22. August
Natürlich hatte Sören sofort an Cholera gedacht, als man ihm am nächsten Morgen bei der Firma Beiersdorf in Eimsbüttel mitteilte, Altena Weissgerber sei auf dem Weg ins Eppendorfer Krankenhaus. Der Schreck war ihm offenbar anzusehen. Zumindest hatte ihm der Pförtner gleich ein Glas Wasser angeboten und gefragt, ob ihm nicht wohl sei. Dann hatte der Mann ihm erklärt, Altena Weissgerber begleite eine Arbeitskollegin, die am Morgen mit dem Arm in ein elektrisches Rührgerät geraten sei. Es sei wahrscheinlich weniger dramatisch, als es sich anhöre, aber der zuständige Abteilungsleiter habe darauf bestanden, dass die Arbeiterin unverzüglich ins Spital müsse.
Auf dem Weg ins Krankenhaus dachte Sören noch einmal darüber nach, worüber er gemeinsam mit Mathilda schon die ganze Nacht gegrübelt hatte. Wenn Smitten tatsächlich hinter dem Mord an Willy Mader steckte, dann konnte es eigentlich kein Zufall sein, dass es gerade der Freund seiner vermeintlichen Tochter war, dem er die Tat zwecks Erpressung in die Schuhe schieben wollte. Aber das setzte voraus, dass Gunnar Smitten wusste, wer Altena Weissgerber war. Und genau das hatte Mathilda bezweifelt. Ihrer Meinung nach schwebte Altena Weissgerber in riesiger Gefahr, und je mehr Sören darüber nachdachte, desto plausibler erschien ihm das. Smitten würde alles daransetzen, sein früheres inzestuöses Verhältnis mit seiner Schwester zu verschleiern. Vor allem musste ihm daran gelegen sein, Inge Bartels aus dem Weg zu schaffen. Sören hatte schon spekuliert, ob Smitten Marten Steen genau dafür gewinnen wollte, aber es ergab keinen Sinn. Wenn Gustav und Ratte tatsächlich im Auftrag von Gunnar Smitten arbeiteten, dann hatte der bereits genug Leute an der Hand, die auch vor einem kaltblütigen Mord nicht zurückschreckten. Nein, es musste einen anderen Hintergrund geben. Aber welchen nur? Gab es ein Verbrechen, für das der Täter ein bisher unbescholtener Arbeiter sein musste und kein Berufskrimineller?
Als Sören etwa zwanzig Minuten später das Eingangstor zum Eppendorfer Krankenhaus passierte, bot sich ihm ein Bild des Grauens. Drei städtische Krankenwagen standen in der Auffahrt, aber offenbar wurden die Träger daran gehindert, die Patienten auf Tragen des Krankenhauses umzubetten, da sie entweder im Sterben lagen oder bereits tot waren. Ein junger Arzt und zwei Krankenschwestern dirigierten die Träger zu einem abseits gelegenen Platz, den man mit hölzernen Planken umfriedet hatte. Sören warf einen Blick hinter den provisorischen Zaun: Auf dem Boden lagen Dutzende von Leichen, die man in Leinentücher gehüllt hatte. Ein erbärmlicher Gestank breitete sich aus, Sören musste sich fast übergeben. Unzählige Fliegen und Brummer schwirrten über den mit Kot und Dreck verunreinigten Leichentüchern. Auf der anderen Seite der Abgrenzung waren Arbeiter mit Tüchern vor dem Gesicht damit beschäftigt, die Toten in einen Möbelwagen zu laden. Aber die Anzahl der Leichen auf dem Platz schien sich nicht zu verringern, da ständig neue Verstorbene auf das Gras gelegt wurden.
Auf den Gängen des Hauptgebäudes herrschten ähnliche Zustände. Zu beiden Seiten des Flurs lagen auf Rollwagen Tote bereit zum Abtransport. Dazwischen waren ein paar Frauen damit beschäftigt, die verunreinigten Böden zu säubern. Sie hatten sich ebenfalls Tücher um Mund und Nase gebunden. Der Gestank war kaum auszuhalten. Hinzu kam die grausige Geräuschkulisse. Fast hinter jeder Tür hörte man Menschen in Krämpfen würgen, schreien und stöhnen, manchmal war nur noch leises Wimmern zu vernehmen.
Der Portier zuckte nur mit den Schultern. Da Sören den Namen der verunglückten Beiersdorf-Arbeiterin nicht kannte, verwies er ihn an die chirurgische Abteilung. Die Patienten, Pfleger und Schwestern, denen Sören auf dem Weg zu den chirurgischen Pavillons begegnete, trugen alle den gleichen Gesichtsausdruck hilfloser Erschöpfung, und auch Sören überkam ein Gefühl der Ohnmacht. Jeder, den er hier sah, tat sein Bestes, gab alles Menschenmögliche, um die Katastrophe zu verhindern, und die Verantwortlichen schlossen die Augen. Es war ein Albtraum. Er beschloss, zuerst die Baracke aufzusuchen, in der er letztens mit Dr. Rumpf gesprochen hatte.
Dr. Rumpf war außer sich. Er stand mit drei Kollegen um einen schmalen Labortisch versammelt und schlug mit der Faust auf die Tischplatte, dass die schmalen Reagenzgläser in den hölzernen Ständern bedrohlich klirrten. «Es ist unerhört! Unerhört!», rief er und schlug noch einmal auf den Tisch. Dann bemerkte er Sören. «Bitte?»
