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I

m Allerheiligsten krochen die Minuten im Schneckentempo dahin. Wenn Azziz nicht gerade die gepanzerte Tür anstarrte, als könne er durch sie hindurchsehen, blickte er auf seine Uhr. Er stellte sich vor, wie sein Bruder durch das Gewirr aus Gängen und Umkleidekabinen unten im Badehaus schlich. Wenn sich da irgendwo in der Dunkelheit Juden versteckt hatten, würde Aown sie wittern. Er würde eine Handgranate in den Raum werfen, wo er sie vermutete, dann durch ein Fenster in den Hof springen und durch die dunklen Gassen entkommen.

Und noch immer war von unten kein Geräusch zu vernehmen. »Er ist jetzt acht Minuten weg«, verkündete Azziz schließlich.

Petra senkte den Revolver. »Wenn Isra’ilis im Gebäude wären«, sagte sie mit leiser Stimme, »hätte Aown sie längst aufgespürt.«

»Ich hab ja gesagt, er redet wirres Zeug«, beteuerte Sweeney von seinem Stuhl aus.

»Es gehören immer zwei dazu«, nörgelte der Rabbi, der seine Perlenschnur bearbeitet. »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass ein Teufelskreis nur möglich ist, wenn beide Seiten ihren Teil dazu beitragen.«

»Isaac, was genau hat der Journalist zu Ihnen gesagt?«, fragte der Doktor.

Der Rabbi richtete die vorquellenden Augen auf die einsame Glühbirne an der Decke und lutschte an einer Perle an seiner Schnur. Dann erwiderte er: »Wir haben uns auf dem Niemandsland Englisch getroffen. Er hat gesagt, der Lautsprecherwagen war ein Signal. Er hat gesagt, die Befreiungsaktion hat begonnen. Ich habe ihn gefragt, wie die Isra’ilis mich denn gefunden haben sollten. Er hat gesagt, sie hätten ihn gefunden. Unter denen Bä-che fließen, lalala.«

Sweeney rutschte nervös hin und her. »Sehen Sie denn nicht, dass er geistig verwirrt ist?«

»Wie könnte Sweeney den Isra’ilis unser Versteck verraten haben?«, fragte der Doktor auf Arabisch. Er wandte sich an Petra. »Bist du sicher, dass euch niemand gefolgt ist, als du ihn hergebracht hast?«

»Wir haben uns an die üblichen Vorsichtsmaßnahmen gehalten«, sagte sie. »Völlig unmöglich.«

»Ich hab seine Kamera, sein Handy und seine Armbanduhr zerstört«, sagte Azziz. »Sogar die Filme, die er dabei hatte.«

»Das Einzige, das wir nicht zerstört haben, ist das Gerät in seinem Ohr«, sagte Petra.

Der Doktor musste daran denken, wie Sweeney seine Hörschwäche beschrieben hatte, als er ihn fragte, welche Verletzungen er genau erlitten hatte. Gehirnerschütterung und Schädigung des linken Mittelohrs.

Trommelfellriss?

Ja.

Al-Shaath ging zur Tür und drückte die blau verfärbte Stirn gegen die Stahlverstärkung. Die Kühle linderte die Migräne, die hinter den Augen lauerte. »Brecht das Hörgerät auf«, befahl er mit einem Seufzer, »und sagt mir, was ihr seht.«

Petra sprang auf und riss Sweeney das kleine Plastikteil aus dem Ohr. Sie legte es auf den Boden, zerschlug es mit dem Knauf des Revolvers und untersuchte die Einzelteile. »Ich sehe einen Mikroschaltkreis mit winzigen Transistoren. Einen winzigen Lautsprecher, eine runde, hauchdünne Batterie.«

Sweeney zerrte an der Drahtfessel um seine Handgelenke.

Der Doktor legte die Stirn in Falten. »Der Schaltkreis könnte ein Signal senden –«

»Das hab ich doch mit meinem Messgerät überprüft«, erinnerte Petra ihn.

