24
W
omit wir wieder bei Ya’ir wären.«
»Ya’ir.« Der Rabbi legte den Kopf schief und hob seine gefesselten Hände zu einem spöttischen Trinkspruch. »Auf ein langes Leben«, sagte er mit einem nervösen Kichern, die Stimmbänder wund vom endlosen Verhör. »Gesundheit. Finanziellen Erfolg. Fünfzehn Minuten Ruhm. Was auch immer.«
Seit dreieinhalb Stunden ging es nun schon so, dass der Doktor mit seinen präzisen Fragen vom Rabbi nur unsinnige Antworten erntete. Die el-Tel-Brüder hatten kurz hereingeschaut und eine Weile zugehört, ehe sie sich gelangweilt wieder in den vorderen Raum zurückzogen, wo Azziz die Kalaschnikows auseinandernahm und ölte, während sein Bruder das abendliche Qur’an-Pensum las. Anschließend spielten sie zusammen eine Partie Backgammon. Das Klappern der Würfel und die aufgeregten Rufe der jungen Männer drangen gedämpft durch die angelehnte Tür. Der Doktor, die Augen rot vor Müdigkeit, paffte energisch an einer Farid, Zigarettenasche auf dem Revers seiner Anzugjacke, der Boden rings um den Saum seines Gewandes mit Kippen übersät. »Der Anführer der jüdischen Untergrundbewegung«, leierte er monoton und zündete sich an der Glut seiner aufgerauchten Zigarette eine neue an, »ist bekannt unter dem Decknamen Ya’ir, dem Helden von Massada, der die Festung gegen die zehnte römische Legion verteidigte und, als sich die Niederlage abzeichnete, seine Leute zum Massenselbstmord überredete, um nicht in die Hände der Feinde zu fallen. In jüngerer Zeit war Ya’ir der Untergrunndname von Abraham Stern, einem jüdisch-polnischen Terroristen, der mit seiner Stern-Bande gegen das britische Mandat kämpfte, bis er 1942 von britischen Soldaten in einer Wohnung in Tel Aviv aufgespürt und erschossen wurde.«
Die Füße des Rabbi vollführten selbstständig einen Stepptanz. »Ihr wärt für euren Heiligen Krieg gegen Israel besser gewappnet, wenn ihr euch mit dem jüdischen Charakter ebenso gut auskeimen würdet wie mit der jüdischen Geschichte.«
»Dann klärt mich über den jüdischen Charakter auf«, ya’ani.
Apfulbaum verzog das Gesicht. Er spürte, dass sein Vernehmer ihm eine Landmine in den Weg gelegt hatte. Was er auch antwortete, es würde wahrscheinlich gegen ihn verwendet werden, Ein Muskel an seinem dünnen Hals zuckte, als er sich vorbeugte und versuchte, den listigen Fuchs zu überlisten. »Der Jude kämpft Tag für Tag rund um die Uhr einen inneren Kampf. Die Thora sagt uns, wir sind Krieger und Löwen. Der Holocaust sagt uns, wir sind Opfer und Lämmer. Moderne Juden haben die Thora im Kopf und den Holocaust im Bauch. Wie eine verengte Ader, einen angespannten Muskel, ein unüberhörbar pochendes Herz. Diese zwei historischen Erfahrungen, die zwei Hälften dieser gespaltenen Persönlichkeit, bekriegen sich gegenseitig im Innersten eines jeden Juden.«