«Dr. Bischop. Sie erinnern sich vielleicht?»
«Sicher erinnere ich mich», antwortete Rumpf. Seine Stimme zitterte immer noch vor Zorn. Er rang sich ein Lächeln ab. «Entschuldigen Sie, wenn ich mich hier wie ein Irrer aufführe, aber es ist schier zum Verzweifeln.»
«Angesichts der Szenen, die ich draußen gesehen habe, kann ich Sie gut verstehen», entgegnete Sören. «Immer noch keine Reaktion vonseiten des Senats?», fragte er vorsichtig.
«Fehlanzeige!», schnarrte Dr. Rumpf höhnisch. «Und das, obwohl wir …» Er deutete auf einen der Männer neben sich. «Obwohl mein Kollege Fraenkel hier den Erreger heute Nacht isolieren konnte. Nun besteht kein Zweifel mehr, dass es sich um die asiatische Cholera handelt. Und wissen Sie, was Kraus sagt?» Wieder schlug er mit der Faust auf den Tisch. «Wir sollen uns noch ein wenig gedulden! Gedulden! Dass ich nicht lache! Wir hatten heute 340 Einlieferungen! 340 Einlieferungen an einem Tag! Und es werden mehr werden, das kann ich Ihnen prophezeien! Aber ich werde heute Berlin informieren! Auch auf die Gefahr hin, dass ich danach entlassen werde. Ich kann es nicht mehr verantworten.»
«Was sagt denn Medicinalrat Kraus genau?», fragte Sören.
«Er druckst weiter herum, er hätte Anweisungen von den Senatoren von Wesselhöft und Hachmann, nichts zu melden, was nicht verlässlich sei. Dabei haben wir den Erreger eindeutig identifiziert!»
Sören verkniff es sich, den Tod von Senator von Wesselhöft zu erwähnen. «Sie wollen es also nach Berlin melden?»
«Ich warte jetzt nur noch auf den Rückruf von Robert Koch aus Berlin. Ich werde ihm schildern, was uns vorliegt, mich kurz mit ihm absprechen und dann die entsprechenden Behörden verständigen. Es bleibt mir nichts anderes übrig.» Auf einmal blickte er Sören an, als würde er ihn jetzt erst richtig wahrnehmen. «Was führt Sie eigentlich hierher?»
Dr. Müller, einer der Ärzte, die bei Rumpf gestanden hatten, begleitete Sören zum entsprechenden Krankenpavillon. Er müsse so oder so nach dem Rechten sehen, hatte er sich bei Rumpf entschuldigt, aber Sören hatte viel mehr den Eindruck, als wenn dem Mediziner jede Gelegenheit recht gewesen wäre, das Labor so schnell wie möglich zu verlassen. Die Stimmung unter den Ärzten war natürlich gereizt.
«Ein komplizierter Bruch der Speiche sowie mehrerer Handwurzelknochen», erklärte er auf Sörens Nachfrage. «Mit ein wenig Glück kann sie aber in sechs bis acht Wochen alles wieder bewegen.» Er erinnerte sich auch sofort an die rothaarige Begleiterin der Patientin, die wahrscheinlich immer noch bei ihr sei.
Altena Weissgerber blickte überrascht auf, als Sören zusammen mit Dr. Müller den Pavillon betrat. «Wollen Sie etwa zu mir?»
Sören nickte. «Ich muss dringend mit Ihnen sprechen.»
Erst als Sören andeutete, es gehe um Marten Steen, erklärte sich Altena Weissgerber bereit, ihre Kollegin im Krankenhaus allein zu lassen. Sie fühlte sich mitschuldig am Arbeitsunfall, weil sie es gewesen war, die die Maschine versehentlich zu früh angeschaltet hatte. Aber die Sorge um ihren Verlobten überwog ihr schlechtes Gewissen darüber deutlich. Sie saß auf dem Wagen und starrte vor sich ins Leere, während Sören vorsichtig zur Sprache brachte, was er bisher hatte herausfinden können. Dass er auch auf Altenas ehemalige Arbeitsstelle in St. Georg zu sprechen kam, ließ sich nicht vermeiden.
«Woher wissen Sie davon?» Sie blickte ihn ängstlich an.
«Das ist nebensächlich», sagte Sören und bremste den Wagen auf Schrittgeschwindigkeit. «Aber Sie hätten mir sagen sollen, dass Sie Ilse Mader von früher her kannten.»
Stück für Stück erzählte Altena Weissgerber daraufhin von ihrer Vergangenheit, und Sören hatte den Eindruck, dass es ihr nicht einmal schwer fiel. Ganz im Gegenteil: Es klang fast so, als ob sie Erleichterung empfände, darüber sprechen zu können. Je mehr sie berichtete, desto flüssiger sprudelten die Worte aus ihr heraus.
