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D

ie Sonne brannte sich durch die niedrigen Wolken in die judäischen Berge, als vom Minarett der El-Omariye-Moschee in der Jerusalemer Altstadt der Aufruf zum vierten Gebet des Tages aus Lautsprechern schallte. »Allahu Akbar, Allahu Akbar«, rief der Muezzin. »Kommt zum Gebet, kommt zum Gebet. Kommt zum Heil, kommt zum Heil. Allah ist groß, Allah ist groß. Es gibt keinen Gott außer Allah.« In dem Versteck, das in einer Seitenstraße der Christian Quarter Road lag und nur über ein Gewirr von Gassen und Treppen und Dächern erreichbar war, warf der Doktor sich vor der Mihrab auf den Boden, der Wandnische, die den Gläubigen die Gebetsrichtung zur Kaaba hin anzeigte, die der Prophet Ibrahim im Herzen der heiligen Stadt Mekka errichten ließ. Während er die geprellte Stirn immer wieder auf die gesprungenen maurischen Fliesen schlug und den Schmerz genoss, rezitierte er die Eröffnungsverse des Qur’an: »Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Gütigen. Lob sei Gott, dem Herrn der Menschen in aller Welt, dem Barmherzigen und Gütigen, der am Tag des Gerichts regiert! Dir dienen wir, und dich bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen du Gnade erwiesen hast.«

Neben der mit Stahlplatten gepanzerten Tür saß die junge Beduinin, die Petra genannt wurde, vor einem grünen israelischen Feldfunkgerät und hörte über Kopfhörer die Militär- und Polizeifrequenzen ab. Unter ihrem bestickten Beduinengewand trug sie eine Bluejeans. Ein Kopftuch hatte sie sich locker über das kurze Haar geworfen. Zwei AK-47-Gewehre sowie etliche Gasmasken und eine Kiste mit gefüllten Magazinen und Handgranaten befanden sich in Reichweite. An der Wand gegenüber klebte eine Palästina-Karte mit arabischen Ortsnamen aus der Zeit des britischen Mandats über einem zugemauerten Fenster. Auf dem Küchentisch, der auch als Schreibtisch diente, sicherten gläserne Briefbeschwerer mit Schweizer Schneelandschaften Stapel von Zeitungsausschnitten und Nachrichten.

Petra beherrschte Hebräisch wie ihre Muttersprache und hatte den Konvoi des Rabbi als Haredi verkleidet angehalten. Als sie sah, dass der Doktor fast mit Beten fertig war, nahm sie den Kopfhörer ab, der ihr auf den Ohren drückte, und stellte eine Kanne süßen Tee und Honigkuchen auf einen niedrigen Tisch, weil das Ramadan-Fasten für den Tag zu Ende war. Der Doktor setzte sich im Schneidersitz auf ein Beduinenkissen an den niedrigen Tisch, goss eine dampfende Tasse Tee ein und pustete geräuschvoll über die Oberfläche, damit er abkühlte. Er beugte sich über den Tisch, hielt eine Hand geöffnet, um die Krümel aufzufangen, biss in einen Kuchen und nahm dann eine Amphetaminkapsel, die er mit dem ersten Schluck Tee hinunterspülte. Auf der anderen Seite des Raumes sank Yussuf Abu Saleh vor der Mihrab auf die Knie, um wie an jedem Abend des Ramadan ein Dreißigstel aus dem Qur’an zu rezitieren, damit er am Fest des Fastenbrechens, dem Ende des heiligen Monats, damit fertig wäre. »Und Allah kennt eure Feinde besser«, intonierte er.

Als er mit dem Fastenbrechen fertig war, ging der Doktor zu dem Waschbecken in der Ecke. Nachdem er sich die Jacke ausgezogen und die Ärmel seines Gewandes aufgekrempelt hatte, schrubbte er sich unter fließendem Wasser Hände, Handgelenke und Unterarme bis zu dem Ellbogen mit Seife und einer Bürste, hob anschließend die Hände über den Kopf und schüttelte sie trocken. Er zog die Jacke wieder an und nickte Petra zu, die herüberkam und für ihn den Wasserhahn zudrehte.

