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I

n dem Zimmer über dem Fischrestaurant schenkte Uri, der General a. D. Lagavulin-Single kalt in die sechs Gläser, die auf dem ovalen Tisch aufgereiht waren. Er gab hier und da noch einen Schuss hinzu, bis er sicher war, dass alle die gleiche Menge enthielten. Er verteilte die Gläser an die Mitglieder der Sonderarbeitsgruppe, nahm das sechste in seine mächtige Pranke und ließ sich niedergeschlagen auf die gepolsterte Couch an einer Wand sinken. Baruch, der an dem ovalen Tisch saß, las den Polizeibericht über die Palästinenserin Maali vor. Gefängniswärter hatten sie bewusstlos auf dem Boden der Zelle gefunden. Der Gefängnisarzt war gerufen worden. Er hatte eine große Wunde an der Stirn und erweiterte Pupillen festgestellt, Anzeichen für eine Prellung des Gehirns, das mit Wucht innen gegen den Schädel geschlagen war. Verkrümmte Extremitäten legten den Verdacht nahe, dass das Gehirn geschwollen war und die Schwellung Druck auf das Großhirn ausübte. Der leitende Vernehmer hatte dem Arzt gestattet, Maali ins nächste Krankenhaus bringen zu lassen, mit der Anweisung, in der Patientenakte zu vermerken, die junge Frau sei nach einem Unfall mit ihrem Motorroller in die Notaufnahme eingeliefert worden und liege seitdem im Koma. Man hatte mit einem chirurgischen Eingriff versucht, den Druck auf das Gehirn zu verringern, doch der Druck hatte sich rasch wieder aufgebaut. Eine CT hatte ein irreversibles zerebrales Trauma gezeigt. Die Frau namens Maali war kurz nach Mitternacht auf der Intensivstation gestorben.

Elihu stand mit seinem Scotch in der Hand am Fenster und blickte hinaus aufs Meer, dessen Wellen an den Strand von Jaffa liefen. Einige Minuten lang sagte niemand ein Wort. Dann brach das Gewitter los.

»Irgendwer hat Mist gebaut«, sagte Baruch wütend und warf den Polizeibericht auf den Tisch. »Die Frau hätte nicht unbeaufsichtigt in der Zelle bleiben dürfen, nachdem unsere Agentin sie überlistet hatte.«

»Woher hätten wir denn wissen sollen, dass sie dahinterkommen würde?«, fauchte Altmann.

»Das ist unser Job«, entgegnete Baruch.

»Wieso regen wir uns über den Selbstmord einer Palästinenserin auf?«, fragte Uri von der Couch her. »Sie trug einen Ring, den ihr Mann einem ermordeten jüdischen Jungen vom Finger geschnitten hatte.«

»Uri hat recht«, sagte Dror. »Bleiben wir auf dem Teppich. Ich hab noch nicht gesehen, dass sich irgendwelche Palästinenser wegen der vier Juden an die Brust schlagen, die bei dem Überfall auf den Konvoi des Rabbi getötet wurden.«

»Und es schlägt sich auch keiner von denen an die Brust, weil der Rabbi und sein Sekretär entführt wurden«, stimmte Altmann zu.

»Das Problem«, meldete Wozzek sich zu Wort, »ist nicht diese Maali. Die ist Schnee von gestern. Das Problem ist der hinkende Schuhmacher gegenüber der El-Khanqa-Moschee. Das Problem ist Yussuf Abu Saleh.«

Elihu wandte sich vom Fenster ab. »Fangen wir mit dem Schuhmacher an«, sagte er. »Er ist offensichtlich ein Mishlasim – ein Briefkasten und kein operativer Agent. Er wird nicht den leisesten Schimmer haben, von wem die Briefe kommen oder an wen sie gehen. Es bringt also nichts, ihn ins Verhör zu nehmen. In Europa tätige Mossad-Zellen wenden diese Methode seit Jahren an – die Post wird an einen Briefkasten geschickt, der Besitzer des Briefkastens gibt irgendein vereinbartes Zeichen, der Adressat hält Ausschau nach dem Zeichen und holt den Brief ab.«