»Das Gerät könnte so programmiert sein, dass es nur kurzfristig in Intervallen sendet. Wenn du es getestet hast, als es gerade nicht sendete …« Der Doktor hatte eine Idee. »Petra, hol das Otoskop aus meinem Arztkoffer in der Ecke, das Instrument, mit dem man in die Ohren schauen kann. Am Griff ist ein Schalter, um die Lampe anzuknipsen. Ich möchte, dass du ihm in das taube Ohr schaust und mir genau beschreibst, was du siehst.«

Als Petra auf Sweeney zuging, drehte er den Kopf weg. Azziz trat zu ihnen und drückte Sweeney die Mündung seiner Ak-47 in das gesunde Ohr. Petra kniete sich neben Sweeney hin, schob die Spitze des Otoskops in sein linkes Ohr und schaltete die Lampe ein. Sie beugte sich vor und kniff ein Auge zu, spähte dann mit dem anderen in das Instrument. »Ich sehe drei ausgefranste Löcher in einer Membrane, schätze das ist das Trommelfell. Zwei größere und ein etwas kleineres. Die Ränder sind weißlich vernarbt. Das Trommelfell selbst ist gräulich braun und verkrustet. Neben einem von den Löchern ist eine winzige Perle – weiß und glänzend und hart.«

»Das wird ein Cholesteatom sein, eine sogenannte Perlgeschwulst als Folge der Trommelfellverletzung. Weiter.«

»Durch eins der Löcher im Trommelfell kann ich etwas sehen, das klein, weiß und knollenförmig ist – so ungefähr wie das essbare Ende einer Frühlingszwiebel. Und es sieht aus, als würde es schweben –«

»Das nennt man Steigbügelkopf«, verkündete der Doktor triumphierend auf Englisch. »Der wird sich bei der Explosion in Beirut gelöst haben, Mr. Sweeney. Was bedeutet, Sie sind auf dem linken Ohr völlig taub. Das Hörgerät, das Sie tragen, kann die Hörkraft nicht verbessern, wenn der Steigbügel abgetrennt ist, weil er keine Schwingungen mehr ins Innenohr weiterleitet.« Der Doktor wechselte wieder ins Arabische. »Ich Dummkopf! Wieso bin ich nicht früher darauf gekommen! Das Hörgerät muss so programmiert sein, dass es nur ab und zu ein Signal sendet.« Wieder auf Englisch fragte er Sweeney: »Wie oft sendet es?«

Sweeney holte zittrig Luft. Die Israelis würden jeden Augenblick die Wohnungstür sprengen. Seine einzige Chance bestand darin, die Fragen des Doktors zu beantworten, um Zeit zu schinden. »Man hat mir gesagt, es würden fünf Signale sein, jedes eine Zehntelsekunde lang, und jeweils um achtzehn Minuten vor und nach der vollen Stunde.«

»Wie weit reicht das Signal?«

»Je nachdem, ob es von drinnen oder draußen gesendet wird, zwischen zweihundert und zweihundertfünfzig Metern.«

»Entleibt ihn, entleibt ihn, um Himmels willen«, wimmerte der Rabbi, und seine Füße tänzelten vor Aufregung. »Wer uns verrät, verdient den Tod. Schreibt seinen Namen im Buch der Taten bloß nicht richtig. Schickt seinen Kadaver in den Glutofen der Gehenna.«

Sweeney wurde flau vor Todesangst, und er schloss die Augen. Sein plötzlich säuerlicher Atem ging in flachen Zügen. Galle stieg ihm in die Kehle. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Es war ein langer, beschwerlicher Weg von Seattle über Beirut nach Israel gewesen. Das Glück, das ihm zuletzt hold gewesen war, als die Mörsergranate neben seinem Wagen in Beirut eingeschlagen war, ließ ihn jetzt in einem schäbigen zugemauerten Raum im zweiten Stock eines leerstehenden Jerusalemer Badehauses im Stich. Dass es überhaupt so lange gehalten hatte, war das einzig wirklich Überraschende.

»Erschieß ihn«, wies der Doktor Azziz an.

Azziz nahm ein Kopfkissen von der Pritsche, um den Knall zu dämmen, stellte die AK-47 auf Einzelschuss und bedeutete Petra mit dem Kinn, beiseite zu treten. Als sie zur Pritsche zurückwich, wiederholte der Rabbi den Befehl. »Worauf wartest du? Nun entleib doch endlich diesen Mist …«

Eine Reihe von dumpfen Explosionen unterbrach ihn. Es klang, als wären irgendwo in einem fernen Raum Knallfrösche hochgegangen. Die verstärkte Wohnungstür flog aus dem Rahmen und krachte nach innen auf den Fliesenboden. Man hörte das Keuchen der Männer, die hereingestürmt kamen. Azziz sank hinter Sweeney auf ein Knie und sog scharf die Luft ein, als er seine Waffe wieder auf Automatikbetrieb schaltete und auf die Tür zielte. Petra nahm den Revolver von der Pritsche und drückte sich an die hintere Wand. Der beißende Geruch von Nitroglycerin drang unter der Tür hindurch. Der Doktor duckte sich verstört neben den Rabbi.