Das Erste, woran sie sich erinnern konnte, war der kleine Garten hinter dem alten Haus in Hamm, wo sie zusammen mit fünf anderen Mädchen gewohnt hatte. Da war sie etwa acht Jahre alt gewesen. Ihr genaues Geburtsjahr kannte sie nicht. Dass Inge Bartels nicht ihre wahre Mutter war, hatte sie erst begriffen, nachdem sie eines der älteren Mädchen, von denen sie bislang angenommen hatte, es wären ihre Schwestern, aufgeklärt hatte. Die kleineren mussten nachts immer alleine sein, da die Bartels mit den älteren Mädchen jeden Abend das Haus verließ, um zu arbeiten. Als Altena etwa zwölf Jahre alt war, hatte Inge Bartels auch sie mitgenommen. Sie müsse bald für sich selbst sorgen können, hatte die Bartels ihr erklärt, und als Frau wäre es die leichteste Arbeit, einfach den Männern gefällig zu sein und die Beine breit zu machen. Sören erschrak über die schonungslosen und derben Worte, mit denen Altena Weissgerber über ihre Vergangenheit sprach, schließlich war er nicht unbedingt ein Vertrauter von ihr. Aber im Grunde hatte sie natürlich Recht, wenn sie die Sachen beim Namen nannte.
Anfangs hatte sie alles widerspruchslos über sich ergehen lassen, erzählte Altena weiter, schließlich hatten ihr alle gesagt, das sei die natürlichste Sache der Welt. Also hatte sie den Ekel hinuntergeschluckt und sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Aber als sie älter wurde und die Männer nicht mehr so freundlich und zuvorkommend zu ihr waren, man von ihr andere Sachen verlangte, hatte sich ihr Widerwille immer stärker ausgebreitet. Vor vier Jahren war sie einfach davongelaufen. Erst hatte sie sich versteckt, von der Hand in den Mund gelebt und auf den Straßen gebettelt, dann hatte sie eine Straßenbekanntschaft mit nach Geesthacht genommen, wo sie schließlich in einer Pulverfabrik Arbeit gefunden hatte. Erst ab diesem Zeitpunkt habe sie eigentlich begriffen, dass es für eine Frau auch andere Möglichkeiten gab, Geld zu verdienen. Sie änderte ihren Namen von Gerber in Weissgerber und kehrte nach einem Jahr in die Stadt zurück, immer darauf bedacht, einen großen Bogen um ihre ehemalige Arbeitsstätte zu machen. An der Kaffeeklappe am Hafen, wo sie abends arbeitete, hatte sie schließlich Marten Steen kennen gelernt. Er war anders als die Männer in ihrem bisherigen Leben. Marten Steen war höflich und freundlich, und er war unerfahren, was die Liebe betraf. Genau wie sie selbst, wie sie sich eingestehen musste, denn was sie zusammen mit den anderen Mädchen und Frauen in besagtem Etablissement getan hatte, hatte mit Liebe nichts zu tun. Aber das wurde ihr natürlich erst jetzt bewusst. Marten Steen sei es auch gewesen, erzählte sie schließlich, der sie zu den Sozialdemokraten gebracht habe. Seit sie die Arbeit bei Beiersdorf habe, sei sie zudem Gewerkschaftsmitglied und kämpfe aktiv um die Rechte der Frauen am Arbeitsplatz.
«Und der Name Mader hat Sie nicht zusammenzucken lassen?», fragte Sören. «Oder kannten Sie Ilse Mader nur unter ihrem … ihrem Künstlernamen?»
«Doch. Als ich den Namen des ermordeten Schankwirtes erfuhr, ahnte ich schon so etwas. Zuerst glaubte ich, man sei hinter mir her … Aber so scheint es gar nicht zu sein. Wieso Marten?»
«Das frage ich mich auch die ganze Zeit.» Sören lenkte den Wagen von der Oderfelder Straße auf den großen Kreisel des Klostersterns und bog in die Eppendorfer Chaussee in Richtung Rotherbaum ein.
«Wohin fahren wir eigentlich?», fragte Altena Weissgerber.
«An einen sicheren Ort», antwortete Sören und blickte sie ernst an. «Haben Sie sich eigentlich nie gefragt, wer Ihre Eltern sind?» Er hatte nicht wirklich vor, Altena Weissgerber in diesem Moment über ihre Herkunft aufzuklären – das würde er bei anderer Gelegenheit nachholen, aber er musste ihr zumindest erklärlich machen, dass sie in Gefahr war.
Sie zuckte mit den Achseln. «Warum sollte ich? Vielleicht sind sie tot, vielleicht wollten sie mich nicht, oder sie konnten sich nicht um mich kümmern …»
«Die Verbindung, der Sie entstammen, war nicht rechtens. Deswegen hat man Sie gleich nach der Geburt als Kostkind zu einer Landamme gegeben. Zu Inge Bartels. Und derjenige, der dafür die Verantwortung trägt, trachtet Ihnen wahrscheinlich nach dem Leben.»
Altena Weissgerber blickte ihn überrascht an. «Aber warum?»
«Ihr rechtmäßiger Familienname ist in der Stadt nicht ganz unbekannt», antwortete Sören.
«Wie lautet er? Wie heiße ich wirklich?»
Sören schüttelte den Kopf. «Es ist besser, wenn Sie das im Moment nicht wissen. Diese Inge Bartels, Ihre Ziehmutter, erpresst Ihren Vater jedenfalls.»
«Er ist verheiratet. Wer ist er?»
