Nächtliches

17. August

 

Sören zog seine Taschenuhr hervor und kontrollierte die Uhrzeit. Es war bereits Viertel nach zehn. Die Vorstellung musste längst beendet sein, denn der Trubel vor dem zur Dammthorstraße gelegenen Haupteingang des Stadttheaters ebbte langsam ab. Das Gros der Besucher hatte das Haus bereits verlassen, nur noch vereinzelt wendeten Droschken vom benachbarten Wartestand auf der anderen Straßenseite, um Fahrgäste vor dem Theater aufzunehmen. Wo blieb sie nur? Sören blickte wie gebannt auf den Bühneneingang an der Großen Theaterstraße, aber dort tat sich nichts. Wahrscheinlich hielten die Mitglieder des Orchesters noch so etwas wie eine Besprechung ab. Lange konnte es eigentlich nicht mehr dauern. Sören war gespannt, wie Fräulein Eschenbach auf seine Anwesenheit reagieren würde. Den Gedanken, dass sie möglicherweise zu müde sein könnte, um mit ihm noch irgendwo einzukehren, verwarf er schnell. Natürlich würde sie sich über diese Überraschung freuen.

Ein Mann schob seinen Handkarren laut rumpelnd an ihm vorbei über das Pflaster der Straße, als sich die Tür zum ersten Mal öffnete. Aber es waren nur drei Männer, die das Haus verließen. Nachdem sie die Colonnaden gekreuzt hatten, verschwanden ihre Umrisse schnell im Dämmerlicht. Sören lehnte sich an einen Mauervorsprung. Wenn er lange stand, schmerzte sein Fußgelenk noch immer. Aber was hatte er erwartet? An den Ratschlag von Hugo Simon hatte er sich zumindest nicht gehalten. Ganz im Gegenteil. Die Hasterei durch die Gänge und Höfe war mehr als anstrengend gewesen. Da brauchte er sich nicht zu wundern, wenn sich die Genesung hinauszögerte. Allerdings waren die Geschehnisse des Tages so aufregend gewesen, dass er den Fuß überhaupt nicht gespürt hatte. Erst auf dem Weg über die Gänseweide hierher hatte sich der Schmerz im Gelenk zurückgemeldet, und nun bereute er es, dass er nicht mit dem Wagen gekommen war. Wieder trat eine Gruppe von Musikern auf die Straße. Man verabschiedete sich, und zwei Gestalten huschten an ihm vorbei in Richtung Drehbahn, wo sie wahrscheinlich noch bei Sagebiels oder in einer der anderen zahlreichen Localitäten zwischen Drehbahn und Gänsemarkt einkehren wollten.

Auf einmal herrschte überraschend viel Verkehr auf der Straße. Ungewöhnlich viele Leute, Fußgänger, teils in kleineren und größeren Gruppen, schwenkten in die Große Theaterstraße ein, sodass Sören für einen Moment die Sicht auf den Bühneneingang versperrt wurde. In diesem Moment musste sie aus dem Haus gekommen sein. Zuerst hatte Sören gedacht, er hätte sich getäuscht, aber das Gesicht der jungen Frau gehörte eindeutig Mathilda Eschenbach. Sie stand etwa zwanzig Meter von ihm entfernt und unterhielt sich mit einem groß gewachsenen Mann, der genau wie sie einen Instrumentenkoffer unter dem Arm trug. Beide blickten in Richtung Fehlandstraße. Sie konnten ihn nicht sehen.

Sören wollte schon ihren Namen rufen, da durchzuckte es ihn, als wäre er vom Blitz getroffen worden. Der Mann hatte kurz den Arm um Fräulein Eschenbachs Schulter gelegt, dann hakte sie sich bei ihm ein, und gemeinsam schritten sie Richtung Colonnaden. Sörens Herz schlug ihm bis zum Hals. Ob aus Überraschung oder Enttäuschung, vermochte er in diesem Moment nicht zu sagen. Für einen Augenblick verharrte er, dann setzte er sich in Bewegung und folgte den beiden.