Mit der weichen Spitze seines Schuhs stieß der Doktor die dicke gepanzerte Tür auf und ließ sie hinter sich angelehnt, als er einen rechteckigen Raum betrat, in dem eine einzige 150-Watt-Birne an einem Stück Kabel von der Decke baumelte und Tag und Nacht brannte. Die zwei bewaffneten Bewacher, die el-Tel-Brüder Azziz und Aown, salutierten dem Doktor grinsend. Der eine rekelte sich auf einer Pritsche unter einem zugemauerten Fenster, der andere saß verkehrt herum auf einem Küchenstuhl und behielt die Gefangenen im Auge. Azziz, der jüngere der beiden, sprang auf und drehte den Stuhl herum, damit der Doktor richtig darauf Platz nehmen konnte.

Der Doktor, der sich zwischen den Zähnen stocherte, um einen Krümel zu entfernen, nahm seine dicke Nickelbrille ab und putzte sich akribisch die Gläser mit dem Saum seines langen Gewandes. Wie immer waren seine Augen vor Übermüdung rot gerändert und geschwollen. Für den Doktor reichten weder die Stunden des Tages noch die Tage eines Lebens, weshalb er sich mit Amphetaminen wach hielt. Er setzte die Brille wieder auf und spähte dann mit zusammengekniffenen Augen hindurch, um die beiden Gefangenen genau betrachten zu können. Sie saßen schlafend mit Lederkapuzen über dem Kopf auf schweren Holzstühlen, ein Stück entfernt von der Wand, an der die palästinensische Flagge und der Kalender von der Ghazeh Central Import-Export Bank hingen. Die geniale Idee mit dem kurzärmeligen Hemd und dem Kalender hatte Yussuf gehabt: Wenn sie genügend falsche Hinweise streuten, dass sie den Rabbi in Ghazeh gefangen halten, dann würden die Juden glauben, sie wollten sie davon überzeugen, dass er nicht in Ghazeh war, und davon ausgehen, dass er doch dort war. Yussufs Trick hatte die Israelis offenbar von der Fährte abgelenkt, denn die Nachrichten im Fernsehen und Radio sowie die Geheimdienstberichte, die der Doktor aus Ghazeh erhielt, deuteten darauf hin, dass die Juden annahmen, die Entführten wären irgendwo im Streifen. Und Petra, die den israelischen Funkverkehr abhörte, konnte in Jerusalem und Umgebung keinerlei ungewöhnliche Aktivitäten bei Polizei oder Armee feststellen.

Die Füße von beiden Gefangenen waren an den dicken Stuhlbeinen festgebunden und ihre Hände vor dem Körper mit Handschellen gefesselt. Der jüngere der beiden Juden saß zusammengesunken auf seinem Stuhl und atmete röchelnd vor Angst. Rabbi Apfulbaum saß kerzengerade, und wenn ihm das Kinn auf die Brust fiel, riss er es gleich wieder unter der Kapuze hoch.

Der Doktor beugte sich vor und zog dem Rabbi die Kapuze vom Kopf. Dann entzündete er ein Streichholz, hielt die Flamme an die Spitze einer starken palästinensischen Farid und machte kurze, hektische Züge, als würde er zum ersten Mal in seinem Leben rauchen. Der Schwerkraft trotzend, wurde die Asche länger als die Zigarette, bis sie schließlich abbrach und auf das Revers des doppelreihigen Jacketts fiel. Der Doktor starrte seine Gefangenen unverwandt an und schien die Asche gar nicht zu bemerken. Der übelriechende Rauch störte den Rabbi offenbar, denn er lehnte sich weg, hob die gefesselten Hände und wedelte mit einer Hand, um ihn zu vertreiben. »In Amerika«, sagte er auf Arabisch, während er angestrengt versuchte, seinen Entführer zu erkennen, »steht auf den Zigarettenschachteln, dass Rauchen tödlich sein kann.«