«Nein, das ist es nicht. Ich werde es Ihnen erklären, wenn man Inge Bartels gefasst hat. Die Polizei fahndet bereits nach ihr.» Sören überlegte, ob es wirklich schlau war, Altena Weissgerber bei sich zu Hause zu verstecken. Vielleicht hatte Johanna von Wesselhöft ihrem Bruder gegenüber seinen Namen erwähnt. Dann wäre es für Gunnar Smitten ein Leichtes, sein Opfer ausfindig zu machen, Sören konnte schließlich nicht den ganzen Tag auf sie aufpassen. Eine andere Möglichkeit war es, sie Mathilda anzuvertrauen, was allerdings bedeutete, dass sich Mathilda die Zeit über nicht bei ihm aufhalten würde. Und wenn er David morgen in die Feldbrunnenstraße holen würde, musste jemand im Hause sein. Außerdem arbeitete Mathilda heute bis zum späten Abend; da wollte er sie nicht ungefragt vor vollendete Tatsachen stellen. Also musste Martin herhalten. Martins Haus war groß genug, und so, wie Sören seinen Freund kannte, würde er nichts dagegen haben, dass Altena Weissgerber so lange bei ihm blieb, bis die Gefahr gebannt war. Von der Rothenbaum Chaussee bog er in die Johns Allee ein und lenkte den Wagen über den Mittelweg in die Alte Rabenstraße. Altena Weissgerber staunte nicht schlecht, als er in die Auffahrt zu Martins Villa einscherte.
Martin war nicht alleine. Er hatte Besuch von Dr. Johann Julius Reincke, einem befreundeten Arzt. Dennoch bat er die beiden natürlich herein, nachdem ihm Sören zu verstehen gegeben hatte, dass es wichtig sei.
Reincke war etwas älter als Sören. Er kannte ihn flüchtig aus der «Harmonie», wo er ihm ein- oder zweimal in Begleitung von Martin begegnet war. Da Sören in Anwesenheit von Reincke sein Problem nicht erörtern wollte, stellte er Altena Weissgerber als eine Mandantin von sich vor, was ja auch nicht gelogen war.
Überrascht nahm er zur Kenntnis, dass Reincke und Martin sich zuvor anscheinend über das unterhalten hatten, was auch Sören seit Tagen unter den Nägeln brannte: die inzwischen unübersehbare Häufung von Cholerafällen in der Stadt. Zumindest wurde das Thema wieder aufgegriffen, nachdem man sich gesetzt hatte. Reincke hatte als praktizierender Arzt bereits mehrere Erkrankte eingewiesen und machte sich riesengroße Sorgen, wie er bekundete. Umso erstaunter war er, als Sören erklärte, dass man den Erreger in Eppendorf endlich isoliert hätte.
«Woher wissen Sie das?»
«Wir kommen gerade aus dem Krankenhaus. Dort herrschen Zustände …» Sören suchte nach Worten. «Sie machen sich keine Vorstellungen. Dr. Rumpf sagte mir, allein heute habe man weit über 300 Kranke aufgenommen.»
«Sie haben mit Rumpf gesprochen?»
«Ja. Ein Kollege von ihm, Fraenkel ist sein Name, hat den Bazillus heute Nacht isolieren können. Seiner Meinung nach reicht das als Nachweis der asiatischen Cholera aus. Rumpf steht bereits im Kontakt mit Robert Koch.»
Reincke schüttelte den Kopf. «Das ist unfassbar. Seit Tagen reden wir Ärzte auf Kraus ein … Aber der Mann ist ein sturer Hund. Von einer Epidemie will er nichts hören. Der Kollege Hagedorn will das Verhalten des Medicinalrates bei der nächsten Bürgerschaftssitzung zur Sprache bringen.»
«Dr. Rumpf ist der Ansicht, der Erreger würde sich über das System der Trinkwasserleitungen verbreiten», erklärte Sören. «Aber davon will Hachmann als zuständiger Senator nichts wissen. Er glaubt nicht an Kochs Theorien.»
«Über das Leitungswasser?» Reincke nickte nachdenklich. «Das würde erklären, warum die Kollegen aus Altona bislang noch keine Probleme haben. Dort hat man für das Trinkwasser eine Sandfilteranlage gebaut. In Hamburg gibt es bisher nur Klärbecken. Eine entsprechende Anlage ist zwar im Bau, aber noch nicht funktionsfähig. Wenn der Erreger tatsächlich von dort … Nicht auszumalen … Annähernd jedes zweite Haus wäre betroffen.» Reincke erhob sich. «Martin, ich muss dringend zu Hagedorn.» Er streckte Martin die Hand entgegen und nickte Sören und Altena Weissgerber freundlich zu. «Sie entschuldigen mich bitte, aber nach dem, was Sie erzählen, ist dringender Handlungsbedarf nötig. Ich werde mich mit Hagedorn absprechen, was die Ärzte der Stadt für Maßnahmen ergreifen müssen. Ich selbst habe mich mit den Theorien Kochs nur wenig beschäftigt. Aber wenn er Recht hat, dann steuert die Stadt geradewegs auf eine Katastrophe zu.»
«Das wird kaum möglich sein», meinte Martin entschuldigend, nachdem er von der Haustür zurückgekehrt war und Sören ihm sein Anliegen vorgetragen hatte. «Ich werde für ein paar Tage nicht im Hause sein. Ich habe einem Freund versprochen, ihn heute Abend zu einem Empfang zu begleiten. Danach werden wir für ein paar Tage an die Ostsee fahren.»
