IRGENDWANN IN NAHER ZUKUNFT

A

uszug aus dem Projekt »Lauf der Geschichte«

an der Harvard University:

 

Test, drei, zwei, eins. Wenn du nicht weißt, wohin du möchtest, kann dir jede Straße recht sein. (Ein Reisetipp von Lewis Carroll.) Ist das laut genug? Okay, also dann. Mein Name – Moment noch. Wer? Soll später noch mal anrufen. Bis Mittag bin ich beschäftigt. Mit Ausnahme der Präsidentin niemanden durchstellen, solange ich hier nicht fertig bin.

Entschuldigung. Wo war ich?

Mein Name ist Zachary Taylor Sawyer, und meine Freunde nennen mich Zack. Manche Leute sehen eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem berühmten Vorfahren Zachary Taylor, dem zwölften Präsidenten der Vereinigten Staaten, und glauben, ich renne wie er rücksichtslos jeden über den Haufen, der mir in die Quere kommt. Ich gehe stramm auf die fünfundfünfzig zu, in ein paar Monaten ist es so weit. Bis vor elf Monaten habe ich Geschichte und Politikwissenschaft in Harvard gelehrt, dann erhielt ich aus Washington die Einladung, der Präsidentin als Sonderberater für Nahostangelegenheiten zur Seite zu stehen. Fürs Protokoll, heute Morgen beteilige ich mich an dem Harvard-Projekt »Lauf der Geschichte«, in dem hochrangige Mitarbeiter der Regierung zeitnah dokumentieren, wie Geschichte gemacht wird, unter der Bedingung, dass diese Aufnahmen fünfundzwanzig Jahre lang nicht veröffentlicht werden. Wenn ich das richtig verstehe, ist es Ziel des Projektes, zukünftigen Historikern Zugang zu dem Rohmaterial zu bieten, das hinter Entscheidungsprozessen steht – die endlosen Revierkämpfe, die Positionspapiere, die keine Position einnehmen, die Brainstorming-Sitzungen, wo originelle Ideen von Opportunisten abgeschmettert werden, die keine Alternativen zu bieten haben, die wütenden Zerwürfnisse, die unter den Teppich gekehrt werden, um den Eindruck zu erwecken, auf höchster Regierungsebene würde mit einer Stimme gesprochen.

Finden Sie diese Beschreibung zynisch? Ich finde sie zutreffend. Als Historiker glaube ich, Geschichte verrät uns mehr über uns selbst als über die Vergangenheit – sie verrät uns, wie wir das, was wir für erinnerungswürdig hielten, verzerrt haben. Aber das ist ein anderes Thema.

Wo soll ich anfangen? Ich glaube, am besten schildere ich erst mal, wo wir uns befinden, und dann sage ich Ihnen, wie wir dahin gekommen sind. Wir befinden uns neun Tage vor der Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen Israelis und Palästinensern und der Schaffung eines existenzfähigen Palästinenserstaates innerhalb gemeinsam vereinbarter Grenzen. Der Gentleman, der auf dem Weg nach draußen war, als Sie hereinkamen, war der Protokollchef des Weißen Hauses, Manny Krisher. Wir waren dabei, die letzten Falten der Unterzeichnungszeremonie glattzubügeln. Manny war so freundlich zu sagen, er könne es nicht begreifen, wie es mir gelungen ist, Israelis und Palästinenser an einen Tisch zu bekommen, geschweige denn, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen.

Ich erwiderte, was ich allen Leuten sage, die mich darauf ansprechen: Es war eine Frage des Timings. Als ich die Bühne betrat, lag der 11. September lange zurück, die Welt war Bushs endlosen Krieg gegen den Terror ebenso leid wie den sogenannten Kampf der Kulturen – den Kreuzzug des materialistischen und säkularen Westens gegen einen spirituellen und fundamentalistischen Islam –, der Muslime rundum den Globus vor den Kopf stieß. Als ich die Bühne betrat, stellten die Wahabi-Fundamentalisten eine glaubhafte Bedrohung für die Saudi-Monarchie dar, und der Ölpreis lag bei hundert Dollar pro Barrel, was in sämtlichen Industrieländern die Inflation steigen ließ und das Wirtschaftswachstum sinken. Als ich die Bühne betrat, waren europäische Regierungschefs – wie der britische Premierminister Bushs Nachfolgerin in meinem Beisein offen erklärte – bereit, ihre historische Bindung an Amerika neu zu überdenken, falls Washington die Israelis nicht zügelte und dazu brachte, der Existenz eines lebensfähigen palästinensischen Staates zuzustimmen, was nach Ansicht der Briten den Wahabis den Boden entziehen, Saudi-Arabien stabilisieren und den Ölpreis senken würde.