Der Doktor schnaubte. »Als Islamist in einem von Zionisten besetzten Land zu leben kann tödlich sein«, sagte er auf Hebräisch. »Recht zu haben, wenn alle um dich herum unrecht haben, kann tödlich sein.« Aus der Tiefe seines Bauches drang ein freudloses Lachen. »In jedem Fall ist die Frage rein akademisch, denn, wie der heilige Qur’an uns lehrt, lebt niemand einen Sekundenbruchteil länger, als Gott ihn leben lässt.« Er umfasste das knochige Handgelenk des Rabbi und fühlte ihm den Puls. Nach einem Moment stellte er auf Hebräisch fest: »Alles in allem ist Ihr Gesundheitszustand zufriedenstellend. Wie alt sind Sie?«

»Dreiundfünfzig«, erwiderte der Rabbi auf Arabisch.

»Liegt hoher oder niedriger Blutdruck bei Ihnen in der Familie? Kreislaufprobleme? Herzprobleme?«

»Min fadlikoum«, sagte der Rabbi gereizt. »Bitte. Hören Sie auf mit der Farce, sich nach dem Gesundheitszustand eines Menschen zu erkundigen, den Sie töten werden.«

Der Doktor wechselte ins Englische und sagte: »Schon komisch, wenn Sie Arabisch sprechen und ich Hebräisch. Ich schlage vor, ya’ani, wir treffen uns im Niemandsland des Englischen.«

Apfulbaum fuhr sich nervös mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. Er spürte, dass er das erste Geplänkel gewonnen hatte. »Wir reden Englisch, wenn Sie möchten. Aber machen wir uns nichts vor – zwischen uns kann es so etwas wie ein Niemandsland nicht geben. Wir beide wollen dasselbe Stück vom Heiligen Land, und ich werde nicht drauf verzichten.«

Der Doktor lächelte kühl. »Sie sind das, was die israelischen Zeitungen einen Maximalisten nennen, ya’ani. Für Sie kommt ein Kompromiss nicht in Frage. Alles oder nichts, lautet ihr Credo. Ich persönlich bin bereit, eine gerechte Einigung auszuhandeln. Ich bin bereit, den vor 1948 in Palästina geborenen Juden zu erlauben, in dem islamischen Staat zu bleiben, den ich zu schaffen gedenke, unter der Bedingung, dass sie zum Islam übertreten.«

»Und die anderen?«

»Die können zur Hölle fahren, ya’ani.«

Die struppigen Brauen des Rabbi tanzten über den vorquellenden Augen. »Na, endlich mal ein Gründungsmitglied der amalekitischen Befreiungsorganisation«, sagte er aufgeregt zu seinem Sekretär. Er drehte sich wieder dem Doktor zu. »Gut, gut, Karten auf den Tisch. Gott versprach Abraham und seinen Nachkommen, zu denen ich zähle, das ganze Land vom Fluss von Ägypten, den wir den Nil nennen, bis zu dem großen Strom Euphrat. Im Gegensatz zu den Medien halte ich mich für einen Minimalisten, weil ich nämlich bereit bin, mich mit weniger zu begnügen, als Gott Abraham versprochen hat. Auch ich bin gewillt, eine gerechte Einigung auszuhandeln, eine, die den Juden alles zwischen Mittelmeer und Jordan gibt. Wenn wir das dann verdaut haben, sagen wir in dreißig oder fünfzig Jahren, rufen wir euch an und machen einen Termin und reden über das Thema Euphrat.«

Der Doktor spielte mit. »Und was soll aus den Palästinensern werden, die schon zwischen Mittelmeer und Jordan leben?«

Apfulbaum schnaubte verächtlich. »Die können nach Syrien auswandern, was schlimmer ist als die Hölle, ya’ani. Das jüdische Volk nimmt gerade mal ein Sechstel von einem Prozent des ganzen arabischen Landes in Anspruch. Nicht von ungefähr nannte Lord Balfour das Gebiet, das er 1917 für einen jüdischen Staat vorsah, ›eine kleine Kerbe‹. Ich sage Ihnen offen und ehrlich, eher verlassen die Engel den Himmel, um in Tel Aviv ägyptische Gebrauchtwagen zu verkaufen, eher erscheint Gott – Sein Name sei gepriesen – als Fernsehmoderator, als dass irgendwer uns auch nur einen Fingerhut voll von diesem geheiligten Boden wegnimmt.«