Es war das erste Mal, dass Martin Sören gegenüber von einem Freund gesprochen hatte. Nach dem Gespräch, das sie vor kurzem geführt hatten, konnte sich Sören schon ausmalen, um was für eine Art Freund es sich handeln musste. Dennoch fiel es ihm schwer, sich Martin in trauter Zweisamkeit mit einem anderen Mann vorzustellen. Während er darüber nachdachte, welche Möglichkeiten es noch gab, Altena Weissgerber unerkannt unterzubringen, bemerkte er, dass Martin schwarze Lackschuhe trug. An sich war das nicht ungewöhnlich, wenn man von den Temperaturen einmal absah, denn Martin achtete stets auf ein gepflegtes Äußeres. Aber es waren nicht allein die Schuhe. Er hatte auch eine umschlaglose schwarze Hose an, wie man sie normalerweise nur zum Frack trug. Die passende weiße Weste hing ordentlich drapiert über einer Stuhllehne am Esstisch.
Für einen Theater- oder Opernbesuch war Martins Aufmachung eindeutig zu festlich. Außerdem hatte er von einem Empfang gesprochen. Frack und Zylinder trug man hingegen nur bei offiziellen Feierlichkeiten, und eine Eröffnung oder ähnlich opulente Zeremonien standen in der Stadt nicht an, das hatte Sören bei seinen Recherchen zum heutigen Tag bereits eruiert. «Darf ich fragen, wo du heute hingehst?»
«Ein kleiner Empfang», entgegnete Martin und warf Sören ein vielsagendes Lächeln zu.
«Die Garderobe …»
«Unter den geladenen Gästen befindet sich eine Person, deren Stand eine gewisse Aufmachung rechtfertigt», warf Martin ein, bevor Sören seinen Satz zu Ende gesprochen hatte. Dann wiesen seine Blicke in die Richtung Altena Weissgerber, die etwas abseits stand. Wie es aussah, wollte Martin keine konkreteren Angaben machen, solange sie nicht unter sich waren.
In diesem Moment überkam Sören eine furchtbare Ahnung. Er wagte es kaum, seinen Gedanken zu Ende zu bringen. «Wer?», fragte er, ohne Martins unausgesprochene Bitte zu berücksichtigen.
«Eine hochgestellte Persönlichkeit», antwortete Martin ausweichend. «Aber sie reist völlig inkognito.»
Sören blickte ihn entsetzt an. «Wer?», wiederholte er seine Frage.
Martin blickte Sören vorwurfsvoll an. «Aus Berlin», sagte er schließlich. «Sehr hochgestellt. Kannst du dir nicht denken, von wem ich spreche? Es ist die Eröffnung eines neuen Ballsaals in einem Haus … zu dem …» Er lief rot an. «Zu dem nur bestimmte Herren Zutritt haben.» Schließlich formten seine Lippen zwei Silben, die Sören eindeutig als Wil-helm identifizieren konnte.
«Der 22. August!» Sören schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. «O verdammt! Jetzt geht mir ein Licht auf! Wann erwartet man den Gast aus Berlin?»
«Um acht Uhr ist der Empfang angesetzt», antwortete Martin und schaute Sören verdattert an.
Sören blickte zur Uhr. «Dann bleiben uns nur noch ein paar Stunden. Hast du die Adresse dieses Hauses?»
Martin nickte. «Kannst du mir mal sagen, was los ist?»
«Unterwegs!», zischte Sören. «Wir müssen zu Hartmann. Ernst Hartmann von der Criminal-Polizei. Ich kann nur hoffen, dass er in seinem Büro ist. Kommt! Wir müssen uns beeilen!»
Mit Martins Zweispänner wären sie deutlich bequemer gefahren, bot der Wagen doch mehr als zwei Personen Platz, aber die Droschke stand unangespannt in der Remise, und Sören hatte entschieden darauf verwiesen, dass es auf jede Minute ankäme. Zuerst hatten sie Altena Weissgerber deshalb bei Martin lassen wollen, aber dann war Sören eingefallen, dass sie gemeinsam mit Hartmann wahrscheinlich zu besagtem Haus fahren würden, in dem Marten Steen in Erscheinung treten sollte, und da nur Altena wusste, wie er aussah, war es unvermeidbar, sie mitzunehmen.
Martin klammerte sich an dem eisernen Haltegriff neben der Sitzbank fest. «Wenn du Hartmann gegenüber erwähnst, dass ich … Willst du mich kompromittieren?»
«Rede keinen Quatsch, Martin.» Sören ließ die Peitsche knallen und trieb das Pferd zu schnellerer Fahrt an. «Wenn tatsächlich ein Attentat auf den Kaiser geplant ist, dann fragt kein Mensch danach, woher du die Information hast. Außerdem bist du doch selbst nur Begleiter eines Freundes, wie du erzählt hast.» Er blickte Martin fragend an. «Was hat der Kaiser eigentlich auf einer solchen Veranstaltung zu suchen? Ist er … ich meine …»
«Das fragst du ihn am besten selber», erklärte Martin und blickte starr nach vorne auf die Straße. «Ich werde mich dort jedenfalls nicht blicken lassen, wenn die Polizei eine Razzia durchführt.»
«Wem gehört das Haus eigentlich?»
Martin zögerte. «Es ist die Villa eines stadtbekannten Bankiers», sagte er schließlich. «In den Gesellschaftsräumen finden häufiger solche Amüsements statt.»
«Warten wir erst mal ab, was Hartmann dazu sagt. Jedenfalls ist mir jetzt klar, was man mit Marten Steen vorhat: Er soll ein Attentat ausführen. Er glaubt doch, dass er bereits ein Mörder ist. Wahrscheinlich hat man ihm versprochen, ihn nicht zu verraten und ihm bei der Flucht zu helfen. Dabei …» Sören bemerkte, wie Altena Weissgerber ihn ängstlich anschaute. «Ich befürchte, dass man ihn nach der Tat liquidieren will. Wahrscheinlich so schnell, dass niemand mehr in Erfahrung bringen kann, wer hinter dem Anschlag steckt. Es sähe dann aus, als wäre es die Tat eines Einzelnen, und zugleich wäre der Mord gesühnt. Das Ganze ist raffiniert eingefädelt.»