»Der Jude steckt in einem ähnlichen Dilemma wie der fromme Muslim«, sagte der Doktor. »Auch wir haben zwei einander widerstreitende Traditionen. Wenn ein Muslim nicht mehr auf islamischem Territorium und unter einer islamischen Ordnung lebt, muss er sich entscheiden, welcher der beiden Traditionen erfolgt. Da ist einerseits der bewaffnete Kampf, den wir ›Dschihad‹ nennen, und andererseits die Auswanderung in ein Gebiet, in dem das islamische Gesetz gilt, was wir ›Hedschra‹ nennen. Der Prophet Mohammed hat zu seinen Lebzeiten beides getan. Ich persönlich habe mich für al-dschihad fi sabil Allah entschieden – für die ›kriegerische Auseinandersetzung auf dem Wege Gottes‹, was als bewaffneter Kampf für die Verbreitung der muslimischen Macht und des Wortes des Propheten zu verstehen ist. Ich ziehe den Kampf der Auswanderung vor.«
Apfulbaum spürte, dass sein Entführer ihm allmählich einen gewissen widerwilligen Respekt abrang. »An Ihrer Stelle würde ich bestimmt das Gleiche tun. In meinem Fall und im Fall des jüdischen Helden, der den Namen Ya’ir angenommen hat, triumphiert der Krieger-Jude über den Opfer-Juden.«
»Und folglich will es die göttliche Fügung, dass Ihr Krieger-Jude den Palästinensern das Land stiehlt und alle niedermetzelt, die sich dem widersetzen.«
Apfulbaum drohte seinem Inquisitor mit einem zitternden Finger. »Wir stehlen den Palästinensern nicht das Land, wir errichten ein jüdisches Staatsgebilde im Gelobten Land.«
»Ich persönlich habe nichts gegen ein jüdisches Staatsgebilde, sagen wir in Uganda.«
Der Rabbi schnaubte amüsiert. Alles in allem fand er Gefallen an diesem verbalen Schlagabtausch, und außerdem blieb er dadurch einige Stunden von der widerlichen Kapuze verschont. Falls er hier lebend herauskam, würde er einen ausführlichen Artikel über den Dialog schreiben. Er hatte sich bereits einen Titel überlegt: »Die Söhne Abrahams – ein blinder Dialog für taube Ohren.«
»Jahrhundertelang«, fuhr Apfulbaum fort, wobei er so viel Schwung in die Stimme legte wie sein Rabbi damals in Crown Heights, wenn er seine Yeshiwa-Schüler unterrichtete, »waren wir wie Samen verstreut über den ganzen Planeten, schlugen Wurzeln, wo wir konnten, und zogen weiter, wenn der Zar auf einmal Geschmack an ethnischen Säuberungen fand. Wir lebten nach der Thora, aber was ist uns widerfahren? Pogrome, Ghettos, Vertreibungen, Inquisitionen, Todeslager, Krematorien, das ist uns widerfahren. Die Moral der Geschichte wäre so klar und deutlich wie die Nase in Ihrem Gesicht, wenn ich eine Brille aufhätte und Ihr Gesicht sehen könnte: Nach der Thora zu leben reicht nicht. Wir müssen Gottes Gebot an das jüdische Volk gehorchen und das ganze Land der Thora besiedeln. Die meisten der sechshundertdreizehn Gebote in der Thora lassen sich nun mal nicht in Uganda befolgen, sondern allein in Israel. Ich rede vom ganzen Land der Thora, nicht nur von der Hälfte. Das Leben eines Thora-Juden im Land Israel zu leben ist die beste religiöse Erfahrung überhaupt, es ist eine spirituelle Orgie. Hier haben wir unmittelbaren Kontakt zu Gott, auf dem Boden, den Gott uns gegeben hat. Wir sind keine Wochenendkrieger, die nach Lust und Laune einen Ausflug ins Jüdischsein machen, in irgendeiner Diaspora-Synagoge, wo Singles und Geschiedene einander auf der Suche nach seelenverwandten Nichtrauchern umkreisen. Wir sind keine New Yorker Juden, für die Jüdischsein heißt, jeden Sonntagmorgen rituell Bagels mit Räucherlachs zu essen.«