An die Wand gelehnt beobachtete Azziz, wie die beiden fast blinden Männer einander mit wortloser Wut beäugten. Er fragte sich, wie lange die Gefangenen am Leben bleiben würden, wie lange er und sein Bruder am Leben bleiben würden. Einmal hatte er seinem Bruder anvertraut, er könne förmlich spüren, wie die Lufttemperatur anstieg, sobald der Doktor einen Raum betrat. Seine fast blicklosen Augen schienen von einem glühenden Zorn beseelt, den er in sich verschlossen hielt. Er brauste nur selten auf, obwohl es besser wäre, wenn er ab und zu mal Dampf abließe. Selbst diejenigen, die sich wie Azziz für Jünger des Doktors hielten und in ihm den lang erwarteten Erneuerer sahen, fürchteten insgeheim seine Wut, denn sie war brutal und unberechenbar, wie sie aus Erfahrung wussten, und konnte von einer Sekunde auf die andere ausbrechen. Sie wussten, sie konnten ihr genauso zum Opfer fallen wie die Juden, wenn der Doktor meinte, ihr Tod würde seiner Sache dienen.

In der angespannten Stille ertönte die leise Stimme von Yussuf, der aus dem Qur’an las.

 

Wer Allah und dem Gesandten gehorcht, soll unter denen sein, denen Allah Seine Huld gewährt hat, nämlich unter den Propheten, den Wahrhaftigen, den Blutzeugen und den Gerechten …

 

Petra kam mit einer Tasse grünen Tee herein und bot sie dem Rabbi an. Apfulbaum nahm die Tasse in beide Hände, führte sie an die Lippen und schielte dabei über sie hinweg auf seinen Vernehmer. »Ich muss meine Brille verloren haben. Wahrscheinlich bei dem Überfall auf meinen Wagen.«

»Als ich vor einer halben Ewigkeit an der amerikanischen Universität Beirut studierte«, sagte der Doktor, »hab ich ein bisschen umgangsprachliches Arabisch aufgeschnappt. Wenn ein libanesischer Araber einen Feind besiegt, sagt er, ›Ich habe ihm das Auge gebrochen.‹« Der Doktor spürte, wie ihm die Zigarette die Lippe ansengte, und warf sie rasch auf den Boden. »Ich habe Ihr Auge gebrochen, ya’ani.« Seine langen Finger spielten mit einem losen Knopf an der Jacke. »Ich sehe jetzt schon, unsere Unterhaltung wird mir Spaß machen. Ich werde Ihnen etwas verraten, das Sie überraschen wird: Ich habe noch nie ernsthaft mit einem Juden gesprochen, vor dem ich keine Angst hatte. Was verständlich ist, denn schließlich waren die meisten Juden, mit denen ich je gesprochen habe, meine Vernehmer oder Folterer oder Richter oder Gefängniswärter. Ich habe zwölf Jahre in jüdischen Gefängnissen gesessen. Zwölf Jahre, ya’ani! Jede Unterhaltung mit einem Juden war eine Tortur. Ich hatte Angst, sie würden mir meine Brille wegnehmen, ohne die auch ich praktisch blind bin. Ich hatte Angst, sie würden mir meine Bücher oder meine Zigarettenration oder das Recht auf einen Besucher pro Monat nehmen. Ich hatte Angst, sie würden den Stuhl unter mir wegtreten und mich mit einem höflichen Lächeln fragen, ob ich die Nacht zuvor gut geschlafen hatte. Manchmal, das sage ich Ihnen ganz offen, hatte ich Angst, sie würden mich töten. Und es gab andere Male, da hatte ich Angst, sie würden es nicht tun.«

