Zwei Wochen später
Wie geht es David?», fragte Sören, wie er es jeden Abend tat, wenn er aus der Kanzlei nach Hause kam.
«Besser», antwortete Mathilda und gab ihm einen Begrüßungskuss. «Er hat heute beinahe den ganzen Tag über geschlafen, aber die Schmerzen sind fast fort.»
«Sehr gut», antwortete Sören und hängte den Rock an die Garderobe.
«Hannes Zinken war heute hier.»
«Wirklich?», fragte Sören erstaunt.
«Ja. Für eine kurze Visite, so hat er sich ausgedrückt. Er war richtig fein herausgeputzt. David war gar nicht begeistert, weil er natürlich glaubt, dass er demnächst zurück zu ihm ins Viertel muss.»
«Und?»
«Hannes Zinken meinte zu mir, er habe sich die Sache durch den Kopf gehen lassen. Er findet deinen Vorschlag, dass David erst einmal hier bleiben kann, wenn er will, sehr gut. Wir müssten ihn dann aber auch zur Schule schicken.»
Sören lächelte. «Der alte Schlawiner. Dachte ich mir doch, dass er einverstanden ist. Hat er noch etwas zu dem Toten am Hafen gesagt?»
«Nein, kein Wort. Was gibt es bei dir Neues?»
«Sie haben die Bartels gefasst. Hartmann hat mich heute Vormittag verständigt. Sie schweigt beharrlich zu allen Vorwürfen, genau wie dieser Ratte. Aber das wird sich ändern, wenn man erst mal Anklage gegen sie erhoben hat. Sonst dreht sich natürlich alles um die Cholera. Seit die Stadt unter Quarantäne steht, ist nicht nur der Handel zum Stillstand gekommen. Auch in der Kanzlei war es sehr ruhig heute. Man hat übrigens alle öffentlichen Einrichtungen vorübergehend geschlossen. In vielen Schulen werden Notlazarette eingerichtet, und es soll auch bis auf weiteres keine Konzerte mehr im Stadttheater geben. Du wirst also fürs Erste nicht vermisst.» Sören strich ihr liebevoll durchs Haar. «Du solltest, wenn es sich vermeiden lässt, das Haus sowieso nicht verlassen. Das Desinfektionsprogramm, das man auf Anraten Robert Kochs beschlossen hat, läuft jetzt langsam an. Die ganze Stadt stinkt nach Chlorkalk. Desinfektionskolonnen, wohin man schaut. In den Gängevierteln ist alles voller Ratten, alle aus den Häusern und Kellern geflüchtet. Unglaublich, wie viele es sind. Dafür sieht man kaum Menschen. Viele Straßen wirken fast verlassen. Niemand traut sich hinaus. Nur vor den Apotheken stehen lange Schlangen.»
«Was ist mit Marten Steen? Hast du etwas erreichen können?»
«Ich hatte heute Mittag ein ausführliches Gespräch mit Senator Versmann – unter vier Augen. Wie es aussieht, wird man die ganze Angelegenheit verschleiern wollen. Und einen privaten Besuch des Kaisers in Hamburg hat es natürlich nie gegeben.»
«Unglaublich.»
«In der Tat. Aber ich habe Versmann eindringlich gebeten, er möge Staatsanwalt Romen doch nahe legen, die Anklage gegen Marten Steen fallen zu lassen. Sollte das nicht geschehen, würde ich die Verteidigung übernehmen und ich könne nicht garantieren, dass bei dem Prozess nicht einige überaus heikle Details zur Sprache kämen.»
«Ich habe weiterhin angedeutet, dass ich einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem geplanten Attentat und der Verzögerungstaktik einiger Senatoren vermute, den Ausbruch der asiatischen Cholera in der Stadt nach Berlin zu melden, denn andernfalls wäre der Kaiser bestimmt nicht in die Stadt gekommen. Du kannst dir vorstellen, dass Versmann ziemlich erschrocken war, als ich ihm von dem Gespräch zwischen Hachmann und Kraus erzählte.» Sören grinste. «Heute ist im Senat übrigens das erste Mal der Rücktritt des Medicinalrates gefordert worden. Wie Versmann mir sagte, versucht Hachmann zwar, Kraus zu decken, aber Bürgermeister Mönckeberg hat ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass man das Versagen der städtischen Medicinalpolitik gegenüber Berlin wohl kaum entschuldigen könne. Nachdem Versmann über die Hintergründe im Bilde war, versprach er mir sofort, Mönckeberg zukünftig in der Sache zu unterstützen. Alles in allem kann man also davon ausgehen, dass Marten Steen wohl in den nächsten Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Er hat sich ja auch nicht wirklich etwas zuschulden kommen lassen. Tja, und an besagtem Abend waren so viele einflussreiche Bürger mit Rang und Namen unter den Anwesenden der denkwürdigen Festivität, dass niemand daran Interesse haben wird, die Geschichte an die große Glocke zu hängen. Wenn ich die ehrbaren Herren als Zeugen vor Gericht laden würde, wäre es natürlich nicht vermeidbar, dass Sinn und Zweck der kleinen Veranstaltung genauer hinterfragt würden. Soweit mir inzwischen bekannt ist, finden solche Amüsements in diesem Haus nämlich in schöner Regelmäßigkeit statt.»
«Könntest du dich denn mit einem solchen Verlauf arrangieren?»
«Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben. Wie ich inzwischen herausgefunden habe, stand übrigens auch Senator von Wesselhöft auf der ursprünglichen Gästeliste. Wahrscheinlich hat er das Attentat auf Kaiser Wilhelm sogar mit Smitten zusammen geplant.»
«Meinst du, es war Smittens Idee, den Kaiser zu ermorden?»
Sören wiegte unschlüssig den Kopf hin und her. «Zumindest hat er eine zentrale Rolle bei der Durchführung gespielt. Aber ganz alleine kann er das nicht ausgeheckt haben. Dass Senator von Wesselhöft mit im Boot saß, steht für mich so gut wie fest. Beide sind auf Empfehlung derselben Person eingeladen gewesen. Außerdem fällt von Wesselhöft als Senator eine entscheidende Rolle bei der Vertuschung und Verschleierung der Cholera in der Stadt zu. Dies Verhalten würde auch zu meiner Vermutung passen, dass es da einen Zusammenhang gibt.»
«Dann müssten doch auch andere Senatoren …»
«Wer noch dahinter steckt, wird wohl nicht mehr in Erfahrung zu bringen sein, aber so ganz abwegig ist diese Vorstellung nicht.»
Mathilda sah Sören an. «Aber warum nur? Aus welchem Grund?»
«Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, aus dem man auch bereit war, das Leben Tausender Menschen aufs Spiel zu setzen, nur um einer drohenden Quarantäne vorzubeugen. Die wirtschaftlichen Interessen der Kaufleute haben diese Stadt schon immer regiert, Mathilda. Und diese Interessen sind sehr vielschichtig. Ich kann mir durchaus denken, dass es so eine Art Verschwörung gegeben hat. Die politischen Bestrebungen Wilhelms laufen nicht unbedingt konform mit den liberalen Handelsvorstellungen hanseatischer Kaufleute. Die Politik der Schutzzölle lässt sich mit der Idee des weltweiten freien Handels nun mal nicht vereinbaren. Smitten war schließlich Reeder. Er handelte vorwiegend mit Waren aus Übersee. Seit Jahren schon hört man nicht nur von diesen Kaufleuten den Ruf nach einer konsequenteren Kolonialpolitik. Man fordert vom Staat eine Flotte, welche die Handelsschiffe auf den Weltmeeren beschützt. Aber Berlin unternimmt nichts. Also kreiden einige Leute diesen Mangel der Reichsführung an. Dass Wilhelm die Sozialistengesetze aufgehoben hat, schmeckt diesen Kreisen auch nicht. Mit Marten Steen sollte der Verdacht auf die Sozialdemokraten fallen. Bestimmt wäre auch noch ein gefälschtes Bekennerschreiben aufgetaucht, das den Verdacht auf die Partei gelenkt hätte.» Sören holte tief Luft. «Wer auch immer sich das Ganze ausgedacht hat, es war raffiniert eingefädelt.»
«Die Bartels wird ins Zuchthaus wandern?», fragte Mathilda, deren Interesse an politischen Erörterungen offenbar fürs Erste gestillt war.
Sören nickte. «Und gegen Ratte wird man Anklage wegen Mordes an Willy Mader erheben. Alle anderen Verantwortlichen sind tot, der Gerechtigkeit ist also halbwegs Genüge getan. Aber nach Feiern ist mir trotzdem nicht zumute. Die Sache hat einen bitteren Beigeschmack.»
«Und was geschieht mit Altena Weissgerber?»
«Ich hatte neulich eine lange Unterhaltung mit Johanna von Wesselhöft. Sie denkt darüber nach, eine barmherzige Stiftung ins Leben zu rufen, die sich um Kostkinder und gefallene Mädchen kümmern wird. Außerdem ist sie einverstanden, Altena Weissgerber rechtmäßig als Tochter anzuerkennen.»
«Altena weiß also inzwischen, wer sie in Wirklichkeit ist?»
Sören lächelte. «Nicht ganz. Wir haben uns darauf geeinigt, dass Johanna von Wesselhöft sie als Kind einer illegitimen Beziehung ihres verstorbenen Gatten aufnimmt. Ich glaube, mit dieser kleinen Lüge ist allen am meisten geholfen. Altena will Marten Steen übrigens noch im Laufe des Jahres heiraten.»
«Das ist zumindest mal eine schöne Nachricht.»
«Ich würde es übrigens auch gerne», murmelte Sören und bekam einen roten Kopf.
«Was würdest du gerne?»
«Heiraten.»
«Wie bitte?»
«Das ist ein Antrag, Tilda.» Er lächelte verlegen. «Mathilda, ich möchte dich bitten, meine Frau zu werden. Ich hatte längst vor, dir das zu sagen, aber irgendwie ist immer etwas dazwischengekommen. Du kannst natürlich weiterarbeiten, wenn du willst. Ich meine, als Musikerin im Orchester und natürlich auch am Conservatorium, wenn du möchtest … Ich meine, wenn es dir recht ist. Also, du musst dich ja nicht jetzt sofort entscheiden, ich wollte nur …»
Weiter kam er nicht, da Mathilda seinen Mund mit ihren Lippen verschloss.
«Du musst mir auch Gelegenheit geben, auf deinen Antrag antworten zu können», sagte sie, nachdem sie sich nach beträchtlicher Zeit wieder voneinander gelöst hatten. «Da brauche ich nicht lange drüber nachzudenken.» Sie wischte sich eine Träne der Rührung aus den Augen. «Ja, ich nehme dich sofort.»