Wider Erwarten schwenkten die beiden aber nicht in die Colonnaden ein, wo Fräulein Eschenbachs Wohnung lag, sondern hielten auf ein großes Gebäude zu, das an der Ecke zur Fehlandtstraße stand. Erst jetzt bemerkte Sören, dass die Mehrzahl der Passanten auf der Straße es ihnen gleichtat. Einige hatten sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden, man stand vor dem Gebäude und unterhielt sich angeregt, andere gingen geradewegs zum Eingang, der hinter einer seitlich gelegenen Hofeinfahrt lag. Viele der Leute waren einfache Arbeiter, wie Sören aufgrund der Kleidung und der Kopfbedeckungen erkennen konnte. Er überlegte einen Moment, dann siegte die Neugier, und er reihte sich in die kleine Schlange der Wartenden ein, die sich vor dem Eingang gebildet hatte.

«Parteibuch oder Gewerkschaftsausweis!» Der Mann am Eingang sah zwar nicht wie ein Wachposten aus, aber seine Körpersprache ließ keinen Zweifel an seiner Aufgabe aufkommen. Er stellte sich Sören in den Weg und hielt ihn mit einer von Druckerfarbe geschwärzten Hand auf Abstand.

Sören trat automatisch einen Schritt zurück. «Ich wusste nicht …»

«Lass gut sein, Gabriel.» Der Mann hinter Sören signalisierte dem Hünen am Eingang, Sören durchzulassen. «Das ist doch der Bischop! Den kenn ich!»

Der Mann zögerte einen Augenblick und musterte Sören kritisch, gab aber schließlich den Weg frei. Nachdem sie ein mit weißen Kacheln verkleidetes Treppenhaus durchschritten hatten, wandte sich Sören zu dem Mann um, der für ihn gebürgt hatte. «Woher wissen Sie …»

Der Mann lächelte ihn freundlich an. «Du hast meinem Bruder mal aus der Patsche geholfen. Lothar Gering. Erinnerst du dich nicht?»

«Doch, natürlich.» Sören nickte, auch wenn er sich in diesem Moment an keinen Lothar Gering erinnerte. «Vielen Dank nochmals. Ich wusste nicht, dass hier nur Parteimitglieder Zutritt haben.»

«Genossen und Gleichgesinnte», antwortete der Mann. Er blieb Sören gegenüber bei der vertraulichen Anrede. «Bist du wegen Frohme und Stolten hier, oder interessieren dich die neuesten Nachrichten aus Berlin? Dietz hat sich für heute Abend ja auch angekündigt.»

Langsam begriff Sören, wo er hier gelandet war. Zuerst hatte er geglaubt, es handele sich um irgendein geheimes Treffen, aber die Namen Stolten und Dietz waren ihm natürlich ein Begriff. Beide gehörten zu den führenden Köpfen der Hamburger Sozialdemokraten, deren Parteizentrale hier ganz in der Nähe lag. Schon sein Vater hatte die Artikel, die Otto Stolten früher in der «Bürgerzeitung» geschrieben hatte, immer vortrefflich gefunden. Genau wie die «Gerichtszeitung» war das Blatt dann während der Sozialistengesetze verboten worden. Seit fünf Jahren hatte das «Hamburger Echo» dann die Funktion der Arbeiterbildung übernommen, und Stolten war Chefredakteur dieses sozialdemokratischen Blattes. Seine politischen Kommentare hatten nichts von ihrer Bissigkeit eingebüßt.

Über eine breite eiserne Treppe betraten sie einen Raum von hallenartigen Ausmaßen, und nachdem sich Sören umgeschaut hatte, war ihm auch klar, wo er sich befand. Dies musste das neue Gebäude des Druckhauses von Auer & Co. sein, wie sich die ehemalige Genossenschaftsbuchdruckerei zu Hamburg seit einigen Jahren nannte. Wo er auch hinblickte, standen Druckpressen, moderne Rotationsmaschinen und ganze Batterien von Papierrollen. Ursprünglich hatte die Druckerei ihren Standort an der Amelungstraße gehabt. Das alles erklärte natürlich auch die Anwesenheit von Heinrich Dietz, der die Druckerei während der Sozialistengesetze als Privatdruckerei geführt hatte, da man Privatbesitz nicht so leicht hatte beschlagnahmen können wie Parteieigentum. Ein geschickter Schachzug, er passte zu Dietz, der den zweiten Hamburger Wahlkreis für die Partei gewonnen hatte und die Stadt als sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichstag vertrat.