Der Rabbi konnte sich nicht bremsen. »Vertrauen verdient Vertrauen. Ich habe noch nie eine ernste Unterhaltung mit einem Araber gehabt, der keine Angst vor mir hatte, der nicht daraufbrannte, mir zu helfen, sich bei mir einzuschmeicheln, mir zur Seite zu stehen, mir zuzustimmen.«

Der Doktor stemmte sich auf die Beine. »Schon viel zu lange seht ihr Juden in jedem Palästinenser, jedem Muslim einen Terroristen. Jetzt haben Sie das Glück, sich einem ›Terroristen‹ aus Fleisch und Blut gegenüberzusehen, jemandem, der Ihren Albträumen entsprungen ist, um einen Heiligen Krieg für Allah und den Islam zu führen. Selbst ohne Brille, ya’ani, selbst ohne Augenlicht, können Sie etwas aus dieser Erfahrung lernen. Wenn Sie mit ihren gebrochenen Augen genau hinschauen, sehen Sie etwas, was tiefer ist als Terrorismus: eine Sehnsucht, Gott zu dienen und Seinen Willen zu erfüllen.«

Apfulbaum hatte plötzlich einen Erinnerungsblitz, wie er als Bar-Mizwa-Junge an dem riesigen Tisch in der Yeshiwa in Brooklyn saß, kaum mit den Füßen den Boden erreichte und auf die Fragen seines Rabbi zum Talmud dreiste Antworten lieferte. »Für wen hält er sich«, hatte der alte Rabbi mehr als einmal geklagt, »den Messias?« Jetzt, wo er einem muslimischen Terroristen gegenübersaß, konnte Apfulbaum dem Drang nicht widerstehen, den Mann zu schockieren. »Mit meinen gebrochenen Augen sehe ich den verrückten Anhänger einer verrückten Religion.«

Ephraim rang unter seiner Lederkapuze schnaufend nach Luft. Der Doktor fürchtete wohl, der junge Mann würde ersticken, denn er riss ihm die Kapuze vom Kopf. Keuchend starrte der Sekretär seinen Entführer an. Als der Doktor sich wieder Apfulbaum zuwandte, hob er langsam die Hand an die Brusttasche und legte sie auf den Perlmuttgriff seiner Pistole. Er überlegte, ob er den Rabbi für seine Blasphemie kurzerhand erschießen sollte, doch da kam ihm unvermittelt die Ermahnung im Qur’an in den Sinn: »… Handelt nach eurem Vermögen … Und wartet nur; siehe, ich warte mit euch.« Er zog seine Hand zurück. »Alle Religionen, selbst eure, ya’ani, wirken auf den ersten Blick verrückt. Erklären Sie, wie Jahwe Moses aus dem brennenden Busch erst Seinen Auftrag erteilen konnte, um ihm im nächsten Augenblick aus keinem erfindlichen Grund ermorden zu wollen. Erklären Sie, warum euer Gott Adam und Eva für eine einzige Übertretung bestraft und die ganze Menschheit wegen einer nebulösen Kränkung in einer gewaltigen Flut ertränkt, dann aber von Joseph die Großherzigkeit verlangt, seinen Brüdern zu vergeben, die ihn in die Sklaverei verkauft haben. Genau diese Verrücktheit oder, anders gesagt, diese Überlebensgröße, diese Unlogik nach menschlichen Maßstäben verleiht dem Islam seine eigentliche Schönheit. Wir unterhalten uns morgen Abend weiter, wenn meine Mitarbeiter das Ramadanfasten gebrochen haben. Wir werden uns jeden Abend unterhalten. Ich werde Sie nach Ihrer Gemeinde Beit Avram fragen. Ich werde Sie nach der jüdischen Untergrundbewegung fragen, deren geistiger Führer Sie angeblich sind. Ich werde Sie nach dem jüdischen Terroristen fragen, der sich unter dem Namen Ya’ir zu den Ermordungen von Palästinensern bekennt.«

»Fragen Sie, fragen Sie«, gurrte Apfulbaum. »Ich werde die Karten, die Gott mir gegeben hat, so lange ausspielen, wie ich kann. Ich vermute, wenn Sie sich langweilen, werden Sie mir diese stinkende Kapuze über den Kopf stülpen. Ich vermute, wenn ich keine zufriedenstellenden Antworten geben kann, werden Sie mich töten.«