Auf der anderen Seite des Raumes durchlief den Sekretär des Rabbi, der unruhig unter seiner Kapuze döste, mit einem Mal ein so heftiger Schauder, dass er fast samt seinem Stuhl umgekippt wäre. »Ich kann nicht schwimmen«, rief er mit der hohen Stimme eines verstörten Kindes, das einen beängstigenden Albtraum hat. Er reckte den Hals wie ein Schwan und schnappte nach Luft. »Um Himmels willen, werft mir einen Rettungsring zu, oder ich ertrinke.«
»Du bist doch angeblich ein mündiger Erwachsener«, sagte der Rabbi, der sich deutlich gestört fühlte, spöttisch zu seinem Sekretär. »Geh unter oder schwimm, Ephraim, aber mach es in Gottes Namen ohne viel Theater.« Apfulbaum rieb sich mit seinem aufgeschlitzten Ärmel die Nase und wandte sich wieder an seinen Vernehmer. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Was das Niedermetzeln von Palästinensern betrifft, die sich widersetzen, so lehrte Moses ben Maimon, ein Gelehrter im zwölften Jahrhundert, dass ein Mensch getötet werden darf – getötet werden muss! –, wenn dadurch verhindert wird, dass Juden zu Schaden kommen. Dieses Prinzip wird als din rodef bezeichnet, die Verurteilung eines Verfolgers. Der rodef oder Verfolger mit einem Rucksack voller Plastiksprengstoff darf durch einen rechtschaffenen Juden getötet werden, ehe der Verfolger den Sprengstoff zündet, um einen Juden zu töten. Sein Blutvergießen ist erlaubt, wie Maimonides es so unnachahmlich formuliert hat. Sie wissen, worauf ich hinauswill – jemand wie Ya’ir hat das Recht, Palästinenser anzugreifen, um sie daran zu hindern, Juden anzugreifen.«
Der Doktor wedelte mit der Hand, um den Rauch zu vertreiben. »Glauben Sie, din rodef rechtfertigt Präventivschläge gegen Palästinenser, die Rucksäcke tragen, oder gegen Palästinenser generell?«
»Ihr herrlicher Koran gestattet es Muslimen, sich mit Gewalt zu holen, was sie für ihr Eigentum halten.« Apfulbaum kicherte erneut. »Es geht schon lange hart auf hart, aber welcher Text wird triumphieren – Ihr Koran oder meine Thora?«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
Der Rabbi war so auf das Gespräch konzentriert, dass ihn der Speichel nicht störte, der ihm aus dem Mundwinkel quoll. »In Anbetracht der Anweisungen des Koran und deren Auslegung durch muslimische Fundamentalisten, wie Sie einer sind, müssen alle Palästinenser als potenzielle Rucksackträger behandelt werden.« Er legte den Kopf schief und fügte hinzu: »Lesen Sie Genesis zwei, fünfzehn: Gott der Herr nahm Adam und setzte ihn in den Garten Eden, auf dass er ihn ›bebaute und bewahrte‹, heißt es da. Israel ist mein Garten Eden, und ich gehorche schlicht Gottes Gebot, ihn zu bewahren.«
Unbeeindruckt sog der Doktor an seiner Zigarette. »Sie wiederholen Wort für Wort unsinnige Passagen aus Ihrem Buch Eine Thora, ein Land.«
Dem Rabbi klappte der Mund vor Genugtuung auf. »Sie haben mein Buch gelesen!«
»Ich habe es mir vorlesen lassen, ya’ani.«
»Ach ja. Ephraim hat mir erzählt, Sie hätten ein Problem mit den Augen.«
