Anlandung

8. August

 

Die Zornesröte stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er das Schiff betrat. Fünf Tage Verspätung auf der Fahrt von Riga nach Hamburg, das war einfach unakzeptabel. Schließlich hatte es schon seit Wochen weder schweres Wetter noch Flaute gegeben. Und außerdem: Warum hatte das Schiff nicht, wie üblich, am Baakenhafen festgemacht, sondern dümpelte in zweiter Reihe an der Vorsetze des Strandhafens vor sich hin? Er war gespannt, welche Erklärung der Kapitän für ihn parat hielt. Der Mann war doch sonst so verlässlich.

«Wo ist Corneelsen?», fuhr er den Matrosen, der ihn an der Reling empfing, barsch an.

«Nicht hier», antwortete der Mann knapp. «Der Steuermann erwartet Sie in der Messe.»

«Harksen?» Was hatte das jetzt zu bedeuten? Wutentbrannt stieg er zur Messe hinunter, wo der Steuermann zusammengesunken am großen Esstisch hockte. «Wo ist Corneelsen?»

Der Steuermann blickte auf und erhob sich dann in gespenstischer Langsamkeit. «Der Kapitän ist tot», erklärte er mit zitteriger Stimme. «Er hat sein Grab im Kattegatt gefunden.»

«Mein Gott, Harksen, was ist los? War er denn krank? Oder hat er sich selbst –»

Der Steuermann schüttelte den Kopf. «Wahrscheinlich Unterleibstyphus oder so etwas. Keine Ahnung. Den Ersten Maat hat es nach zwei Tagen erwischt. Dann ist Corneelsen krepiert. Zwei weitere Matrosen übergaben wir kurz vor Helgoland der See. Seit der Elbmündung dann noch drei. Sie sind noch an Bord. Unten im Laderaum.»

Der Steuermann verstummte und blickte ihn ausdruckslos an. In seinen Ohren begann es zu brausen. Das Wort Quarantäne schoss ihm wie eine Horrorvision durch den Kopf. Wenn man das Schiff unter Quarantäne stellte, war die Ladung verloren. Das fehlte gerade noch. Durch die Verspätung hatte er schon genug Verluste zu verzeichnen. «Erzählen Sie genauer!»

«Sie bekamen einfach Brechdurchfall. Urplötzlich und ohne Vorwarnung.» Harksen schüttelte ungläubig den Kopf. «Es folgten heftige Krämpfe und hohes Fieber. Dann wurden sie besinnungslos – kurz darauf waren sie tot.» Der Steuermann verzog sein Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse. «Es war furchtbar. Wir konnten nichts für sie tun, so schnell ging es.»

«Haben Sie schon mit irgendwem darüber gesprochen?»

«Nein. – Sie hätten ihre Gesichter sehen sollen! Sie waren kaum wiederzuerkennen!»

«Ja, das ist tragisch. Waren außer Corneelsen Leute von der Stammmannschaft dabei, oder hat es Angeheuerte erwischt?»

«Sowohl – als auch», erklärte Harksen betrübt.

Er versuchte, ein betroffenes Gesicht zu machen. «Schreiben Sie mir bitte alle Namen auf. Ich kümmere mich um die Familien.»

«Und die drei im Laderaum?»

Er wandte sich der Kajütentür zu. «Warten Sie bis zur Dämmerung, dann verholen Sie das Schiff zum Baakenhafen. Schaffen Sie die drei mit der letzten Ladung unauffällig von Bord.» Er warf dem Steuermann einen prüfenden Blick zu und setzte seinen Hut auf. «Ich verlasse mich auf Sie, Harksen! – Und dann vergessen Sie die Angelegenheit so schnell wie möglich. Sie hören von mir. Es ist ja nun eine Kapitänsstelle neu zu besetzen. Guten Tag.»

Natürlich war die Angelegenheit ärgerlich, dachte er, als er von Bord des Schiffes ging. Aber ein paar toter Seeleute wegen brauchte man nun nicht gleich die Pferde scheu zu machen. Und auf Harksen konnte er bauen. Harksen war ehrgeizig. Als er die Kutsche bestieg, fiel sein Blick auf die Turmuhr von St. Katharinen. Er wollte sich keinesfalls verspäten. In drei Stunden musste er in Friedrichsruh sein. Um den Rest würde er sich morgen kümmern.