Yussufs Stimme drang durch die angelehnte Tür: »Wo ihr auch sein mögt, der Tod ereilt euch doch, und wäret ihr in hohen Burgen.«

»Sie haben das Spiel falsch verstanden, ya’ani«, sagte der Doktor, während er dem Rabbi die Lederkapuze wieder über den Kopf stülpte. »Sie haben, wie die Anhänger des Propheten Jesus sagen würden, die letzte Station Ihres Kreuzweges erreicht. Bei der Beantwortung meiner Fragen geht es nicht um Ihr Leben, sondern um Ihre Würde. Sie und Ihr Freund hier werden leben oder sterben, je nachdem, ob Ihre Regierung meine Forderungen erfüllt. Sie werden leben oder sterben mit oder ohne Würde, je nachdem, ob Sie meine Forderungen erfüllen.«

Kaum war der Doktor wieder im vorderen Raum, schrubbte er sich am Waschbecken gründlich die Hände, um sie nach dem Kontakt mit den Ungläubigen erneut zu reinigen. Petra, die für die Einkäufe zuständig war und jeden Morgen Zeitungen mitbrachte, hatte das Abendessen auf einem Elektrokocher zubereitet und servierte es in Porzellanschüsseln: Zucchini mit Fleischfüllung und einer milden Sauce, weicher Käse und Pittabrot, Tee und Mandelkekse. Yussuf war mit seiner Qur’an-Lektüre fertig und setzte sich zu dem Doktor an den niedrigen Tisch. »Wie ist es gelaufen?«, fragte er. »Glauben Sie, er redet, ehe das Ultimatum abläuft und wir ihn töten müssen?«

»Sein innerer Kern ruht in einer eisernen Arroganz«, dachte der Doktor laut, »und seine Arroganz rührt von der scheinbar unerschütterlichen Überzeugung her, dass Juden Muslimen überlegen sind, Israelis Palästinensern und er mir. Wenn es mir mit Gottes Hilfe gelingt, diese Überzeugung ins Wanken zu bringen – wenn ich ihn dazu bringen kann, mich zu respektieren, mich sogar zu lieben –, wird er seine Arroganz aufgeben. Sein Kern wird zerbröseln, und dann wird er mir erzählen, was wir wissen wollen. Er wird sich das Hirn nach Einzelheiten zermartern, um uns davon zu überzeugen, dass er keine Antworten erfindet.« Der Doktor lächelte in sich hinein, als ihm zwei Zeilen aus dem heiligen Qur’an einfielen. »›Und diejenigen, die unsere Zeichen für Lüge erklären, werden wir Schritt für Schritt dem Verderben näher bringen, von wo sie es nicht wissen‹«, murmelte er. »›Meine List ist fest.‹«

Im hinteren Zimmer war Azziz an der Reihe, sich auf der Pritsche auszustrecken. Gähnend zog Aown Ephraim die Kapuze über den Kopf, schlurfte dann in seinen Badelatschen zu dem Loch in der Ecke, das als Toilette diente, ließ seine Hose runter und hockte sich hin.

Ephraim schwankte auf seinem Stuhl vor und zurück und kämpfte gegen die Übelkeit von dem widerlichen Geruch, der dem Leder der Kapuze entströmte. Stöhnend klagte er zu sich selbst: »Ah, ich bin dem Tod geweiht.«

»Schluss mit der Heulerei, reiß dich am Riemen«, flüsterte Apfulbaum scharf. »Wir sind alle dem Tod geweiht. Unser Freund hat recht: Niemand lebt eine Sekunde länger, als Gott ihm gewährt.«

Ephraim war entsetzt. »Sie zitieren aus dem Koran, Rabbi.«

»Der Koran hat aus der Thora gestohlen, Muhammad hat Moses plagiiert. Abraham, ein Patriarch der Juden, wird zu einem von mehreren Gesandten für die Islamisten.«