Der Doktor lachte kurz auf. »Man könnte es als ein Problem bezeichnen. Normalerweise wird die Tränenflüssigkeit über den Tränennasengang in die Nase weitergeleitet, aber in meinem Fall waren die Membranen von Geburt an verstopft, mit der Folge, dass meine Augen ständig tränten. Ich wurde weinend geboren und konnte nicht damit aufhören, und das hat meine Sehkraft geschädigt. Als meine Eltern merkten, wie schlecht meine Augen waren und mit mir zu einem Arzt gingen, der die Verstopfung des Tränennasengangs beseitigte, war es zu spät – ich hatte nur noch eine Art Tunnelblick, und der wurde mit zunehmendem Alter immer schwächer. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, konnte ich weniger sehen als am Tag zuvor, aber seltsamerweise verstand ich mehr. Ich sage Ihnen: Wer mich als Kind kannte, hat nicht gemerkt, dass ich schlecht sehen konnte. Ich habe mir nämlich kleine Tricks angeeignet: Ich wusste, an welcher Stelle sich jeder Gegenstand im Haus befand. Ich habe die Fingerspitzen wie Antennen benutzt. Ich goss Obstsaft in Gläser und bot sie Besuchern an. Mein Vater hatte ein Pferd, das ich ritt. Als ich zwölf war, wollte ich unbedingt auf eine Reitschule, die ein syrischer Kavallerieoffizier leitete. Ich wusste, wenn er merkte, dass ich nicht richtig sehen konnte, würde er mich nicht aufnehmen. Also habe ich mir ein Peilsystem ausgedacht, wie ein Seemann, um an Land zu navigieren. Der syrische Reitlehrer hat nicht gemerkt, dass ich praktisch blind war.« Der Doktor lachte leise. »Das Peilsystem nutze ich noch immer, und ich navigiere noch immer.«
»Und was peilen Sie an?«
»Den Schöpfer, den Gestalter, den Allgnädigen, den Allbarmherzigen, den Allerhabenen, den Allmächtigen. Den einzig wahren Gott. Es gibt noch einen Namen für Gott, den größten Namen, der vor allen Menschen außer den heiligsten verborgen ist. Es ist mein Traum, ihn eines Tages auszusprechen.«
»Auch ich glaube an einen einzigen Gott«, sagte der Rabbi mit stiller Inbrunst. »›Shema Israel, adonai elohenu, adonai ech-a-a-a-ddd …‹«, sagte er, wobei er die letzte Silbe des Wortes für »allein« in die Länge zog. »›Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist Herr allein.‹ Auch ich hoffe, das Allerheiligste zu betreten in einem wiederaufgebauten Tempel Salomons und den unaussprechlichen Namen Gott auszusprechen, bevor ich das Zeitliche segne.«
»La Haha illa ’llah«, flüsterte der Doktor heiser. »›Es gibt keinen Gott außer Allah.‹« Er spürte, wie er auf einen gemeinsamen Boden jenseits des Niemandslandes Englisch gesogen wurde, und schob seinen Stuhl zurück, um etwas mehr Abstand zwischen sich und seinen Gefangenen zu bringen. Unvermittelt wechselte er das Thema und sagte: »Laut meinen Notizen sind Sie verheiratet.«
Der Rabbi antwortete widerwillig. »Ich habe eine Frau. In Amerika hieß sie Janet. In Israel hat sie den hebräischen Namen Dévora angenommen.«
»Wie alt waren Sie, als Sie sich in sie verliebt haben?«
»Ich war nicht in sie verliebt. Ich habe sie geheiratet, um Nachwuchs zu zeugen. Sie war … geeignet.« Er beugte sich vor. »Gott schuf die Frau am sechsten Tag, aber anders als an den ersten fünf Tagen sagte Er diesmal bei der Betrachtung Seines Werkes nicht, dass es gut war.« Der Rabbi nickte, um seine Worte zu unterstreichen.