Es mochten ungefähr hundert, vielleicht sogar zweihundert Personen im Raum sein. In der Mehrzahl Männer. Sören suchte die Reihen nach Fräulein Eschenbach ab, konnte sie aber nirgends entdecken. Was hatte sie hier nur zu suchen? Und wer war der Mann, in dessen Begleitung sie gekommen war? Sören nahm auf einer der Stufen, die zu einer seitlichen Galerie hinaufführten, Platz und beobachtete das Geschehen. Die Halle füllte sich zusehends, und nach etwa zwanzig Minuten gab es keine Sitzgelegenheiten mehr, sodass sich die Leute auf dem Fußboden niederlassen oder stehen mussten. Nachdem die eisernen Türen zur Halle geschlossen worden waren, stieg ein Sören nicht bekannter Mann auf den hohen Gittersteg einer der Druckmaschinen und begrüßte alle Anwesenden. Schlagartig kehrte Ruhe ein. Dann begrüßte man den Genossen Frohme, einen Sozialdemokraten aus Schleswig-Holstein, der extra für den heutigen Abend in die Stadt gekommen war. Tosender Applaus setzte ein. Der einführende Redner bat alle Anwesenden, soweit das möglich war, bis zum Schluss der Veranstaltung zu bleiben, da es am Ende noch zu einer Abstimmung kommen sollte. Dann übergab er das Wort an Karl Frohme.

Sören war freilich nur halb bei der Sache. Irgendwo musste Fräulein Eschenbach doch stecken. Soweit er es mitbekam, ging es bei Frohmes Rede vor allem um den Missstand, dass immer noch kein Sozialdemokrat in der Hamburger Bürgerschaft vertreten war, obwohl inzwischen alle drei Reichstagssitze der Stadt mit Abgeordneten aus den Reihen der Sozialdemokraten besetzt waren. Des Weiteren wurde von Frohme auch die seiner Meinung nach undemokratische Zusammensetzung des Hamburger Senats angeprangert, woraufhin es zu lautstarken Zwischenrufen kam.

Der Mann, der neben Sören auf den Stufen saß, packte eine Butterstulle aus und zog eine Flasche Bier aus einem Leinenbeutel, während er irgendetwas vor sich hin brummelte. Als Sören sich umblickte, konnte er erkennen, dass viele es dem Mann gleichtaten. Wahrscheinlich war man direkt von der Arbeit hierher gekommen und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, etwas zu essen. Niemand der Anwesenden schien daran Anstoß zu nehmen. Als der Mann ihm die Flasche anbot, lehnte Sören freundlich dankend ab.

Auf Karl Frohmes Rede folgte abermals lang anhaltender Beifall. Danach breitete sich Unruhe im Raum aus. Wie es den Anschein hatte, gab es zwischen mehreren Anwesenden Meinungsverschiedenheiten, die lautstark diskutiert wurden, bis der vormalige Redner sich wieder auf den hohen Gittersteg schwang und erklärte, dass Dietz wohl nicht mehr kommen werde, da er in Berlin aufgehalten worden sei. Er verlas eine kurze telegraphische Nachricht, in der Dietz alle Genossen grüßte und versprach, dass er die nächste Gelegenheit wahrnehmen würde, um in die Stadt zu kommen. Einige Anwesende taten ihre Enttäuschung mit lauten Zwischenrufen kund, andere machten Anstalten, den Raum zu verlassen. Der Sprecher forderte die Leute mehrfach auf, doch zu bleiben, da man sich noch ein Meinungsbild verschaffen wolle, wie groß die Streikbereitschaft innerhalb der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft sei, und erneut breitete sich Unruhe aus. Schließlich ergriff ein älterer Mann das Wort und erklärte, dass mindestens fünf Vorarbeiter anwesend wären, von denen er persönlich wüsste, dass sie in keiner Gewerkschaft wären. Er deutete auf einen gedrungenen Kerl, den er Eddie nannte, und forderte ihn auf, dazu Stellung zu nehmen. Von einigen Pfiffen und Buhrufen begleitet, erhob sich der Angesprochene widerwillig und erklärte, er könne nur für die Hafenarbeiter auf Steinwärder sprechen. Dort gebe es seiner Meinung nach zurzeit keinen wirklichen Zusammenhalt, was wohl vor allem daran läge, dass man bei den mehr als dreißig Ausständen während der letzten vier Jahre kaum wirkliche Erfolge hätte verbuchen können. Ein Zwischenrufer erinnerte daran, dass der letzte größere Streik im Hafen mehr als ein Jahr zurücklag und dass einige Forderungen sehr wohl durchgesetzt worden seien. Ein weiterer Anwesender bestritt das, woraufhin von neuem tumultartiger Lärm ausbrach. Alles redete durcheinander, bis erneut jemand das Wort ergriff und an den Streik der Gasarbeiter vor zwei Jahren erinnerte. Damals hatte man zwar viele Forderungen durchsetzen können, aber mit der späteren Übernahme des Betriebes durch die Stadt wären dann ganz andere Rahmenbedingungen geschaffen worden, weshalb die erkämpften Vorteile fast wertlos geworden seien. Gegenstimmen wurden laut. Als jemand meinte, die Situation der Arbeiter in der Gasanstalt habe sich seither gebessert, folgte ein regelrechtes Pfeifkonzert.