Nein, der Teil des Gespräches brachte es nicht auf die Seiten der New York Times oder der Washington Post, und das aus gutem Grund – er hätte nämlich den Wählern in ganz Europa eine Heidenangst eingejagt. Der britische Premier, die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident, alle, die zum UN-Gipfel hierhergekommen waren, klangen wie delphische Orakel, die ihre Botschaft abgesprochen hatten, und die lautete im Wesentlichen, dass ihre Länder anders als die USA erhebliche muslimische Bevölkerungsanteile hätten, die ausbrechen könnten wie der Vesuv, wenn die Palästinenser nicht bald ihr eigenes Land erhielten.

Gute Frage. Haben sie übertrieben? Wissen Sie, selbst übertriebene Wahrnehmungen können die Wirklichkeit beeinflussen, und genau das war hier der Fall. Im Grunde hatten die europäischen Regierungschefs den Dschihadisten-Köder geschluckt. Ohne es direkt zuzugeben, machten sie nämlich Israel für die Existenz des islamischen Fundamentalismus auf der Welt verantwortlich. Tatsache ist jedoch, dass es die islamischen Fundamentalisten bereits vor Gründung des souveränen Staates Israel im Jahr 1948 gab und dass es sie auch noch geben wird, wenn der souveräne Staat Palästina entstanden ist. Tatsache ist auch, dass die arabischen Massen auch weiterhin verelenden und sie weiterhin keinerlei Hoffnung hegen, es könnte besser werden, ehe es schlechter wird – was den islamischen Fundamentalismus nährt –, selbst dann, wenn der Kampf um dieses Scheibchen Heiliges Land zum Erliegen kommt.

Ja, ja, ich gebe zu: Sie werden bestimmt einen neuen Grund finden, ihre Truppen zu mobilisieren, wenn es uns gelingt, den hundertjährigen israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen. Aber ein Gutes hatte die Sache, und davon konnte ich auch die Präsidentin überzeugen: Selbst wenn die Sichtweise der Europäer auf einem mangelhaften Verständnis des Islam beruht und auf einer Fehleinschätzung der historischen Kräfte, die auf der Welt am Werke sind, heißt das nicht, dass wir sie nicht beim Wort nehmen oder wenigstens so tun, als ob. Wenn Washington Druck auf die Israelis ausüben würde, hätte das den Anschein, als würde es auf die legitimen Besorgnisse Europas reagieren. Und die Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes – selbst wenn die islamistischen Ambitionen gedrosselt würden, das Kalifat aus dem siebten Jahrhundert ebenso wiederherzustellen wie das Hakimiyyat Allah, die Gottesherrschaft – könnte langfristig nur Amerikas Interessen dienen, weil es schwieriger oder gar unmöglich werden würde, uns für die Leiden der Palästinenser verantwortlich zu machen.

Ich lache, weil Sie recht haben. Wie die Präsidentin in ihrer letzten Pressekonferenz deutlich gemacht hat, war erheblich mehr als nur Glück vonnöten, um beide Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen. Fangen wir ganz am Anfang an. Es ist kein Staatsgeheimnis, dass ich von einer Präsidentin nach Washington gerufen wurde, die mein Buch Den Teufelskreis durchbrechen fasziniert gelesen hatte. Der Ton des Buches hatte sie offenbar ebenso beeindruckt wie der Inhalt. Wie sie mir bei unserer ersten Begegnung erzählte, kannte sie nicht gerade viele Nahostexperten, ihren Mann eingeschlossen, die so unvoreingenommen seien wie ich.

Mir wurde aber nicht nur strikte Unvoreingenommenheit nachgesagt, ich vertrat auch den ausgesprochen ketzerischen Standpunkt, dass der Ausweg in einer Erhöhung des Einsatzes lag. Noch ehe die europäischen Regierungschefs mit ihrem Orakelgesang die Sache auf den Punkt brachten, war das Klima reif für Häresie. Die schlimmen Terroranschläge auf israelische Städte und Israels Vergeltungsschläge auf palästinensische Gebiete waren allen noch frisch im Gedächtnis. Als einen Monat nach der Vereidigung der neuen Präsidentin ein weiterer Terroranschlag auf die USA verübt wurde – ich meine den Versuch, Indianapolis von einem Schädlingsbekämpfungsflugzeug aus mit Anthrax-Sporen zu besprühen, ein Versuch, dem nicht nur ein Dutzend, sondern Tausende zum Opfer gefallen wären, wenn der Wind das meiste Anthrax nicht weggeweht hätte –, tauchten antiisraelische Haltungen, die nie tief unter der Oberfläche schlummern, im öffentlichen Diskurs auf. Wir haben es alle mitbekommen – in Fernsehtalkshows, auf Cocktailpartys, im Fahrstuhl. Der Satz begann meistens so ähnlich wie »Wenn die Juden nicht wären …«. Die Bevölkerung war es leid, dass Amerika für das Israel-Problem verantwortlich gemacht wurde, und der Kongress nutzte diese Tatsache aus, indem er einen Gesetzesentwurf vorlegte, den die Präsidentin prompt unterzeichnete – trotz des vehementen Widerstandes seitens der jüdischen Lobby und ihrer Verbündeten bei der evangelikalen Rechten –, wodurch Spenden an Organisationen, die Geld an ausländische Regierungen oder Gesellschaften verteilten, nicht länger steuerabzugsfähig waren. Über Nacht versiegten Gelder an die Spendenorganisation United Jewish Appeal. Als die Israelis eine nicht gerade feinfühlige Kampagne gegen die derzeitige Präsidentin inszenierten, geschah das Unvermeidliche: Auf meinen Rat hin stellten die USA die Waffenlieferung an die beiden Hauptempfänger von Auslandshilfe ein, Israel und Ägypten.