«Und wer steckt deiner Meinung nach dahinter?», fragte Martin.
«Keine Ahnung», antwortete Sören, während er den Wagen vor dem Stadthaus abbremste. «Ich weiß nur, dass Gunnar Smitten seine Finger im Spiel hat, aber ob er auch der Drahtzieher ist, das weiß ich nicht.»
Ernst Hartmann ließ Sören gar nicht zu Wort kommen, als die drei sein Büro betraten. Als er Sören erblickte, erhob er sich von seinem Schreibtisch und hielt ihm einen Aktendeckel entgegen. Dass Sören in Begleitung gekommen war, schien ihn nur marginal zu interessieren.
«Wenn du dahinter steckst», rief er ohne jede Begrüßungsworte, «dann ist aber was los, das kann ich dir sagen!»
«Wovon redest du?»
«Wovon ich rede? Hier!» Hartmann reichte ihm den Aktendeckel. «Wir haben eine Leiche gefunden. Im Hafen. Heute Morgen. Sieht ganz so aus, als ob das im Zusammenhang damit stünde, worum du mich gestern gebeten hast.»
«Eine Leiche?», fragte Sören erschrocken. «Ich verstehe nicht …»
«Der Mann ist aus dem dritten Stock eines Speichers gestürzt. Der Speicher wird von der Reederei Smitten genutzt. Anscheinend wollte er ins Fleet springen. Dummerweise war gerade Niedrigwasser, und er ist auf den Treppenstufen der Quaianlage gelandet. Der dritte Boden des Speichers ist total verwüstet. Der Quartiersmann von Smitten meint, es könne sich nur um jemanden handeln, der es auf die kostbaren Gewürze abgesehen hatte, die dort gelagert werden.» Er warf Sören einen fragenden Blick zu. «Willst du mir jetzt etwa erzählen, dass das ein Zufall ist?»
«Ein Einbrecher also. Kennt ihr die Identität des Toten?» Insgeheim rechnete Sören schon mit einem Zusammenbruch von Altena Weissgerber.
Hartmann nickte. «Den Papieren nach, die er bei sich trug, handelt es sich um einen gewissen Gustav Müller aus Salzburg, und mir ist so, als hättest du gestern auch diesen Namen erwähnt!»
«Du musst dich täuschen», entgegnete Sören mit Unschuldsmiene. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, dass es sich bei dem Toten nicht um Marten Steen handelte. Was vorgefallen war, konnte er nur ahnen. Wahrscheinlich war dieser Gustav auf der Flucht aus der Luke gesprungen. Natürlich steckten Zinkens Leute dahinter – den Rest würde er beizeiten von Hannes erfahren. Oder auch nicht. Im Moment gab es ohnehin Wichtigeres. «Wir kommen wegen einer anderen Sache», erklärte er und stellte Hartmann seine Begleiter vor.
«Du meine Güte, Sören. Wenn es stimmt, was du erzählst, dann bleiben uns nur noch knapp zwei Stunden.» Hartmann war kreidebleich geworden. «Bist du dir absolut sicher, dass Seine Majestät auf dem Weg in die Stadt ist?»
«Es gibt unzweifelhafte Hinweise dafür», erklärte Martin.
Ernst Hartmann hatte sich vor eine große Karte gestellt, die an einem Ständer in der Ecke des Raumes hing, und suchte nach der Adresse, die Sören ihm genannt hatte. «Das ist schon seltsam», murmelte er. «Ich habe heute Morgen eine Nachricht von Staatsanwalt Romen erhalten. Er hat einen Tipp bekommen, die Sozialdemokraten planten am heutigen Abend in der Gegend irgendetwas, und er bat mich darum, dort vorsorglich ein paar Beamte patrouillieren zu lassen.»
«Sozialdemokraten?», wiederholte Sören nachdenklich. Wie wollte Romen an diese Information gelangt sein? Es war allgemein bekannt, dass Sozialisten für ihn im wahrsten Sinne des Wortes ein rotes Tuch darstellten. Plötzlich erhellte sich Sörens Miene. «Das ist es!», rief er und blickte Altena Weissgerber an. «Sie erwähnten doch Marten Steens Parteizugehörigkeit. Man will es den Sozialdemokraten in die Schuhe schieben. Und ich habe mich die ganze Zeit über gefragt: Warum gerade er? Jetzt geht mir ein Licht auf. Wahrscheinlich soll man hinterher nicht nur seinen Parteiausweis, sondern auch noch ein gefälschtes Bekennerschreiben in seiner Rocktasche finden.»
«Wir machen uns sofort auf den Weg», erklärte Ernst Hartmann und griff nach seinem Rock. «Hier sind noch zwei Leutnants, ein Bezirkskommissar und ein Oberwachtmeister in Bereitschaft. Mit den Beamten vor Ort wird das fürs Erste reichen. Ich werde die zuständige Wache telegraphisch verständigen.»