Einigkeit schien zwischen allen Anwesenden nur darüber zu herrschen, dass man sich gegenüber der Bildung weiterer Zusammenschlüsse einzelner Betriebe kampfbereit zeigen müsse. Vor allem bei einigen Hafenbetrieben, vorwiegend Reedereien und Werften, sei es in letzter Zeit zu mächtigen Zusammenschlüssen gekommen, und die Rechte der Arbeitnehmer müssten gegenüber diesen Kartellen mit allen Mitteln verteidigt werden.

Als jemand lauthals eine Abstimmung forderte, entdeckte Sören neben dem Rufer endlich Fräulein Eschenbach. Sie saß hinter einer der großen Maschinen am anderen Ende der Halle. Ihre schmächtige Figur war zwischen den kräftigen Arbeitern um sie herum kaum zu erkennen. Auf der anderen Seite neben ihr saß der Mann, mit dem sie gekommen war. Beide hatten ihre Instrumentenkoffer zwischen die Knie geklemmt und verfolgten aufmerksam die Debatte, aber wie es aussah, hatte auch sie ihn in diesem Moment gesehen. Als sich Sören dessen bewusst wurde, versuchte er zuerst, sein Gesicht zu verbergen. Plötzlich war es ihm unangenehm, dass er ihr hinterhergeschnüffelt hatte, aber für den Bruchteil einer Sekunde hatten sich ihre Blicke bereits getroffen, und sie schien keineswegs erbost über seine Anwesenheit zu sein. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war sie vielmehr erstaunt. Für einen Augenblick verharrte sie mit offenem Mund, dann winkte sie ihm lächelnd zu und machte auch ihre Begleitung auf Sören aufmerksam. Den weiteren Verlauf der Veranstaltung bekam Sören so gut wie nicht mehr mit. Fräulein Eschenbach schien es ebenso zu gehen. Zumindest blickte sie fortwährend in seine Richtung.

Während Sören am Ausgang auf sie wartete, überlegte er krampfhaft, wie er seine Anwesenheit bei dieser Veranstaltung begründen konnte, aber eine plausible Erklärung fiel ihm nicht ein. Vielleicht ging es ihr genauso. Er nahm sich vor, sie nicht danach zu fragen.

Fräulein Eschenbach steuerte geradewegs auf ihn zu; immer noch in Begleitung des Mannes, mit dem sie gekommen war. «Alles hätte ich erwartet …» Sie blickte Sören direkt in die Augen. «Mir fällt ein Stein vom Herzen.» Um ihre Mundwinkel zeichneten sich zwei lustige Grübchen ab, die Sören zuvor noch nicht aufgefallen waren. Es gab anscheinend so einiges an ihr, was er bislang übersehen hatte. «Wie hätte ich es dir sagen sollen?»

Sören zuckte zusammen. Es war das erste Mal, dass sie ihn geduzt hatte. Ihre Stimme war sanft wie immer, und in diesem Moment breitete sich in seinem Körper wieder dieses warme Gefühl aus. Aber da war dieser Mann, der immer noch bei ihr stand. Was sollte er sagen? Mehr als ein verlegenes Grinsen bekam er nicht über die Lippen.