Der Doktor schien aufzumerken. »Waren Sie je verliebt?« Apfulbaum, dessen Fußknöchel gegen die Stoffstreifen drückten, mit denen sie an die Stuhlbeine gefesselt waren, senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern. Er wollte auf keinen Fall, dass Ephraim mitbekam, was er jetzt sagen würde. »Einmal, als ich noch die Rabbinerschule besuchte, habe ich mit einer jungen Frau im St. George Hotel in Brooklyn getanzt. Es war Sommer. Sie trug ein rückenfreies Kleid. Ich weiß noch, wie ich ihre nackte Wirbelsäule unter meinen Fingern spürte. Es hat mich … erregt. Die Frau lachte und drückte sich gegen meine … Erregung.« Apfulbaum wurde plötzlich offensiv. »Und Sie – waren Sie schon mal so hingerissen? Na los, raus mit der Sprache: Haben Sie sich je danach gesehnt, den weiblichen Körper zu liebkosen, mit all seinen Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten? Sind Sie blind oder gleichgültig gegenüber all den jungen Frauen, denen ein BH-Träger von den sonnengebräunten Schultern rutscht oder die mit einem Ohrring im nackten Bauchnabel herumlaufen? Ich rede nicht von platonischer Freundschaft. Was ich eigentlich fragen will: Haben Sie je die Kontrolle verloren?«
Der Doktor räusperte sich. »Meine Antwort wird Sie überraschen. Ob Sie es glauben oder nicht, sie lautet ja. Ich schäme mich nicht zuzugeben: Es war Liebe auf den ersten Blick. Allein die Erinnerung daran raubt mir den Atem. Meine Fingerspitzen prickelten, als ich ihr Rückgrat spürte. Ich wollte sie in mich aufsaugen, ihre verborgensten Stellen erkunden, mich ihr hingeben, eins mit ihr werden. Es war mein größter Wunsch, in ihren nackten Armen zu sterben.«
»Was ist aus ihr geworden?«
»Sie ist quicklebendig und wird im Alter immer schöner.« Jetzt lächelte der Doktor sogar. »Der Name meiner Angebeteten ist Jerusalem. Sie müssen den Unterschied verstehen zwischen den weltlichen Muslimen, die die palästinensische Autonomiebehörde leiten, und den Islamisten, wie ich einer bin. Den weltlichen Muslimen geht es nur um einen Nationalstaat. Die Funktionäre der Autonomiebehörde sind kleine Männer aus Flüchtlingslagern in Tunis, die hinter großen Schreibtischen sitzen und türkischen Mokka schlürfen und für geleistete Gefälligkeiten Kuverts voller Bargeld einstecken. Ich dagegen, ich liebe das Land. Ich sage Ihnen ganz offen, ya’ani, wenn ich in den Hügeln oberhalb von Jerusalem wandere, trage ich Sandalen und wasche mir erst dann den Staub von den Füßen, wenn ich zum Beten in die Moschee gehe.«
Der Rabbi senkte den Blick, um zu zeigen, dass er in Gegenwart eines frommen Mannes war. »Ich weiß, ich weiß. Bei mir ist es ganz genauso.« Er strich sich mit den Fingerknöcheln über die Lippen, während er Worte rezitierte, die er sich als junger Mann eingeprägt und nie wieder vergessen hatte. »So ein Mann sein Haus tüncht, lasse er eine kleine Stelle ungetüncht, auf dass sie ihn an Jerusalem erinnere. So ein Mann ein Mahl zubereitet, lasse er eine Kleinigkeit ungetan, auf dass sie ihn an Jerusalem erinnere. Denn es steht geschrieben: ›Vergesse ich dich Jerusalem, so verdorre meine Rechte.‹«
Der Doktor sagte bewegt: »Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ich je einem Menschen begegnen würde, noch dazu einem Juden, der diese Stadt so liebt wie ich.«