 

«Dann wären wir also vollzählig», rief der Gastgeber und schloss hinter dem letzten Ankömmling die Tür zum Salon. Um den großen Tisch in der Mitte des Raumes saßen die anderen – genau wie beim letzten Treffen. Niemand wagte, das Wort zu ergreifen, bis sich der Gastgeber schwerfällig auf dem großen Eichenstuhl an der Kopfseite des Tisches niedergelassen hatte. Er trug einen einfachen Rock aus grünem Leinen. Sein Gehstock lehnte an der Tischkante. Allein der weiße Bart erinnerte an längst vergangene Zeiten, als er noch den hellen Waffenrock der Kürassiere getragen hatte, aber den alten Mann mit den wässrigen Augen umgab immer noch die Aura des soldatisch Unerbittlichen. «Meine Herren, wie Sie wissen, haben wir noch knapp zwei Wochen.» Er blickte fragend in die Runde. «Sind wir uns nach wie vor einig?»

Die Anwesenden blieben stumm. Niemand wagte, den Anfang zu machen.

«Es muss jedenfalls etwas geschehen», meinte einer schließlich. «Seit Ihrer Entlassung regiert in Berlin die Unberechenbarkeit. So forsch sein Auftreten, so markig seine Worte auch sein mögen: Wilhelm ist zu jung und selbstgewiss. Er kann das Staatsschiff nicht ohne Mannschaft lenken – und sein Stab besteht aus Dilettanten, der neue Reichskanzler inklusive!»

Ein anderer nickte. «Engstirnige Ministerialbeamte und ein diplomatisches Korps voller aristokratischer Nichtskönner.»

«So wird das Reich jedenfalls keine Rolle auf der weltpolitischen Bühne spielen», erklärte ein Dritter.

«Wo bleibt die erhoffte Kolonialpolitik? Wo bleibt die Flotte, die dem Handel auf den Weltmeeren entsprechenden Schutz bietet?»

Der Gastgeber nickte zufrieden. «Das Gaukelspiel des Hohenzollern muss ein Ende finden. Seine hochfahrende Unbeherrschtheit wird den Staat in den Ruin führen. Am liebsten wäre es mir, wir könnten einen seiner Günstlinge, einen dieser süßlichen Herren, gleich mit zur Strecke bringen. – Herr Senator, was meinen Sie?»

Der Angesprochene nestelte nervös am Revers seines Gehrocks. «Verdammtes Gottesgnadentum. An die Stelle preußischer Tugenden sind heimliche Schwärmereien getreten.»

«Der Monarch ist ein Träumer», fügte ein anderer hinzu. «Während er in seinen Phantasien schwelgt, formieren sich immer mehr seiner geliebten Untertanen. Aber nicht in die von ihm gewünschte Richtung.» Er blickte den Gastgeber um Bestätigung heischend an. «Die Sozialdemokraten haben Zulauf wie nie zuvor. Und das Krebsgeschwür gedeiht allerbestens, solange sich in Berlin nichts ändert.»

Der Gastgeber lächelte gequält. «Solange ich das Sagen hatte, bin ich eisern gegen Pfaffen und Sozialdemokraten vorgegangen. Nun wagen sich die Ratten aus ihren Löchern.»

«Ein Haufen raub- und mordsüchtiger Gesellen, die nur darauf warten, den Bürgern den Hals umzudrehen», meldete sich ein Herr mit Knebelbart und stattlichem Embonpoint. «Herrschaften, wie Sie wissen, vertrete ich ein ganzes Konsortium. Natürlich weiß niemand, was wir im Schilde führen. Aber man wird es gutheißen, wenn das Ergebnis sichtbar wird. – Herr Reeder, Sie dürften meiner Meinung sein.» Er blickte einen anderen an. «Die Sozialdemokraten schüren Unruhe in der ganzen Arbeiterschaft und gefährden den wirtschaftlichen Aufschwung.»

«Richtig, richtig! Nach Aufhebung der Sozialistengesetze vor zwei Jahren nimmt das stetig zu», erwiderte der. «Erst die Maifeiertage, dann der Streik der Tabakarbeiter. Seit dem Gewerkschaftskartell vom letzten Jahr ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Arbeitsverweigerungen auch auf die Hafenbetriebe ausdehnen. Wir sitzen förmlich auf einem Pulverfass!»

«Ich glaube, wir sind uns einig», meinte der Gastgeber und erhob sein Glas, während ein Lächeln über seine Lippen huschte. «Wir sollten nicht nur etwas gegen Berlin, sondern zugleich gegen die Sozialdemokraten unternehmen. Ein befreiender Doppelschlag, sozusagen. Meine Herren, ich habe da eine Idee …»