Zehn Minuten später setzten sich drei Polizeidroschken vom Stadthaus Richtung Winterhude in Bewegung. Nach einer guten Stunde Fahrt erreichten sie die Blumenstraße, wo die Beamten der zuständigen Wache wie vereinbart Posten bezogen hatten. Die Villa selbst lag am Rondeel, einer schmalen Straße, die kreisförmig um ein teichförmiges Bassin führte. Dieser Teich war eine Ausbuchtung an einem Seitenarm der oberen Alsterkanäle, und die anliegenden Villen hatten über ihre Gärten einen direkten Zugang zum Wasser. Die ganze Gegend war noch spärlich bebaut, die Grundstücke dafür umso weitläufiger.
Kommissar Muschek und Leutnant Ockelmann wiesen die Beamten der örtlichen Polizeiwache an, sich in unmittelbarer Nähe des Hauses in Bereitschaft zu halten. Zuerst wollten die Criminalen in Erfahrung bringen, ob sich der Ehrengast bereits im Hause befand. Anhand der prächtigen Droschken, die in der Auffahrt der Villa geparkt waren, konnte man das nicht ohne weiteres erkennen, zumal Martin darauf hingewiesen hatte, dass der Kaiser inkognito reise.
Sören hatte ein mulmiges Gefühl. Seine rechte Hand tastete in der Rocktasche nach dem Griff des Revolvers, den Ernst Hartmann ihm gegeben hatte. Es war lange her, dass er eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Martin war zusammen mit Oberwachtmeister Bertram und zwei uniformierten Gendarmen zur Ecke Rondeel und Sierichstraße gegangen. Wenn der Kaiser noch nicht eingetroffen sei, dann werde er wohl über die Sierichstraße kommen und man könne seinen Wagen dort abfangen. Natürlich war Martins Vorschlag in erster Linie ein Vorwand, das Haus nicht zeitgleich mit der Polizei betreten zu müssen, weil er wahrscheinlich den einen oder anderen Gast näher kannte, aber Hartmann fand die Idee dennoch ausgezeichnet. Altena Weissgerber stand bei Polizeileutnant Ockelmann, dem nach Hartmann ranghöchsten Criminalen, und gemeinsam beratschlagte man, ob es sinnvoll sei, sie mit ins Haus zu nehmen, um Marten Steen möglichst schnell identifizieren zu können.
Dann ging mit einem Mal alles ganz schnell. Hartmann und Kommissar Muschek liefen zügigen Schritts auf das Eingangsportal zu. Sören und Altena Weissgerber folgten ihnen mit den criminalen Leutnants im Abstand von wenigen Metern. Der Hausdiener, der ihnen die Tür geöffnet hatte, erfasste die Situation sofort. Noch bevor Hartmann und Muschek sich ausgewiesen hatten, versuchte er, die Tür wieder zu schließen, aber Muschek hatte bereits seinen Fuß in den Türspalt gestellt. Mit einem schnellen Griff packte der Kommissar den Diener am Livree, bog ihm den Arm auf den Rücken und zerrte ihn zu Boden. Mit der linken Hand hielt er den Hals des Mannes umfasst, die Rechte hielt ihm einen Revolver an die Stirn. «Einen Mucks, und du bist hin», drohte er im Flüsterton. «Ist Seine Majestät bereits im Haus?»
Der Diener schaute ihn panisch an und schüttelte stumm den Kopf. Hartmann gab den anderen ein Zeichen, ihm zu folgen. Auf der Straße hörte man einen kurzen Pfeifton, dann bezogen die uniformierten Beamten der örtlichen Wache vor den Droschken auf der Einfahrt Stellung.
Im vorderen Teil des Hauses wies absolut nichts auf bevorstehende Festlichkeiten oder einen Empfang hin. Die große Eingangshalle war menschenleer, und hätten nicht die zahlreichen Gefährte in der Auffahrt gestanden, so hätte man durchaus den Eindruck haben können, niemand halte sich in der Villa auf. Erst nachdem Hartmann eine der zweiflügeligen Türen geöffnet hatte, konnte man entfernt Stimmen und Gelächter hören. Vorsichtig schlichen sie den breiten Gang entlang, der zu einem Festsaal auf der Gartenseite des Hauses führen musste. Je näher sie den Türen am anderen Ende des Ganges kamen, umso deutlicher konnten sie die Stimmen vernehmen. Hartmann hielt inne und flüsterte Muschek etwas zu. Dann zogen beide Männer ihre Pistolen, und der Kommissar gab den Leutnants hinter ihnen ein Zeichen, woraufhin auch diese ihre Waffen zur Hand nahmen. Sören hielt den Griff des Revolvers umklammert.
Mit einem beherzten Tritt trat Muschek die Türflügel auf, und die Polizisten stürmten, die Pistolen vor sich im Anschlag, in den Raum. Schreckensrufe ertönten, dann rannte alles durcheinander. Es befanden sich etwa vierzig bis fünfzig Personen in dem Saal, an dessen Ende eine Art Bühne aufgebaut war. Hartmann feuerte einen Warnschuss in die Luft, worauf schlagartig Ruhe einkehrte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Bis auf das leise Klirren des Kristallleuchters, den der Schuss anscheinend getroffen hatte, herrschte Totenstille.
«Polizei!», rief Hartmann. «Niemand rührt sich von der Stelle!» Selbst das zaghafte Glockenspiel des Kronleuchters erstummte bei seinen Worten.
Die jungen Männer, die auf der Bühne offenbar gerade eine Posse aufgeführt hatten, trugen lediglich Unterhosen und Husarenmützen. Auch sie standen wie angewurzelt da und wagten nicht, sich zu bewegen.