Ephraim hörte ihn kaum. Er war in Gedanken woanders, überlegte krampfhaft, was sich als Omen deuten ließ. Dann fiel ihm etwas ein, was ihm den Atem verschlug. »Er hat mir erlaubt, ihn zu sehen, das bedeutet, er geht davon aus, dass ich hier nicht lebend rauskomme.«

»Wie sieht er aus?«

»Sein Gesicht sieht aus, als wäre ihm noch nie ein Lächeln über die Lippen gehuscht. Er ist herablassend und sehr von sich überzeugt. Er glaubt, Gott ist auf seiner Seite.«

»Das habe ich seiner Stimme angehört. Ich meinte, wie sieht er äußerlich aus.«

»Er ist ein kleiner Mann mit kurzem Haar und den zarten Fingern eines Konzertpianisten. Er trägt eine kleine runde Brille mit dicken Gläsern, die seine Augen vergrößern.«

»Er leidet an Tunnelblick«, vermutete der Rabbi. Dann lachte er. »Gottes Metapher.«

»An der Stirn hat er eine Verletzung, ähnlich wie Sie. Ein blauer Fleck und eine Beule, als hätte er den Kopf gegen eine Wand geschlagen.«

»Du beschreibst einen frustrierten Palästinenser.«

Ephraim fragte: »Was bedeutet das Wort ya’ani, das er andauernd benutzt.«

»Das ist ein nervöser Tick, ein Füllwort wie ›na ja‹ oder ›wissen Sie‹, keine freundliche Anrede.«

»Er will uns töten«, wiederholte der Sekretär. »Die Regierung tauscht jüdische Geiseln grundsätzlich nicht gegen arabische Gefangene aus.«

»Wenn die Zeit zum Sterben kommt«, sagte der Rabbi zu seinem jungen Sekretär, »müssen wir Würde zeigen, damit unser Mörder begreift, dass die Juden Gottes auserwähltes Volk sind.« Und er fügte hinzu: »Wenn das Spiel Würde heißt, werde ich es virtuos spielen.«

 

*

 

Auszug aus dem Projekt »Lauf der Geschichte«

an der Harvard University:

 

Eins muss ich Ihnen lassen: Sie stellen genau die richtigen Fragen. Wissen Sie, der Geschäftsbereich Naher Osten ist selbst in den besten Zeiten eine knifflige Angelegenheit. Der Nahost-Sonderberater der Präsidentin vollführt einen Drahtseilakt zwischen der jüdischen Lobby in Amerika und der arabischen Realität vor Ort; zwischen dem Verteidigungsministerium und der CIA; zwischen dem Weißen Haus und dem Außenministerium; zwischen den Falken im Kongress, die bereit sind, bis zum letzten israelischen Blutstropfen zu kämpfen, und den Tauben, die aus der Geschichte nichts über Beschwichtigungspolitik gelernt haben. In jeder Regierung werden ständig die Messer gewetzt und gezückt, wenn es um Israel und die Araber geht. Das ist der Grund, warum sich meine Sekretärin, wie Sie gesehen haben, das Headset aufgesetzt und mein Telefonat mit der Präsidentin mitstenografiert hat. Henry Kissinger hat das Gleiche gemacht, als er im Untergeschoss des Weißen Hauses für Richard Nixon tätig war. Wie Kissinger möchte ich einen Nachweis über das Gespräch haben, falls sich die schlechte Lage noch verschlimmern sollte und die Prätorianergarde im Weißen Haus beschließt, dass jemand sich in sein Schwert stürzen muss.

Ganz recht, ich werde derjenige nicht sein.

Zu meinem Gespräch mit der Präsidentin: Nach einer halben Ewigkeit hab ich sie endlich an den Apparat bekommen. Keine Entschuldigung, warum ich so lange warten musste, kein Smalltalk. »Was halten Sie von dieser Kidnappinggeschichte, Zack?«, hat sie gefragt, knapp und mürrisch wie immer. Es wird mir wohl für immer ein Rätsel bleiben, wie die Frau es schafft, in der Öffentlichkeit den Charmebolzen zu spielen und auf Drachen umzuschalten, sobald sie nicht mehr im Rampenlicht steht. Einmal hab ich erlebt, wie sie mit Strahlelächeln für die auf sie gerichteten Kameras einem Staatssekretär zuzischelte: »Ist mir egal, was Sie denken. Tun Sie gefälligst, was ich sage.«

Stimmt, ich komme vom Thema ab.