»Tun Sie, was Sie geschworen haben, ya’ani«, stachelte Apfulbaum ihn an. »Stellen Sie sich meinen Tod als meinen bescheidenen Beitrag zu unserem Teufelskreis vor.«

Durch die gepanzerte Tür rief eine megafonverstärkte Stimme auf Englisch: »Wir wissen, dass Sie da drin sind, Doktor al-Shaath. Wenn Sie Ihr Leben und das Ihrer Leute retten wollen, töten Sie den Rabbi und den Journalisten nicht. Wenn Sie die beiden verschonen, verschonen wir Sie und Ihre Leute.«

»Das Licht«, flüsterte der Doktor.

Azziz trat unter die Glühbirne an der Decke, umfasste sie mit einem Taschentuch und drehte sie heraus. Es wurde stockdunkel im Raum.

»Ich weiß, dass Sie mich hören, Doktor al-Shaath. Wir sind alle Soldaten. Lassen Sie uns von Soldat zu Soldat miteinander reden. Wir haben Respekt vor einem Soldaten, der gegen uns kämpft, solange er keine Wehrlosen hinrichtet.«

»Die bringen Sprengsätze an der Tür an«, warnte Apfulbaum. »Herrgott noch mal, Ishmael, erschießen Sie mich, ehe wir beide noch den Mut verlieren.«

In der totalen Dunkelheit fing der Doktor an, nach dem Knochenvorsprung hinter dem Ohr seines Gefangenen zu tasten. »Ich hab die Orientierung verloren«, flüsterte er. »Ich weiß nicht mehr, was der gerade Weg ist.«

»Ich werde Sie führen«, erwiderte der Rabbi.

»Rabbi Apfulbaum, Mr. Sweeney«, rief die Megafonstimme. »Antworten Sie, wenn Sie können.« Eine andere Stimme rief über das Megafon auf Arabisch: »Wenn Sie am Leben bleiben wollen, krümmen Sie dem Rabbi und dem amerikanischen Journalisten kein Haar. Wenn Sie sie töten, töten wir Sie.«

»Was habt ihr mit meinem Bruder gemacht?«, schrie Azziz.

»Wenn Sie den meinen, der die Treppe heruntergekommen ist: Der hat sich widerstandslos ergeben«, erwiderte die Stimme. »Er befindet sich unversehrt in unserem Gewahrsam.«

»Ihr lügt!«, schrie Azziz unter Tränen der Wut.

»Ishmael, jetzt kann ich’s Ihnen ja sagen«, gestand der Rabbi gehetzt. »Ich bin nicht der geistige Führer der jüdischen Untergrundbewegung Keshet Yonatan, sondern ihr Anführer. Ich hab damals in den Achtzigern den Bombenanschlag auf den Felsendom geplant. Ich hab die Briefbomben an arabische Bürgermeister geschickt. Ich hab die arabischen Studenten am Islamic College in Hebron entleibt. Ich bin Ya’ir!«

»Ich glaube Ihnen nicht, ya’ani. Das sagen Sie nur, damit ich Sie erschieße.«

»Ich schwöre es, Gott ist mein Zeuge.« Apfulbaum versagte vor Erregung die Stimme. »Bringt mir die Heilige Schrift, vielleicht überzeugt es Sie ja, wenn ich darauf schwöre.«

Sweeneys schwache Worte hallten durch den dunklen Raum. »Ich glaube ihm.«

Die Finger des Rabbi schlangen sich um das Handgelenk des Arztes. »Ishmael, Seelenverwandter, Cousin, Bruder, lass uns bei meinem Tod kollaborieren«, flehte er, mit trockenem Mund und angespannter Stimme. »Lass uns gemeinsam diesen miesen Friedensvertrag zum Scheitern bringen, ehe die verrückten Politiker ihn unterzeichnen können.« Er hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden, sie auszustoßen, sobald er sie gefunden hatte. »Begreifst du denn nicht? Der Messias allein, der Erneuerer allein, sind nichts als Grashalme auf einer Wiese. Aber gemeinsam können wir einen Orkan erzeugen, der den Friedensprozess zerstören wird. Mein Gott, im Vergleich dazu ist der Chamsin aus dem Glutofen der Hölle ein laues Lüftchen. Denk an den Teufelskreis, Ishmael – töte mich, und meine Leute werden meinen Tod rächen. Und dann üben deine Leute wieder Rache für die Rache.« Apfulbaum bleckte die Zähne, als sich ein kicherndes Lachen aus der Tiefe seines Bauches einen Weg nach oben bahnte. Er spürte, dass der Arzt ins Schwanken geriet. »Du hast mich entführt, du hast den gojischen Journalisten hergebracht, um dir selbst eine Falle zu stellen. Du hast einen Zeugen eingeladen, damit deine Identität bekannt wird, damit die Geschichte mit dem Märtyrertod endet. Meinem. Deinem. Das ist die ultimative Hedschra, die ultimative Abwendung vom Unglauben. Ishmael, Ishmael, selbst mit deinem Tunnelblick müsstest du den geraden Weg erkennen können. Wenn du nicht in einem islamischen Staat leben kannst, in dem das islamische Gesetz und das Vorbild des Propheten gilt, wenn ich nicht in einem jüdischen Staat leben kann, in dem die Thora und das Vorbild unserer Propheten gilt, dann lass uns zusammen religiöses Asyl im Paradies suchen und uns zu den Propheten und Königen und Kalifen setzen. Wir wollen zu den Märtyrern zur Rechten Gottes stoßen. Du und ich, Ishmael, der islamische Erneuerer und der jüdische Messias, Seite an Seite. Eine echte simchat, echte Freude.«