Altmann schenkte sich zwei Fingerbreit Lagavulin nach. »Wenn wir bei dem Schuhmacher einen an Tayzir adressierten Brief abgeben, gibt er ein Zeichen, und Yussuf kommt aus seinem Versteck. Wir könnten Yussuf verfolgen, aber das könnte in den engen Gassen der Altstadt schwierig werden. Und selbst wenn es uns gelingt, führt er uns womöglich bloß zu dem Zimmer, in dem er wohnt.«

»Wir sollten Yussuf festnehmen und zum Reden bringen«, sagte Dror. »Die Frage ist, erledigen wir das selbst oder überlassen wir ihn der fürsorglichen Pflege von Sa’adat Arif?«

»Yussuf ist unser Problem«, sagte Baruch kategorisch. »Wir nehmen es selbst in die Hand. Wir wälzen es nicht auf die Leute von der palästinensischen Autonomiebehörde in Jericho ab.«

»Wer auch immer die Sache in die Hand nimmt, wir müssen uns sputen«, warnte Altmann. »Die Uhr tickt. Das Ultimatum läuft übermorgen ab. Wenn der Katsa sich bis dahin nicht noch etwas einfallen lässt, ist Yussuf unsere letzte Hoffnung – vorausgesetzt, er weiß, wo der Rabbi festgehalten wird, vorausgesetzt, er wird zum Reden gebracht.«

Dror sagte: »Die Zeit reicht nicht, um Yussuf Informationen zu entlocken, wie wir es bei Maali gemacht haben. Wer immer ihn sich vorknöpft, er muss richtig in die Mangel genommen werden.«

Altmann schüttelte den Kopf. »Dann rückt uns amnesty international auf die Pelle. Dann hauen ihn weltverbessernde Anwälte in null Komma nix wieder raus.«

»Sa’adat Arif würde denen gar nicht erst guten Tag sagen«, knurrte der General von der Couch. »Die Weltverbesserer kennen Jericho nicht mal.«

»Es hätte noch einen Vorteil, ihn Sa’adats Leuten zu übergeben«, sagte Dror. »Dann sieht es nämlich so aus, als wäre Yussuf das Opfer rivalisierender arabischer Splittergruppen geworden, was wichtig ist, wenn wir Abu Bakrs Jungs nicht abschrecken wollen.«

»Da ist was dran«, sagte Altmann. »Wenn Abu Bakr glaubt, wild gewordene Hamas-Dschihadisten hätten sich Yussuf vorgenommen, wird er sich nicht so leicht verkriechen und den Rabbi und Ephraim mitnehmen – oder sie auf der Stelle töten.«

»Mir ist nicht wohl dabei«, sagte Baruch. »Ich bin Sa’adat nicht gern was schuldig. Und ich lass unsere Drecksarbeit nicht gern von anderen erledigen. Yussuf hat ganz offensichtlich Juden getötet. Ich finde, deshalb sollten sich auch Juden um ihn kümmern.«

»Stimmen wir ab«, schlug der Katsa am Fenster vor. »Wer ist dafür, dass wir die Sache von Sa’adat Arif erledigen lassen?«

Dror und Altmann hoben die Hand.

»Wer ist dafür, dass wir es selbst erledigen?«

Baruch hob die Hand, Wozzek zögerte, hob dann sein Glas Scotch.

Alle blickten zu dem General auf der Couch. »Einerseits sehe ich das wie Baruch – wir haben uns in Beirut ordentlich Ärger eingehandelt, als wir unsere Drecksarbeit von den Arabern haben erledigen lassen. Andererseits –« Uri zuckte die Achseln. »Ich weiß es einfach nicht.«

Baruch blickte den Katsa an. »Damit liegt die Entscheidung praktisch bei Ihnen, Elihu.«

»In der Tat.«