«Ich hatte Angst davor. Wie dumm von mir.» Sie lachte. «Wie sollte ich denn wissen, dass du auch …»

«Ciao, Tilda», unterbrach sie ihr Begleiter, fasste sie am Arm und gab ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Stirn. «Wie du weißt, ich habe morgen früh wichtige Termin», sagte er mit stark ausländischem Akzent und nickte Sören flüchtig zu. «Buona notte.»

«Bis morgen Abend, Tonio», erwiderte sie und wartete einen Augenblick, bis er um die Ecke gebogen war. «Antonio Rivera», klärte sie Sören auf. «Ein Kollege von mir. Er stammt aus Italien. Wir kennen uns schon aus Berlin. Ein lieber Kerl …» Sie blickte erwartungsvoll zu ihm hoch.

«Was machen wir jetzt?», fragte Sören. Er überlegte, ob er ihr von seinem ursprünglichen Vorhaben berichten sollte, aber in dieser Situation erschien es ihm besser zu schweigen, denn seine Anwesenheit bei dieser Veranstaltung hatte auf einmal ein ganz anderes Gewicht bekommen.

«Wie unter Genossen üblich, wirst du mich ab sofort bei meinem Vornamen nennen.» Sie lächelte ihn an. «Begleitest du mich noch das Stück nach Hause?»

 

Wie selbstverständlich hatte sich Mathilda bei ihm eingehakt, und Sören war es sogar so vorgekommen, als hätte sie sich ein wenig an ihn geschmiegt, während sie die Colonnaden entlanggeschritten waren. Es musste bereits nach Mitternacht sein, aber die Luft war immer noch warm. «Es ist spät geworden», sagte Sören, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten.

Mathilda kramte ihren Haustürschlüssel hervor. «Wenn du mit nach oben kommst, kann ich uns noch einen Kaffee aufsetzen», antwortete sie, während sie die Haustür aufschloss.

Das war weit mehr, als Sören erwartet hatte. Es gab so viele offene Fragen.

Mathildas Wohnung lag im Dachgeschoss. Wie auf Samtpfoten waren sie die vier Treppen nach oben geschlichen, und auch als Mathilda die Wohnungstür geschlossen hatte, wagte Sören nur zu flüstern. Herrenbesuch war für eine allein stehende Dame immer ein riskantes Unterfangen – zumal um diese Uhrzeit. Da kam man schnell in Verruf. Aber Mathilda Eschenbach war eine Künstlerin, und die hatten bekanntermaßen lockere Sitten. Sie hatte sich ja sogar von ihrem Kollegen in aller Öffentlichkeit zum Abschied küssen lassen. Was, wenn ein Nachbar sie durch das Guckloch einer Wohnungstür gesehen hatte? Sören hatte auf der Straße nicht darauf geachtet, ob hinter einem der Fenster im Haus noch Licht gebrannt hatte. Allerdings konnte man davon ausgehen, dass jeder halbwegs gesittete Bewohner um diese Uhrzeit schlief. Sören musste über seine eigenen Gedanken schmunzeln. Bislang hätte er sich auch als gesittet bezeichnet.

«Du brauchst nicht zu flüstern», meinte Mathilda, während sie ihre Jacke an einen schmiedeeisernen Garderobenhaken hängte. «Die Wohnung unter mir steht derzeit leer, und gegenüber wohnt eine alte Dame. Sie ist fast taub. Wahrscheinlich könnte ich hier oben sogar meine Partituren üben, aber das habe ich mich bislang noch nicht getraut. Also verlege ich das Üben immer auf die Räume des Conservatoriums, wo ich auch unterrichte.»

«Ich wäre niemals darauf gekommen, dass … dass du …» Sören tat sich immer noch schwer damit, sie zu duzen. Alles war so schnell gegangen, so plötzlich.

«Dass ich was?», entgegnete Mathilda. «Eine Sozialdemokratin bin?»

Sören nickte verlegen.

Mathilda lächelte ihn an. «Ich höre es nicht zum ersten Mal, dass man mir so etwas nicht zugetraut hätte. Viele waren wie vor den Kopf gestoßen, und manche distanzierten sich dann sehr schnell von mir. Vielleicht hatte ich wegen dieser Erfahrungen auch Angst, mit dir darüber zu sprechen. Angst, dass du kein Verständnis dafür haben könntest, wenn sich eine Frau politisch engagiert–  und dann noch für die Sozialisten. Wie dumm von mir.»

«Wie bist du dazu gekommen?», fragte Sören interessiert.