»Als ich das erste Mal nach Jerusalem kam«, fuhr der Rabbi mit fast übersprudelnder Freude fort, »da muss ich sechzehn gewesen sein, habe ich natürlich wie jeder Jude, der das Heilige Land besucht, irgendwann an der Klagemauer gebetet. Und plötzlich begriff ich, dass ich gar nicht betete. Ich sprach tatsächlich mit Gott! Ich schlug mit dem Kopf gegen dieses Reststück des Zweiten Tempels, bis ich einen Bluterguss an der Stirn hatte. Als ich das Ohr an den kalten Stein presste, habe ich, und das schwöre ich, Stimmen gehört und das Klirren von Schwertern und Schilden. Ich hörte Kanaaniter und Hyksos und Ägypter und Philister, ich hörte Hebräer und Babylonier und Perser und Syrer und Griechen und Römer, ich hörte die muslimischen Krieger aus Arabien und die christlichen Kreuzfahrer aus Anjou, ich hörte die Türken und die Briten. Oh, ich sage Ihnen, ich hatte mich an der Klagemauer festgekrallt wie ein Bergsteiger und drückte die Finger in ihre Spalten, als wollte ich an ihr hochklettern. Sie mussten meine Hände mit Gewalt von den Steinen lösen, sie mussten mich wegzerren. Ich war in Trance, ich war in einer anderen Welt. Ich war zu Hause.«
»Sie sind ein Fossil von einem Juden«, sagte der Doktor nicht ohne Wohlwollen. »Ihre geistige Heimat ist das Isra’il der Könige und Richter und der brennenden Büsche und Widderhörner, die die Mauern von Städten zum Einsturz bringen.«
»Sie sind ein Fossil von einem Muslim«, entgegnete Apfulbaum mit einem aufgewühlten Lachen. »Sie würden sich wohler fühlen, wenn eine Zeitkapsel Sie dreizehn Jahrhunderte zurück ins goldene Zeitalter des Islam befördern würde, wenn Sie lauschen könnten, wie der Engel Gabriel dem Gesandten Koranverse ins Ohr flüstert.«
»Ich würde noch weiter zurück in die Vergangenheit gehen«, gab der Doktor zu. »Bis weit vor Beginn unserer Zeitrechnung, als Ibrahim die Stadt Ur verließ, als seine ägyptische Leibeigene Hagar ihm einen erstgeborenen Sohn namens Isma’il schenkte, als Isma’il seinem Vater half, die Kaaba in Mekka zu bauen, den ersten Schrein für den einzig wahren Gott, mit dem Nagel im Boden, worin die Alten den Nabel der Welt sahen. Ich würde zusehen, wie Ibrahim seinem Sohn Isma il auf dem schwarzen Stein in der Kaaba das Opfermesser an die Kehle setzt und Gott seinem Arm im letzten Augenblick Einhalt gebietet. Als Ibrahim aus Ur kam, ya’ani, existierte der Glaube des Islam bereits. Es steht geschrieben: Ibrahim war weder Jude noch Christ. Er war ein Muslim, ein Mann reinen Glaubens. Dieser reine Glaube, dieser Islam Ibrahims, diese Unterwerfung unter Gott, ist der gerade Weg. Er sagt uns alles, was wir über die menschlichen Angelegenheiten wissen müssen. Er sagt uns, wie man eine Regierung führt, wie man wäscht, wenn kein Wasser zur Verfügung steht, wie man betet und fastet, wie man sich kleidet, wie man kauft und verkauft, wie man mit seiner Frau schläft, wie man isst und trinkt und defäkiert. Im Gesamtplan des Gesandten ist kein Platz für bid’a, für Neuerungen. So sagte der Prophet: ›Die wahrhafteste Mitteilung ist das Buch Allahs, die beste Leitung ist die Leitung Muhammads, das schlechteste der Dinge sind die Neuerungen, jede Neuerung ist Ketzerei und jede Ketzerei ist Irrtum, und jeder Irrtum führt in die Hölle.‹«
»Wieder Amen«, murmelte der Rabbi. »Ich lade Sie ein, meinen Thora-Schülern in Beit Avram einen Vortrag über das Thema Neuerungen zu halten.«
Petra kam herein und sagte zu dem Doktor: »Wenn wir vor Tagesanbruch wieder zurück sein wollen, müssen wir jetzt los.«
»Ist alles vorbereitet?«, fragte der Doktor.
»Ja.«
Der Doktor erhob sich steifbeinig und stülpte dem Rabbi die Kapuze ungewohnt sachte über den Kopf. Dann zog er etwas aus der Tasche seines Gewandes und drückte es Apfulbaum in die Hand. »In den zwölf Jahren, die ich in den Kerkern der Isra’ilis saß, hat mir das hier geholfen, nicht den Verstand zu verlieren.«
Der Rabbi ertastete eine Gebetsschnur mit abgegriffenen silbernen Perlen. Ein Gefühl von Dankbarkeit, ja Seelenverwandtschaft, stieg in seiner Brust auf, als er die Perlen durch die Finger gleiten ließ. »Sie kommen wieder, nicht?«
»Inschallah«, erwiderte der Doktor. »So Gott will.«