Das Thema ist Israel. Das Thema ist die Entführung dieses verrückten Rabbi Soundso, ach ja, Apfulbaum. Ich habe der Präsidentin mitgeteilt, dass es jetzt auf Schadensbegrenzung ankommt und wir die Sache so lange auf kleiner Flamme köcheln wollen, bis dieser Friedensvertrag in Washington unterzeichnet ist. Ich habe ihr gesagt, dass ich heute Morgen erneut mit beiden Seiten gesprochen habe. Klar ist, die Israelis werden nicht in Sack und Asche gehen, falls Apfulbaum am Ende tot ist. Aus Sicht des Ministerpräsidenten hätten sie es dann immerhin mit einem Friedensprozesskritiker weniger zu tun. Die Palästinenser auf der anderen Seite werden aus ungefähr den gleichen Gründen keine Gedenkkerzen für die Abu-Bakr-Brigade anzünden.

»Dann bin ich also aus dem Schneider«, hat die Präsidentin gesagt. (Dass sie die erste Person Singular benutzt hat, ist mir nicht entgangen. Aus Sicht des Oval Office stehen hier nämlich sowohl die Chance der Präsidentin, den Nobelpreis zu gewinnen, als auch Amerikas Sicherheit und Stabilität auf dem Spiel.) »Ich bin aus dem Schneider«, genau das waren ihre Worte. Ich kann Ihnen die Steno-Mitschrift meiner Sekretärin zeigen, wenn Sie drauf bestehen. Dann hat die Präsidentin hinzugefügt: »Selbst wenn die Sache in einer Schieferei endet, erscheinen die trotzdem auf jeden Fall zur Unterzeichnung in Washington, richtig?«

Woraufhin ich so ungefähr gesagt habe: »Falsch, Madam President. Offiziell steht die Unterzeichnung nach wie vor auf der Tagesordnung. Keine Seite möchte als diejenige dastehen, die als Erste einen Rückzieher von der Friedensvereinbarung macht. Inoffiziell sagen beide Seiten das Gleiche: Sie fürchten, wieder in den Teufelskreis hineingezogen zu werden. Was ihnen Kopfzerbrechen macht, ist das Prinzip: Wenn ein israelischer Politiker politisch überleben will, müssen Juden, die von Palästinensern ermordet wurden, gerächt werden und umgekehrt.«

Ich hatte den Eindruck, dass die Geduld der Präsidentin arg auf die Probe gestellt wurde. »Hören Sie, Zack«, hat sie gesagt, und ich zitiere wieder aus dem Gedächtnis. »Ich möchte, dass Sie denen ordentlich die Leviten lesen. Machen Sie ihnen Druck – die Präsidentin der Vereinigten Staaten erwartet, dass die Sache als Einzelfall behandelt wird. Die sollen ihre Polizeikräfte darauf ansetzen. Die Präsidentin der Vereinigten Staaten wird nicht zulassen, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt. Sie wird sich nicht mit einer Rückkehr zum Status quo ante abfinden, als wahnsinnige fundamentalistische Randgruppen auf beiden Seiten die Politik bestimmten. Erinnern Sie die Israelis daran, dass meine Israelpolitik der harten Hand auf den Straßen erstaunlich gut ankommt. Erinnern Sie die Palästinenser daran, dass man die palästinensischen Wähler in den USA an einer Hand abzählen kann. Verdammt noch mal, Zack, ich lass mir dieses Friedensding doch jetzt nicht mehr aus den Händen gleiten.«

Richtig. Genau das hat sie gesagt. »Friedensding.«

Nein, verabschiedet hat sie sich nicht. Stattdessen kam nur der schrille Piepston, als die Verbindung unterbrochen wurde.