Als Sören mit Altena Weissgerber den Saal betrat, setzte Gemurmel ein. Sören konnte mehrere ihm bekannte Gesichter unter den Anwesenden ausmachen. Von einigen wusste er, dass sie verheiratet waren, und er fragte sich, was die Betreffenden auf einer solchen Veranstaltung zu suchen hatten. Entweder führten sie ein Doppelleben, oder der angekündigte Besuch des Monarchen hatte unter der Hand für ein paar artfremde Zaungäste gesorgt. «Sehen Sie ihn irgendwo?», fragte Sören leise.
Altena Weissgerber blickte sich um. «Dort!», rief sie schließlich und deutete auf einen der Kellner, der dicht neben der Bühne stand. «Marten!»
«Marten Steen!», rief Hartmann. «Im Namen des Gesetzes! Sie sind hiermit verhaftet!»
Marten Steen schaute sich hilflos um. Seine Blicke kreisten suchend durch die Menge, aber anscheinend entdeckte er unter den Anwesenden nicht, wonach er suchte. Plötzlich zog er einen Revolver aus der Innentasche seines weißen Fracks und richtete den Lauf auf Muschek und Hartmann, die auf ihn zugestürmt waren.
«Marten! Nein!», schrie Altena Weissgerber. «Tu’s nicht!» Man merkte, wie Steen bei diesen Worten zusammenzuckte.
«Machen Sie keinen Scheiß, Steen! Lassen Sie die Waffe fallen!», rief Hartmann, aber seine Worte schienen an Marten Steen abzuprallen.
Sören ging einige Schritte auf die Bühne zu. «Sie haben den Gastwirt nicht ermordet!», rief er Steen zu, der den Lauf der Waffe sofort verunsichert auf ihn richtete. «Das waren die zwei Kerls von Smitten», redete Sören weiter, obwohl ihn in diesem Moment Todesangst befiel. «Man wollte Sie nur erpressen, damit Sie hier …» Er hielt inne, da ein lautes Raunen durch die Menge ging. Sören wagte nicht, den Blick von Steen abzuwenden. Er registrierte, dass er den Lauf der Waffe etwas gesenkt hatte, dennoch schien die Gefahr nicht gebannt zu sein. Plötzlich registrierte er einen kleinen Mann, der sich aus der Menge gelöst hatte und sich langsam auf Marten Steen zubewegte. Sören erkannte die Narben im Gesicht des Mannes, im gleichen Augenblick blitzte die Klinge eines Messers auf.
«Vorsicht!», schrie er Steen zu, der sich daraufhin überrascht zur Seite drehte. Das Messer verfehlte sein ursprüngliches Ziel und bohrte sich in Steens linken Arm. Steen schrie kurz auf, dann richtete er die Waffe gegen den Angreifer.
In diesem Augenblick warfen sich einige der Anwesenden zu Sörens Linker Schutz suchend auf den Boden. Im ersten Moment glaubte Sören, seinen Augen nicht zu trauen, aber der Mann, der noch bis eben von Menschen umringt gewesen war und nun, eine Pistole in der Hand, fast allein auf dem Parkett stand, war Gunnar Smitten. Was um alles in der Welt hatte der Reeder hier zu suchen, und warum war er bewaffnet? Noch bevor Sören sich diese Fragen beantworten konnte, hob Smitten den rechten Arm und zielte in Richtung Bühne. «Ihr verdammten Trottel!», rief er. Dann krachte ein Schuss.
Alles im Saal geriet in Bewegung, sodass man nicht erkennen konnte, ob und wen Smitten getroffen hatte. Altena Weissgerber war auf die Bühne geeilt. Nun strömten mehrere uniformierte Polizisten in den Saal, und einige Gäste versuchten panisch, sich an ihnen vorbeizudrängen.
«Festnehmen!», befahl Hartmann und zeigte auf Smitten, der seine Waffe daraufhin auf Leutnant Ockelmann richtete. Sören zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann zog er den Revolver aus dem Rock. Er hatte noch nie auf einen Menschen geschossen, aber der Ausdruck in Gunnar Smittens Augen sagte ihm, dass es in diesem Moment unvermeidlich war. Der Polizei-Leutnant hatte noch gar nicht registriert, dass eine Waffe auf ihn gerichtet war. Sören spannte den Hahn und zielte, aber der Schuss, der fiel, stammte nicht aus seiner Waffe. Kommissar Muschek war ihm zuvorgekommen. Gunnar Smitten sackte zu Boden. Die Anwesenden schrien auf. Ein Blutfleck breitete sich auf Smittens weißem Hemd aus. Für einen Moment schien es, als zeichne sich ein Grinsen auf seinen Lippen ab. Dann lief ein rotes Rinnsal aus seinem Mundwinkel, und sein Kopf klappte zur Seite.
«Und der Kaiser?», fragte Sören, nachdem er Martin erzählt hatte, was drinnen vorgefallen war.
Martin setzte sich auf die Stufen des Eingangs und zündete sich eine Zigarette an. «Kommt nicht mehr», erklärte er und nahm einen tiefen Zug. «Wir haben seine Kutsche vorne an der Kreuzung gestoppt.»
«Was habt ihr ihm gesagt?»
«Ich habe ihm erzählt, wir hätten die Cholera in der Stadt, und es wäre besser, wenn er Hamburg so schnell wie möglich verließe.»