Die Folgen sind Ihnen sicherlich noch ebenso präsent wie mir. Die Maßnahme, die noch wenige Monate zuvor undenkbar gewesen wäre, löste ein regelrechtes Erdbeben in der Nahostpolitik aus. Die israelische Air Force fliegt mit amerikanischen Bombern. Ohne Ersatzteile müssten sie Maschinen ausschlachten, damit andere in der Luft bleiben können. Die israelische Regierung schäumte einige Tage lang und implodierte dann. Wahlen wurden abgehalten, und eine Koalition aus den gemäßigten säkularen und religiösen Parteien schusterte eine dünne Mehrheit in der Knesset zusammen. Daraufhin begann ich, zwischen Jerusalem und Kairo und Riad und dem, was vom Hauptquartier der Palästinenserbehörde in Ramallah nach wiederholten israelischen Luftangriffen übrig geblieben war, hin und her zu pendeln. Mit Zuckerbrot und Peitsche konnte ich die beiden Seiten überreden, widerwillig einer Waffenruhe zuzustimmen. Unter heftigem Druck seitens der Ägypter und der Saudis, die wiederum dem heftigen Druck der Europäer ausgesetzt waren, machte die palästinensische Autonomiebehörde schließlich ernst: Sie steckte Aktivisten von Hamas, Dschihad, Fatah und Al Aksa ins Gefängnis und machte den Selbstmordattentaten ein Ende. Israel, das zum ersten Mal seit Gründung des jüdischen Staates fürchtete, die amerikanische Unterstützung zu verlieren, zog seine Armee aus den besetzten palästinensischen Städten im Westjordanland ab, befahl seinen Soldaten, nicht mehr mit Gummigeschossen auf Steine werfende Kinder zu schießen, und öffnete nach und nach die Grenzen für Palästinenser, die eine Arbeitserlaubnis für Israel hatten. Binnen Wochen pendelten zwanzigtausend Palästinenser täglich nach Israel, um abends mit Lohntüten in den Taschen nach Hause zurückzukehren. Als die Waffenruhe anhielt, wurden die Streithähne – unter heftigem Widerstand, wie die Washington Post schrieb – an den Verhandlungstisch im Mt. Washington Hotel in New Hampshire gezerrt, wo nach dem Zweiten Weltkrieg die Konferenz von Bretton Woods stattgefunden hatte.

Womit wir so ziemlich in der Gegenwart angelangt sind. Wenn die Waffenruhe so lange anhält, dass wir diesen verflixten Vertrag unterzeichnet bekommen, besteht durchaus Hoffnung, dass die schweigende Mehrheit auf beiden Seiten aus der Versenkung auftaucht – Moment, CNN blendet gerade eine Israelkarte ein. Würden Sie bitte lauter stellen? Danke.

»… schalten wir um zu unserem Korrespondenten in Jerusalem. Joel?«

»Als die beiden Seiten vor einundvierzig Tagen im Mt. Washington den Friedensvertrag paraphierten, holten alle Menschen in Israel tief Luft und hielten den Atem an. Heute, neun Tage vor der eigentlichen Unterzeichnung, ist die Stille förmlich ohrenbetäubend. Die Leute zucken zusammen, wenn ein Auto eine Fehlzündung hat oder eine Tür knallt oder eine Rettungswagensirene irgendwo in dieser alten Stadt aufheult. Wie ein führender amerikanischer Diplomat zu einem Kollegen von mir in Washington sagte: ›Wenn ein Schuss fällt, kannst du jede Wette eingehen, dass er auf der ganzen Welt zu hören ist.‹ Das war Joel Plummer aus einem unheimlich stillen Jerusalem.«

Okay, Sie können den Ton wieder abdrehen.

Fürs Protokoll, der führende amerikanische Diplomat ist kein anderer als meine Wenigkeit – Zachary Taylor Sawyer.