Und noch immer brachte der Doktor es einfach nicht fertig, seinen Freund zu erschießen. »Ich kann dir nicht das Leben nehmen, Isaac. Du bist ein kafir, ein Ungläubiger, der die Botschaft des Islam ablehnt. Dich erwartet die ewige Hölle, wo die Körper der Verdammten von Flammen umschlossen werden und geschmolzenes Blei ihnen das Gesicht verbrennt. Wie könnte ich dir das antun?«

»Doktor al-Shaath, Ihre Zeit läuft ab. Machen Sie auf und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus, dann behandeln wir Sie und Ihre Leute wie Kriegsgefangene. Es wird niemandem etwas geschehen.«

Als eine andere Stimme das Gesagte auf Arabisch wiederholte, flüsterte Azziz grimmig: »Ich wünsche mir nur, möglichst viele Juden zu töten, ehe ich sterbe.«

»Ishmael, ich habe die Lösung für unser Problem«, sagte der Rabbi rasch. »Weil wir beide an einen einzigen Gott glauben, erlaubt Rebbe Moses ben Maimon in seiner Schrift über den Märtyrertod den Juden, ihr Leben durch die Konvertierung zum Islam zu retten. Wieso hab ich bloß nicht daran gedacht! Wenn ein Jude zum Islam übertreten kann, um den Tod zu vermeiden, kann er auch konvertieren, um das Leben zu vermeiden!«

»Du würdest ernsthaft konvertieren –«

Der Rabbi begann, auf seinem Stuhl in der traditionellen jüdischen Gebetshaltung vor und zurück zu wippen, während er die Schahada aufsagte, das muslimische Glaubensbekenntnis, das beim Übertritt zum Islam und im Augenblick des Todes gesprochen wird: »Aschhadu an la ilaha illa llahu wa aschhadu anna Muhammadan rasulu llahi. – Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Allah, ich bezeuge, Muhammad ist Sein Gesandter.« Apfulbaum neigte den Kopf, als verbeuge er sich vor Gott. Tränen der Verzückung überfluteten seine Augen. »Mein Herr hat mich auf einen geraden Weg geleitet, zu einer rechten Religion, dem Glauben Ibrahims … mein Leben, mein Sterben gehören Gott.«

Sweeney flüsterte: »Ihr habt sie beide nicht mehr alle.«

»Doktor al-Shaath, das ist unsere letzte Warnung –«

Die Finger des Doktors tasteten hastig nach dem Knochenvorsprung hinter dem Ohr des Rabbi. Er hob die Beretta, hauchte zweimal über die Mündung, um sie anzuwärmen, und setzte sie auf die Stelle unter dem Knochen. »Wenn du in den Qur’an hineingeboren worden wärst«, raunte er dem Rabbi auf Hebräisch ins Ohr, »dann wärest du mein Bruder.«

Der Rabbi, dessen blicklose Augen fiebrig brannten, erwiderte auf Arabisch: »Wenn wir gemeinsam in Brooklyn die Thora gelesen hätten«, stöhnte er mit einer Kinderstimme, »wärest du für mich Familie.«

Die Beretta hustete eine Kugel aus. Der Rabbi war auf der Stelle tot und sank in Abu Bakrs Arm. Der Doktor fing das Gewicht auf, als wäre es ein Geschenk Gottes. »Ehe der Tag zu Ende geht«, flüsterte er, »wirst du im Allerheiligsten des Dritten Tempels sein, du wirst den unaussprechlichen Namen Gottes aussprechen, den nur die Frömmsten –«