor einem schlichten grauen Vorhang porträtiert, in dessen oberster rechter Ecke das Hamburger Stadtwappen zu erkennen war. In der rechten Hand hielt er ein Paar weiße Handschuhe, in der Armbeuge trug er den großen schwarzen Senatorenhut. Das Bildnis war lebensgroß – und durchaus realistisch. Liebermann zeigte kein Idealbild, sondern einen Greis, dessen Haar so weiß war wie die Halskrause des Habits und dessen gebeugter Körper seinem hohen Alter entsprach. «Ich kenne seinen Gesundheitszustand nicht, aber er ist eben schon recht betagt.» Sören lachte. «Lassen Sie mich raten: Es gefällt ihm nicht sonderlich?»

Lichtwark seufzte. «Schlimmer noch! Seine Familie verbietet, dass das Bildnis in die Galerie gehängt und der Öffentlichkeit gezeigt wird. Man ist empört.»

«Petersen ist fast neunzig», ließ Martin sich vernehmen. «Was erwartet man denn, wenn man sich in dem Alter porträtieren lässt? Das Bildnis eines vor Kraft und Tatendrang strotzenden Jünglings?»

«Auch wenn ich den Bürgermeister persönlich nicht kenne, finde ich das Bild überaus gelungen», erklärte Fräulein Eschenbach. «Es zeigt einen alten Mann in seiner ganzen Würde.»

Einen Augenblick lang betrachteten alle schweigend das Porträt.

«Ich kann mir denken», meinte Sören dann, «welchen Rat Sie von mir wollen. Allerdings möchte ich bezweifeln, dass Ihr Problem mit juristischen Mitteln zu lösen ist. Selbst wenn es einen Vertrag zwischen Künstler und Modell geben sollte, kann Ihnen nicht daran gelegen sein, gegen den Wunsch des Auftraggebers zu entscheiden.»

«Richtig», sagte Lichtwark. «Zumal Petersen eben gleichzeitig die Rolle des Spenders zufällt. Der eigentliche Auftraggeber bin ja ich – und ich sitze jetzt ganz gehörig in der Patsche. Breche ich einen juristischen Streit vom Zaun, verschrecke ich natürlich alle möglichen weiteren Gönner für den Ausbau der Sammlung. Andererseits will Liebermann natürlich bezahlt werden.»

«Es wäre vor allem schade, wenn niemand das Bild sehen dürfte», sagte Fräulein Eschenbach. «Aber ich verstehe natürlich Ihr Problem. Irgendwie müssen Sie sich mit beiden Parteien arrangieren.»

«Ich würde den Vorschlag unterbreiten», sagte Sören, «dass Petersen die Kosten trägt und das Bild bis auf weiteres im Magazin aufbewahrt wird. Unzugänglich für die Öffentlichkeit.» Lichtwark wollte schon etwas einwenden, aber Sören kam ihm mit einer beschwichtigenden Handbewegung zuvor. «Es geht Ihnen doch darum, eine Sammlung aufzubauen? Dafür brauchen Sie möglichst viele Kontrakte. Anders als bei diesem Auftrag können Sie dann jedoch schon etwas vorweisen. Das heißt, der Auftraggeber kann sich ein Bild davon machen, was ihn erwartet. Glauben Sie mir, das Problem wird sich nicht wiederholen.»

«Sie meinen also, ich soll auf die Hängung dieses Bildes zugunsten neuer Aufträge verzichten und das Bildnis von Petersen gleichzeitig dafür nutzen, zukünftigen Auftraggebern eine unschöne Überraschung zu ersparen?» Lichtwark runzelte die Stirn. «Wahrhaft diplomatisch.»

Sören nickte. «Ich verstehe ja nicht viel von Kunst, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass man in ein, zwei Jahren vielleicht auch aus dem Blickwinkel der Petersens anders über die Sache denken wird, wenn andere Auftraggeber trotz, oder vielleicht sogar wegen der realistischen Darstellung ihre Zustimmung für solche Porträts gegeben haben. Wenn erst vier oder fünf andere prominente Persönlichkeiten in der Galerie hängen, wird man sicher eitel genug sein, dazugehören zu wollen – dazugehören zu dürfen.»

Alfred Lichtwark zwinkerte Sören zu, während er das Leinentuch wieder über das Gemälde drapierte. «Ich danke Ihnen für Ihren weisen Rat. – Da werde ich wohl noch viel Aufklärungsarbeit leisten müssen.» Er wandte sich Fräulein Eschenbach zu. «Ich würde mich gerne revanchieren. Wie wäre es, wenn ich Sie ein wenig durch die Galerie führe und Ihnen das eine oder andere Geheimnis zu den ausgestellten Exponaten verrate?»

Das war mehr, als Sören erhofft hatte. Dankend nahmen sie die Einladung an. Nach einem mehrstündigen Rundgang verabschiedeten sie sich schließlich von Lichtwark, nicht ohne ihm zu versprechen, das Haus zukünftig regelmäßiger zu besuchen und auch an den Vortragsreihen zu unterschiedlichen Themen der Kunst teilzunehmen, die der Direktor hier im Hause häufiger veranstaltete.

Der Tag neigte sich bereits seinem Ende entgegen, als Sören seiner Begleitung vor deren Haustür aus der Droschke half. Fräulein Eschenbach bewohnte eine kleine Wohnung in den Colonnaden, nur einen Katzensprung von ihrer Arbeitsstätte entfernt. Sören deutete formvollendet einen Handkuss an und machte den Vorschlag, einen solchen Ausflug doch beizeiten zu wiederholen.

«Gerne», antwortete Fräulein Eschenbach und strahlte ihn an. «Vielleicht, wenn es Ihrem Fuß wieder besser geht?»

Sören lächelte. «Der Arzt sagte etwas von zwei bis drei Tagen.» Das war natürlich gelogen. Hugo Simon hatte von Wochen gesprochen, nicht von Tagen. Aber Sören fühlte sich in diesem Moment schon völlig kuriert.