«Dazu kommt man nicht», erklärte sie. «Ich glaube, man trägt es in sich. Es ist nur eine Frage, ob man es wagt, zu seinem Gefühl zu stehen. Es gibt so viele Ungerechtigkeiten, so viele Missstände, die es zu ändern gilt. Und die Rolle der Frau in der Gesellschaft betrifft das ganz besonders.» Sie deutete auf ein schmales Sofa in der Ecke des Zimmers, entzündete die Gaslampe an der Decke und zog die Vorhänge zu. «Setz dich doch. Ich mache uns schnell einen Kaffee.»

Während Mathilda in der Küche hantierte, schaute sich Sören neugierig in der Wohnung um. Die zwei kleinen Zimmer waren spärlich möbliert. Auffallend waren nur die vielen Bücher, die auf einfachen Stellagen an den Wänden gestapelt standen. Sören überflog die Buchrücken und staunte. Es waren vor allem Titel, die noch vor wenigen Jahren auf dem Index der staatlichen Zensur gestanden hatten. Sören entdeckte verschiedene Werke von Friedrich Engels, Feuerbach und Eugen Dühring, Abhandlungen von Karl Marx über den Materialismus und die Proletarische Revolution sowie andere Autoren, die er dem Namen nach kannte, aber selbst nie gelesen hatte. Mit Hegel und Kant hätte er dienen können, aber diese Philosophen waren nur Deuter – die Mehrzahl der hier vertretenen Autoren forderte hingegen eine radikale Veränderung der Gesellschaft, so viel war ihm bekannt.

«Nicht dass du glaubst, das seien alles meine.» Mathilda war hereingekommen und stellte zwei Kaffeebecher auf den Tisch vor der Couch. Dann kam sie zu Sören. «Ein großer Teil davon gehört Tonio», erklärte sie. «Ich verwahre sie für ihn, da er zur Untermiete wohnt. Besser, wenn niemand sieht, was er liest.»

«Woher kennst du ihn?», fragte Sören und nahm auf dem Sofa Platz.

«Seine Frau hat mich damals für die ‹Rote Post› angeheuert. So nannten wir während der illegalen Zeit den Schmuggel von Manuskripten und verbotenen Satzvorlagen zwischen Berlin und der Schweiz, wo die Bücher gedruckt wurden», erklärte sie, nachdem Sören unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hatte, dass ihm der Begriff nicht bekannt war. Mathilda grinste spitzbübisch. «Als Musiker reist man unauffällig. Da kommt kein Verdacht auf. Ich habe damals sämtliche Druckvorlagen der Manuskripte von August Bebel in die Schweiz gebracht.»

Sören war ein Stein vom Herzen gefallen, als Mathilda erwähnt hatte, dass Antonio Rivera verheiratet war. So vertraut, wie sie miteinander umgegangen waren, hatte er im Stillen schon vermutet, die beiden könnten möglicherweise ein Paar sein. Erst jetzt fiel ihm auf, wie schwer ihn diese Vorstellung belastet hatte. Am liebsten wäre er Mathilda vor Erleichterung um den Hals gefallen.

«Und du?», fragte Mathilda. «Erzähl von dir.»

Sören zögerte, denn womit hätte er aufwarten können? Er war weder Parteimitglied noch bekennender Sozialdemokrat. Natürlich hielt er viele Denkansätze der Sozialisten prinzipiell für richtig, und was die Rolle der Frau in der Gesellschaft betraf, waren seiner Meinung nach tatsächlich große Veränderungen vonnöten. Er selbst war ja in einem Haushalt aufgewachsen, in dem man sehr liberal miteinander umgegangen war, auch wenn natürlich keine völlige Gleichberechtigung zwischen seinen Eltern geherrscht hatte. Sein Vater hatte ihm gegenüber einmal erwähnt, dass seine Mutter als junge Frau sogar Hosen getragen hätte – nicht in der Öffentlichkeit, sondern natürlich nur im Haus des Großvaters, wie Hendrik Bischop damals mit einem Schmunzeln hinzugefügt hatte. Sören beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben. Er erzählte von seinen Mandaten und dass ein Großteil seiner Klientel aus der Arbeiterschaft stammte. Er erzählte von dem, was er die letzten zwei Tage über gesehen hatte, vom Elend und von den Zuständen im Haus am Borstelmannsweg, von seinem Besuch bei Hannes Zinken sowie vom Verdacht, dass sich gerade jetzt möglicherweise die Cholera in der Stadt ausbreitete. So vergingen die Stunden, und als Sören irgendwann auf seine Uhr schaute, war es bereits drei Uhr in der Frühe.

Mobiler Desinfektionstrupp der Hamburger Desinfektionsanstalt vor dem Holstenthor.

Die Arbeit in den Desinfektionskolonnen wurde mit einer täglichen Portion Schnaps entlohnt. Vor allem Arbeitslose und Vorbestrafte meldeten sich für diese Arbeit. Die Zahl der angezeigten Eigentumsdelikte durch Mitarbeiter der Desinfektion stieg daraufhin rapide an.

Mitarbeiter der mobilen Desinfektionskolonne auf dem Hof der Desinfektionsanstalt vor dem Holstenthor, Fotografien 1892.

Krankenkutsche des Hamburger Sanitätsdienstes (Stadtambulanz). Der Sanitätstrupp der Hamburger Polizei bestand Anfang August 1892 aus lediglich sechs Sanitätern.

Krankenträger der Stadtambulanz vor einem Vierlieger. Die Anzahl der Krankenwagen wurde im Laufe des Jahres 1892 von ursprünglich 8 auf 30 erhöht. Fotografien nach 1892.

Die später so genannten Cholera-Baracken. Krankenpavillons auf dem Gelände des Allgemeinen Krankenhauses Eppendorf (heute Universitätsklinik Eppendorf), Fotografie 1892.

Feldlazarett mit 500 Betten. Die städtischen Krankenhäuser verfügten 1892 über 3800 Betten. Am 27. August wurden erste Notlazarette in Schulen eingerichtet. Einen Tag später forderte der Senat beim preußischen Heer mehrere Feldlazarette an. Fotografie 1892.

Station Erika auf dem Gelände der heutigen Universitätsklinik Eppendorf. So benannt wegen der Zufahrt über die Erikastraße.

Fotografie nach 1892.

Krankenlager und Patientenversorgung in den Pavillons des Eppendorfer Krankenhauses. Szenen nachgestellt. Fotografien nach 1892.

Der Grund allen Übels? Die Filterbecken und Filtrieranlagen der Stadtwasserkunst Kalte Hofe. Während der Epidemie im Bau. Fertigstellung erst 1893. Fotografien 1892.

Wasserausgabestelle am Messberg. Während der Epidemie wurde die innerstädtische Bevölkerung über 68 Wasserwagen und 43 stationäre Stellen mit abgekochtem Wasser versorgt. Fotografie 1892.

 

«Erwartet dich jemand?», fragte Mathilda, als Sören Anstalten machte aufzubrechen.

Für einen Moment war Sören völlig konsterniert, bis er verstand, worauf diese Frage abzielte. «Nein», meinte er schließlich. «Habe ich das noch nicht erwähnt, Mathilda?»

«Bislang noch nicht.» Sie schüttelte den Kopf. «Und ich habe mich nicht getraut, danach zu fragen.» Sie deutete auf das große Kanapee, das man durch die geöffnete Schiebetür im anderen Zimmer sehen konnte. «Es ist nicht viel Platz.» Sie strich sich nervös durch die Haare und blickte verlegen zu Boden. «Aber du wirst um diese Uhrzeit keine Droschke finden, und mit deinem Fuß … der weite Weg … Ach, was rede ich. Ich möchte nicht, dass du jetzt gehst.» Mathilda blickte Sören in die Augen, während sie ihre Bluse und ihr Unterhemd abstreifte und mit ein paar raschen Handgriffen ihren Rock öffnete. «Ich möchte, dass du mich Tilda nennst.»

Sören beobachtete, wie der Stoff von Mathildas Hüften zu Boden glitt, dann hob er den Blick und starrte wie gebannt auf ihren nackten Körper. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.

«Willst du mich nicht?», fragte sie leise, als er sich nicht rührte.

Sören blickte an sich herab. Es war nicht zu übersehen, dass er erregt war. Seine Hände griffen in ihr Haar. Dann zog er sie zu sich heran und musste lachen, weil er merkte, dass er Tränen des Glücks in den Augen hatte. «Natürlich will ich dich.»